In den letzten Jahren sind in Russland verschiedene öffentliche Bewegungen, Protest-Aktionen entstanden, die ursprünglich in Online-Communities im Runet (russischsprachiges Internet) entstanden sind und deren Umsetzung später im Offline dort geplant wurde. Aus ökonomischen, sozialen und politischen Gründen war es daher interessant herauszufinden, welche Faktoren diese Prozesse beeinflussen und unter welchen Voraussetzungen Online- in Offline-Beziehungen umgewandelt werden können.
Um diese Frage zu beantworten, wurde aus der bestehenden Literatur ein theoretisches Modell herausgearbeitet, das den Transfer von sozialen Verhältnissen aus dem Online ins Offline (die Entstehung von Offline-Interaktionen aufgrund der Kommunikation in der Online Community) erklären soll. Um einige theoretische Dimensionen zu operationalisieren, wurden Interviews mit aktiven Nutzern des sozialen Service „Internet“ durchgeführt und um das gesamte Modell zu prüfen, wurde die Online-Befragung zu zwei verschiedenen Zeitpunkten organisiert.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die befragten Teilnehmer die Online Community in erster Linie als Mittel, Leute mit den eigenen Interessen zu finden und neue soziale Kontakte zu knüpfen, als „soziale Suchmaschine“ und „soziales Labor“ betrachten. Im Prozess der Kommunikation in der Online Community entsteht das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesen Online-Gruppen, die durch die Übereinstimmung der Interessen, Hobbys, Vorlieben der Teilnehmer zu erklären ist. Das größte Problem der Online Community ist nach Meinung der Nutzer die fehlende Möglichkeit, Emotionen auszudrücken, was nach der Identifikation mit einer Online-Gruppe zur Entstehung des Wunsches führen kann, sich offline zu treffen. Aber für die Entscheidung, sich offline zu treffen, ist auch das Gefühl der Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen Umgebung(Unterhaltungskreis) notwendig, welche die Interessen, Hobbys, politischen Einstellungen und Kulturpräferenzen der Nutzer nicht teilt. Deswegen kann man den Versuch, aus dem Online ins Offline zu wechseln, als das Streben nach Anerkennung der persönlichen Identität erklären, die von der eigenen sozialen Gruppe offline eher missachtet oder unterdrückt, zumindest nicht vollständig geteilt wird. In einer Online Community bietet sich den Nutzern größere soziale Mobilität und diese Gemeinschaften helfen, mehr harmonische Beziehungen gemäß den eigenen Interessen und Vorlieben zu schaffen, die er später ins Offline übertragen kann.
INHALTSVERZEICHNIS
Abstract
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Anhangsverzeichnis
1 Einleitung
1.1. Problemstellung
1.2. Relevanz
1.3. Aufbau der Arbeit
2 Forschungsgegenstand
2.1. Online Community im Runet
2.2. Begriffsdefinition und Einordnung: Online Community
2.3. On- und Off-Unterschiede
2.4. Gemeinschaft, Gesellschaft und Online Community
2.5. Sozialer Transfer
3 Theoretische Einordnung
3.1. Struktur von Online-Communities
3.2. Veränderung von Struktur
3.3. Place Identity
3.3.1. Members
3.3.2. Selbstpräsentation online
3.3.3. Interaktion
3.3.4. Shared goal: Befriedigung der sozialen Bedürfnisse
3.4. Place Attachment. Affektive Gründe des sozialen Transfers
3.4.1. Low social presence
3.4.2. Emotionen
3.5. Zwischenfazit
4 Hypothesen und theoretisches Modell der Forschung
4.1. Theoretisches Modell der Forschung
4.1.1. Abhängige Variable: sozialer Transfer
4.1.2. Unabhängige Variable: Interne Faktoren
4.1.3. Unabhängige Variable: Externe Faktoren
4.2. Hypothesen
5 Methodische Umsetzung
5.1. Qualitative Studie
5.1.1. Methodenauswahl
5.1.2. Operationalisierung und Gestaltung des Leitfadens
5.1.3. Durchführung der Studie
5.1.4. Transkription und Analyse der Interviews
5.2. Quantitative Studie
5.2.1. Methodenauswahl
5.2.2. Design der Studie
5.2.3. Operationalisierung
5.2.4. Umsetzung des Fragebogens
5.2.5. Durchführung der Studie
6 Ergebnisse
6.1. Ergebnisse der qualitativen Studie
6.1.1. Motivation zur Teilnahme an der Online Community
6.1.2. Betrachtung der Möglichkeiten von Online Unterhaltung
6.1.3. Interaktionen im Offline. Die Gründe
6.1.4. Zwischenfazit
6.2. Ergebnisse der quantitativen Studie
6.2.1. Motivation der Nutzung von Online-Communities
6.2.2. Die Rolle von Identität in der Online-Kommunikation
6.2.3. Einstellung zu Online-Kommunikation
6.2.4. Sozialer Transfer
6.2.5. Zwischenfazit: Überprüfung der Hypothesen der Studie
7 Fazit und Ausblick
7.1. Beantwortung der Forschungsfragen
7.2. Sozialer Transfer als soziale Technologie
7.3. Blick in der Zukunft
Literaturverzeichnis
Anhang
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABSTRACT
In den letzten Jahren sind in Russland verschiedene öffentliche Organisationen, Bewegungen, Protest-Aktionen entstanden, die ursprünglich in Online-Communities im Runet (russischsprachiges Internet) entstanden sind und deren Umsetzung später im Offline dort geplant wurde. Aus ökonomischen, sozialen und politischen Gründen war es daher interessant herauszufinden, welche Faktoren diese Prozesse beeinflussen und unter welchen Voraussetzungen Online- in Offline-Beziehungen umgewandelt werden können.
Um diese Frage zu beantworten, wurde aus der bestehenden Literatur ein theoretisches Modell herausgearbeitet, das den Transfer von sozialen Verhältnissen aus dem Online ins Offline (die Entstehung von Offline-Interaktionen aufgrund der Kommunikation in der Online Community) erklären soll. Um einige theoretische Dimensionen zu operationalisieren, wurden Interviews mit aktiven Nutzern des sozialen Service „Internet“ durchgeführt und um das gesamte Modell zu prüfen, wurde die OnlineBefragung zu zwei verschiedenen Zeitpunkten organisiert.
Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die befragten Teilnehmer die Online Community in erster Linie als Mittel, Leute mit den eigenen Interessen zu finden und neue soziale Kontakte zu knüpfen, als „soziale Suchmaschine“ und „soziales Labor“ betrachten. Im Prozess der Kommunikation in der Online Community entsteht das Gefühl der Zugehörigkeit zu diesen Online-Gruppen, die durch die Übereinstimmung der Interessen, Hobbys, Vorlieben der Teilnehmer zu erklären ist. Das größte Problem der Online Community ist nach Meinung der Nutzer die fehlende Möglichkeit, Emotionen auszudrücken, was nach der Identifikation mit einer Online-Gruppe zur Entstehung des Wunsches führen kann, sich offline zu treffen. Aber für die Entscheidung, sich offline zu treffen, ist auch das Gefühl der Unzufriedenheit mit der eigenen sozialen Umgebung(Unterhaltungskreis) notwendig, welche die Interessen, Hobbys, politischen Einstellungen und Kulturpräferenzen der Nutzer nicht teilt. Deswegen kann man den Versuch, aus dem Online ins Offline zu wechseln, als das Streben nach Anerkennung der persönlichen Identität erklären, die von der eigenen sozialen Gruppe offline eher missachtet oder unterdrückt, zumindest nicht vollständig geteilt wird. In einer Online Community bietet sich den Nutzern größere soziale Mobilität und diese Gemeinschaften helfen, mehr harmonische Beziehungen gemäß den eigenen Interessen und Vorlieben zu schaffen, die er später ins Offline übertragen kann.
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abbildung 1: Hierarchical Composition of Community and Sense of Community
Abbildung 2: Identitätskonzept
Abbildung 3: Balance von Identität
Abbildung 4: Interaktionssituation und Identität
Abbildung 5: Selbstpräsentation im Internet
Abbildung 6: Entstehung von Online-Gruppen
Abbildung 7: Entstehung von Identifikation mit der Online Gruppe
Abbildung 8: Theoretisches Modell der Forschung
Abbildung 9: Modell zum sozialen Transfer
Abbildung 10: Veränderung des Identitätskonzeptes der Nutzer von Online- Communities zwischen der ersten und zweiten Welle der Befragung
Abbildung 11: Entwicklung der Online-Identifikation (Cross-Lagged-Panel-Analyse)
Abbildung 12: Zufriedenheit mit dem sozialen Kontext
TABELLENVERZEICHNIS
Tabelle 1: Struktur von Online-Communities
Tabelle 2: Hypothese - Balance von Identität
Tabelle 3: Hypothese - Identifikation
Tabelle 4: Hypothese - Identitifikation mit Online Community
Tabelle 5: Hypothese - psychologische Bedürfnisse (Hypothese)
Tabelle 6: Hypothese - Einstellung zu Online-Kommunikation
Tabelle 7: System der Hypothesen
Tabelle 8: Darstellung der Stichprobe nach Berufsstatus, Geschlecht und Kommunikationsvorlieben
Tabelle 9: Operationalisierung „Soziale Identität“
Tabelle 10: Operationalisierung „Personale Identität“
Tabelle 11: Collective Self-Esteem-Skala
Tabelle 12: Operationalisierung „Einstellung zu Online-Kommunikation“
Tabelle 13: Operationalisierung „Zufriedenheit mit Online-Kommunikation“
Tabelle 14: Operationalisierung „Motivation von sozialen Transfer“
Tabelle 15: Operationalisierung „Wunsch nach Sozialem Transfer“
Tabelle 16: Operationalisierung „Sozialer Transfer“
Tabelle 17: Umsetzung des Fragebogen
Tabelle 18: Laufzeit und die Teilnehmerzahl der Studie
Tabelle 19: Faktorlösung zur Motivation der Nutzung von Online-Communities
Tabelle 20: Identitätskonzept der Nutzer von Online-Communities
Tabelle 21: Regressionsmodell zum Einfluss der Online-Kommunikation auf die soziale Identifikation mit der Online Community
Tabelle 22: Regressionsmodell zum Einfluss der Online-Kommunikation auf die personale Identifikation mit der Online Community
Tabelle 23: Faktorlösung zur Einstellungen der Nutzer gegenüber Online- Kommunikation
Tabelle 24: Kennwerte der Skala „Wunsch eines Offline-Treffens“
Tabelle 25: Kennwerte der Skala „Treffen im Online“ (zweite Befragungswelle)
Tabelle 26: Faktorlösung zur Motivation für den sozialen Transfer
Tabelle 27: Regressionsmodell zum Einfluss der internen und externen Faktoren des sozialen Transfers auf die Entstehung des Wunsches, Online- in Offline-Beziehungen umzuwandeln
Tabelle 28: Regressionsmodell zum Einfluss der einzelnen Determinanten auf die Offline-Treffen der Vertreter der Online-Gruppe
Tabelle 29: Ergebnisse der Studie
ANHANGSVERZEICHNIS
A. 1) Qualitative Studie: Leitfaden Interview (Russisch)
A. 2) Qualitative Studie: Leitfaden Interview (Übersetzung ins Deutsche)
A. 3) Quantitative Studie: Fragebogen (Screenshot - Russisch )
A. 4) Quantitative Studie: Fragebogen (Übersetzung ins Deutsche)
A. 5) Quantitative Studie: Faktorlösung zur sozialen Identifikation der Nutzer
A. 6) Erklärung
1 EINLEITUNG
I'm sentimental, if you know what I mean; I love the country but I can't stand the scene. And I'm neither left or right.
I'm just staying home tonight,
Getting lost in that hopeless little screen.
Leonard Cohen
1.1. Problemstellung
Das moderne Russland bezeichnen viele Autoren einerseits als anonymisierte Gesellschaft mit fehlender sozialer Kooperation und Zusammenarbeit, anderseits kann man aber verschiedene Spuren von Zwangskollektivierung ermitteln, die in Form von mächtiger sozialer Kontrolle und Intoleranz zu verschiedenen Arten des individualistischen Verhalten ausgeprägt ist (vgl. ISRAS, 2007; Troschkin, 1991; Grineva, 2004).
Die Verbreitung der neuen Web 2.0-Technologien hat zu Entstehung neuartiger Formen der sozialen Kommunikation und Organisation geführt, die einen neuen sozialen Raum geschaffen haben und den Menschen von den vielen Beschränkungen der eigenen Gesellschaft befreit haben. Tatsächlich bieten die Web 2.0 Dienste den Individuen die Möglichkeit, den gewünschten sozialen Kontext zu schaffen und sich im Internet vor der Realität zu verstecken. Auf diese Weise entstehen in den sozialen Netzen Blogs, virtuelle Welten und Online-Gruppen, wo sich die Teilnehmer über gewünschte Themen unterhalten und gleichzeitig neu vernetzt werden können durch die Schaffung alternativer Gemeinschaften.
Die soziale Folge dieses Prozesses kann man schon jetzt beobachten. Das Runet (die russischsprachige Form des Internet) wurde zur alternativen sozialen Welt für viele Nutzer. Einige Wissenschaftler bezeichnen das heutige „Runet“ (vgl. Scherbina, 2009; Konradowa, 2005; Kovalenko, 2005) als Parallelgesellschaft, die unabhängig von dem Russland abseits der virtuellen Welt existiert. Im realen „Offline“-Russland gibt es keine politische Konkurrenz, keine Diskussionen, fast keine bürgerliche Aktivität. Online ist das alles anders: Communities, Aktionen, Ideologische Auseinandersetzungen - das alles findet sich hier.
Die Frage, die aufgrund sozialer Gründe äußerst relevant ist, lautet wie folgt: Welcher Zusammenhang besteht zwischen Offline- und Online-Russland? Existieren diese zwei Welten unabhängig voneinander oder gibt es irgendwelche Schnittpunkte?
Potenziell können die neugeborenen Online-Communities in „reale“ umgewandelt werden, was für die Teilnehmer die Veränderung der eigenen sozialen Umgebung und für die Gesellschaft neue soziale Elemente, Bewegungen und mögliche Transformation der Strukturen bedeutet.
Indirekte Beweise, dass diese Form der sozialen Evolution möglich ist, kann man in der Entstehung der im Web 2.0 organisierten Offline-Aktionen erkennen. Ziele dieser Veranstaltungen sind unterschiedlich - politische Protestbewegungen und Flashmob oder Treffen der Teilnehmer eines Online-Rollenspiels (2x2-Bewegung, wir sind für WAGS, „Bachmina-Prozess“).
Aber diese Bewegungen und Aktionen hatten Ausnahmecharakter und fanden meistens unter der Bedingung von äußerer politischer Bedrohung statt. Doch warum wurden diese Aktionen organisiert und warum können die anderen, vielleicht friedlicheren Formen der Online-Gemeinschaften in der Offline-Welt erscheinen?
Zur Entstehung von Offline-Gemeinschaften und Interaktionen aus Online- Communities im Runet existieren bisher noch keine wissenschaftlichen Studien. Lediglich aus verwandten Themenbereichen wie Internet-Psychologie oder Mediensoziologie lassen sich einige Erkenntnisse ableiten. Indirekte Feststellungen zu den Faktoren der Umwandlung von Online-Kommunikation/Konversation in die Offline-Form liegen in einzelnen Forschungsarbeiten wie zum Beispiel „Netville- Studie“ vor (weiter in der Arbeit: Kapitel 2.5.). Angesichts fehlender Erkenntnisse zur Entstehung von Offline-Beziehungen durch die Unterhaltung in Online-Communities wird in der vorliegenden Arbeit ein Versuch gemacht, diese wissenschaftliche Lücke zu schließen und eine Antwort oder zumindest Teilerkenntnis auf die folgende Forschungsfrage zu bekommen:
FF: „Unter welchen Voraussetzungen können Online-in Offline- Beziehungen umgewandelt werden?“
1.2. Relevanz
Die Beantwortung der oben genannten Frage ist aus mehreren sozialen, wissenschaftlichen, ökonomischen und politischen Gründen relevant. Das russische Internet wird in dieser Arbeit als passendes Beispiel verwendet, weil die vielen sozialen Möglichkeiten, die Web 2.0 bietet, besonders in Krisen- und anonymisierten Gesellschaften eingefordert sind. Die Relevanz der Problemlösung und ein möglicher sozialen Transfer von online zu offline, ist auch für andere Länder und Gemeinschaften äußerst wichtig.
Die Kenntnis zu Faktoren, die eine Umwandlung der Beziehungen von OnlineCommunities in Offline-Verhältnisse und Interaktionen begünstigen können (weiter in der Arbeit: Kapitel 2.5. „Sozialer Transfer“), bietet eine Möglichkeit, diesen Prozess zu optimieren und zu steuern, um neue Gemeinschaften zu schaffen oder von existierenden anerkannt zu werden.
Soziale Relevanz
Die modernen Medientechnologien helfen, die neuen sozialen Beziehungen zu konstruieren und es gelingt ihnen, relativ frei vom Einfluss geografischer und sozial- politischer Faktoren zu vermeiden. In erster Linie bedeutet es die Selbstrealisierung und die Kommunikation aufgrund gemeinsamer kultureller Codes und Identitäten.
a) Selbstrealisierung
Jeder Nutzer kann online eine eigene Identität ohne den Einfluss der sozialen Umgebung entwickeln, präsentieren und dort Anerkennung bekommen. Die Möglichkeit, Online-Identitäten im Offline umzuwandeln, bedeutet näher betrachtet auch soziale Harmonie, die Entstehung neuer Gemeinschaften, Transformation und Evolution der Gesellschaft insgesamt und die Entstehung neuer lokaler und sozialer Prozesse.
Die mögliche Transformation von Online- in Offline-Beziehungen hat ein großes Integrations- und Kulturpotenzial, was für Russland wegen der sozial-politischen und geografischen Faktoren sehr aktuell ist.
b) Kultur und Wertewandel
Online entstehen durch soziale Interaktionen neue Kulturpraktiken, die zum Erscheinen
neuer Kulturobjekte und -werte führen (z.B. “Preved”-Kontrkultur, der Internet- Animationsfilm “Masyanya”, Kulturprojekt „Leprosorium“), die Implementierung dieser Artefakte ins Offline-Leben bedeutet wiederum die Veränderung der Gesellschaft, deren Evolution und die Wettbewerbsfähigkeit.
c) Soziales Management
Die Möglichkeit der Umwandlung von Online-Beziehungen ins Offline bedeutet einen neuen Weg sozialen Managements. Im Zuge des rasanten Wachstums des Internetzugangs in Russland können die neuen Online-Communities neuartige Organisationsformen der sozialen Kommunikation anbieten, außerhalb der existierenden sozialen Institutionen.
Besonders relevant sind diese Lösungen für verschiedene russische Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die aktuell unter der sozialen Passivität leiden. Bei der Beantwortung der Ausgangsfrage kann die Erkenntnis hilfreich sein, welche Rolle die neuen Internet-Technologien bei der Organisation von einzelnen OfflineAktionen im Web als auch bei der Gründung einer neuen NGO spielen.
Wissenschaftliche Relevanz
Die Frage des Einfluss von Online-Communities im Runet auf die russische Gesellschaft ist bis heute relativ unerforscht. Die Existenz einer Menge verschiedener Forschungszentren und -projekte in Russland (z.B. FOM, Romir Monitoring, SUP, Rambler Group, RuCenter, Comcon2) löst nicht die Probleme fehlender Daten und dementsprechend der Analyse kausaler Zusammenhänge zwischen der Medienentwicklung und der sozialen Veränderungen. Die Gründe dafür sind prosaisch: Einerseits haben die erwähnten Institutionen kein Interesse an strategischen Lerneffekten der Studien und deswegen ist die Mehrheit der Projekte nur auf die kurzfristigen kommerziellen Ziele ausgerichtet. Andererseits besteht das Problem fehlender Daten sowie fehlender langfristiger Studien und in dem großen Aufwand solcher Analysen.
Die Einbeziehung der Untersuchungsdaten europäischer und amerikanischer Institutionen löst die Fragestellung nach der Umwandlung sozialer Beziehungen von Online ins Offline auch nicht. Die bedeutendste Studie, das “Netville-Projekt” (vgl. Kapitel 2.5), wurde noch vor der Web 2.0-Ära durchgeführt und ihre Ergebnisse sind nicht in allen Fällen aktuell.
Die neusten Projekte sind in erster Linie den sozialen Folgen der Web-2.0-Technologien gewidmet. Deswegen bleibt der Zusammenhang von On- und Offline-Interaktionen und deren Auswirkungen bis jetzt im Wesentlichen unerforscht, was eine neue Forschungslücke bildet.
Ökonomische Relevanz
Für die Wirtschaft bedeutet es die Verbesserung der Kundenbindung, die Möglichkeit zur Schaffung und Erschließung neuer Kundengruppen, was auf lange Sicht zu Umsatzsteigerung und Existenzsicherung führt. Die Kenntnisse vom sozialen Transfer eröffnen neue Formen der Marketingkommunikation, von PR-Kampagnen und einen neuen Weg zu bestehenden oder potenziellen Kunden.
Politische Relevanz
Die politische Relevanz des Themas besteht darin, dass jede Online-Gruppe, die politische und ökonomische Interessen hat, die durch Weggang im offline realisiert werden können. Die Kenntnisse neuer Technologien ermöglichen es, im politischen Kampf an Effektivität zu gewinnen. Die Interessen von Online-Gruppen werden meistens nicht vom „realen“ Umfeld anerkannt, weswegen man die Entstehung von Offline-Gruppen aus Online-Gemeinschaften als Prozess der Repräsentation von Interessen der einzelnen, früher passiven Mitbürger verstehen kann. In einem autoritären politischen Regime mit fehlender politischer Konkurrenz, sind Kenntnisse über die Technik von sozialem Transfer besonders für oppositionelle und latent politische Gruppen ein wichtiges Instrument zum Erreichen der eigenen Ziele. Durch eine Online Community können die Menschen motiviert und rekrutiert werden und später durch die Offline-Teilnahme an Aktivitäten die eigenen Interessen verteidigen. Die politische und soziale Bedeutung von virtuellen Communities besteht auch in dem Bruch politischer Monopole mit traditionellen Medien, was nach und nach zur Demokratisierung der Gesellschaft führt. In diesem Sinne scheinen die neue Internettechnologien potentiell eins der effizientesten Mittel zur Lösung verschiedener sozial-politischer Probleme zu sein.
1.3. Aufbau der Arbeit
Die Arbeit gliedert sich in sieben Kapitel. Im folgenden Kapitel wird die Online Community als Forschungsgegenstand definiert sowie hinsichtlich der Internetnutzung und der Formen von Offline-Aktivität dargestellt.
In Kapitel 3 wird die Funktion von Online-Communities anhand der bestehenden Erkenntnisse zur Rolle der rationalen, mit der Identität verbundenen Faktoren und der irrationalen Motive dargestellt. Diese Ergebnisse werden in Kapitel 4 in Form eines theoretischen Modells zu den Gründen der Umwandlung von Online-Beziehungen in offline dargestellt sowie die entsprechende Hypothese für die Modellzusammenhänge formuliert.
In Kapitel 5 wird die methodische Umsetzung begründet und anschließend die Operationalisierung der theoretisch hergeleiteten Dimensionen für die empirische Forschung beschrieben. Die Forschungsergebnisse und deren Interpretation werden in Kapitel 6 dargestellt. Kapitel 7 zieht das Fazit zur gesamten Studie.
2 FORSCHUNGSGEGENSTAND
Um sich dem Forschungsgegenstand angemessen nähern zu können, wird zunächst die relevante Information für die skizzierte Fragestellung gegeben. Im Folgenden wird ein Überblick über die gegenwärtige Nutzung von Web-2.0-Diensten in Russland gegeben (Kapitel 2.1). Danach werden Online-Community definiert (Kapitel 2.2) und Organisationsformen der Online-Kommunikation charakterisiert (Kapitel 2.3). Anschließend werden Sozialer Transfer theoretisch dargestellt und aktuelle Beispiele im Runet gezeigt (Kapitel 2.4).
2.1. Online Community im Runet
In den letzten drei bis vier Jahren kann man einen Wachstum von Online-Partizipation im Runet beobachten. In erster Linie ist dies mit der allgemeinen Verbreitung des Internet in Russland zu erklären.
Nach Angaben von «TNS Gellup Media» hatte im März 2008 die wöchentliche Zahl der Internetnutzer 12 + in Russland 33,9 % erreicht, davon in Moskau 55,9 % (Tagiev, 2008). Die Dynamik des Nutzerwachstums in den Jahren 2007-2008 beträgt gemäß den Angaben des Auswertungsportals «ComScore» in Russland 25 %, in Europa 15 %, und in der Welt 11 % (ComScore, 2008).
Inhaltlich zeigen die russischen Nutzer größten Interessen an sozialen Netzwerken und Blogs. Gemäß der Daten von «Alexa. The Web Information Company» nimmt die führende Position in der russischen Internet-Traffik das soziale Netzwerk «V Kontakte» (der erste Platz, 7.Oktober 2008) ein; «Odnoklassniki», (ist ein anderes erfolgreiches Netzwerk, das besonders in den Regionen beliebt ist), nimmt den vierten Platz des Rankings ein und auf der neunten Position befindet sich Bloghosting «LiveJournal». Die Zwischenstellen haben traditionell die Mailings- und Suchservices (mail.ru, yandex.ru, google.ru, rambler.ru u.a.) eingenommen (ALEXA, 2008).
Nach der Popularität der sozialen Netzwerke ist Russland auf dem ersten Platz in Europa. Im März 2007 haben schon 41,7% der Internetnutzer in Russland einen eigenen Account im sozialen Netzwerk, aber heute geht man von mehr als die 90% der SN-Nutzer aus (ComScore, 2008).
Blogs sind im Runet auch besonders populär im Vergleich zu den meisten europäischen
Ländern (die Ausnahme ist Frankreich) und zu Nordamerika (Universal McCann, 2008). Der Leader der Blogosphere von Runet ist zweifellos «LiveJournal», der in Russland das Sonderbezeichnung «ǓǓ» bekam. Insgesamt 73% der Runetnutzer lesen die Blogen, und 21,3% haben eigenen Blog (Universal McCann, 2008).
Man muss auch berücksichtigen, dass Runet nicht nur aus der Bürger von Russland besteht. Große Teil der Nutzer von Runet kommt aus dem Ausland, in erster Linie aus GUS-Länder, dann aus Europa und den USA (ComScore, 2008). Aber die sozialen Prozesse, die in dieser Arbeit untersucht werden, berühren in erster Linie Russland und teilweise auch die Ukraine und Belarus, wo sich ähnliche Tendenzen beobachten lassen.
Die Verbreitung der neuen Internettechnologien und die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen führt zur Entstehung unterschiedlicher online-basierter Gruppen. Und in diesem Zusammenhang entsteht die Frage, die uns helfen kann, die weitere Motivation der Nutzer zur Teilnahme an Prozessen innerhalb von Online-Communties zu klären:
FF1: Warum nehmen Menschen an Online-Communities teil?
2.2. Begriffsdefinition und Einordnung: Online Community
In dieser Arbeit wird unter dem Begriff Online Community eine soziale Gruppe verstanden, deren Teilnehmer im Internet miteinander interagieren, sich unterhalten und durch bestimmte, meistens gemeinsame Ziele, Interessen, soziale Bedürfnisse verknüpft sind. Diese Definition hat synthetischen Charakter, da sie aus den Definitionen von Online Community verschiedener Autoren stammt. Derer Analyse erlaubt es uns, die Online Community von zwei Seiten aus zu betrachten: aus soziopsychologischer und soziotechnischer Perspektive.
Die soziotechnische Perspektive beleuchtet in erste Linie die Technologie der Kommunikation, des Internet und dessen Dienste (und in dieser Hinsicht unterscheiden sich online und offline Community entscheidend).
So Hagel und Amstrong beschreiben die Online Gemeinschaft als “the computer mediated space where there is an integration of content and communication with an emphasis on the member-generated content” (Oh & Lee, 2005).
Die Möglichkeit der Bildung sozialer Beziehungen durch das Internet hat unter anderem Rheingold bemerkt, der Online Community definiert als „social aggregations that emerge from the Net when enough people carry on those public discussions long enough, with sufficient human feeling, to form webs of personal relationship in Cyberspace" (Rheingold, 1993, S.5). K. Beck verdeutlicht dieses Konzept durch die folgende Schlüsselkomponente, die aus Online Gemeinschaften heranwachsen kann: dauerhafte, emotional fundierte soziale Beziehungen, die aufgrund von computervermittelter Kommunikation zwischen mehreren Personen entstehen (Beck, 2006, S. 165). Aber Rothaermel und Sugiyama argumentieren, dass Online- Communities nicht nur Informationen und Ressourcen verbinden, sondern auch Menschen zusammenbringen, um ihre professionellen sowie sozialen Bedürfnisse zu befriedigen (Oh & Lee, 2005).
Die soziopsychologische Perspektive betrachtet hingegen nur die sozialen Folgen der Anwendung neuer Web-Technologien (Beck, 2006, S.172). Das Internet wird zur ultimativen Rettung vor den Folgeproblemen der Moderne - es ermöglicht Heimatgefühl trotz zunehmender Anonymisierung, Lokalität im Dickicht der Städte, persönliche Bindungen trotz Zunahme indirekter Beziehungen und es überschreitet soziale und kulturelle Grenzen, indem es die Seelen der Menschen in dem einem weltumspannenden „globalen Dorf“ zusammenführt“ (Heintz, 2000, S.188).
Die theoretische Gründe zu dieser Serie von Annahmen über die Entstehung neuer Formen von Gemeinschaften im Netz kann man traditionell in der Dichotomie „Gesellschaft - Gemeinschaft“ sehen (Heintz, 2000, S.188). Einzelne empirische Studien wie das Netville-Projekt ermöglichen es uns, die Natur der Online Community besser zu verstehen. Aber die Frage, ob die Online Community tatsächlich eine Gemeinschaft im eigentlichen Sinne ist, ist bislang noch offen. Auch wichtig ist die Antwort auf die Frage: Wie unterscheiden sich Offline-, „reale“, von Online Communities?
2.3. On- und Off-Unterschiede
Vom Beginn der Internet-Ära an hat Gusfield zwei Arten von Gemeinschaften ausgemacht: Erstens die traditionelle (territoriale oder geografische) Gemeinschaft wie zum Beispiel Stadtteil, Stadt oder Region. In diesem Sinne bedeutet Gemeinschaft das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten räumlichen Umgebung. Zweitens bezeichnet die „relationale Gemeinschaft“ das System der menschlichen Beziehungen, die nicht mit einem bestimmten Standort verbunden sind (Oh & Lee, 2005).
Die Unterschiede, die zwischen Offline- und Online-Communities existieren, entsprechen sehr gut dieser Typologie.
Offline oder “Organic communities are bound to time, place and natural environments. They are mainly based on face-to-face communication“(van Dijk, 1999, S.159). „Virtual communities are associations of people not tied to time, place and other physical or material circumstances, other than those of the people and media enabling them.“ (van Dijk, 1999, S.159)
Beide Gruppen sind manchmal nicht vollständig voneinander zu trennen, weil sie sich nicht immer gegenseitig ausschließen und zum Beispiel gemeinsame Mitglieder haben können (Oh & Lee, 2005).
Die wichtigsten Merkmale, die Online Community von Offline unterscheiden, sind folgende:
- Fehlende non- und paraverbale Reize (bei Offline-Kommunikation ist es möglich, eine Reihe von nonverbalen Informationen zu bekommen, was online unmöglich ist. Zum Beispiel Statussymbole, Mimik, Gestik, Stimmmodulation; · Räumliche und zeitliche Trennung (online gibt es keine zeitlichen und räumlichen Grenzen, was die Teilnahme an der globalen Kommunikation auch über verschieden Kulturen hinweg ermöglicht) (Utz, 1999, S. 18);
- Anonymität (der Mensch kann in der Online-Gruppe im Unterschied zu offline die eigene Identität „managen“ durch die Möglichkeit, die preisgegebenen persönlichen Informationen zu kontrollieren) (Utz, 1999, S. 19);
- Interaktivität (offline gibt es weniger Barrieren für die Initiierung sozialer Interaktion) (Thiedeke, 2000, S.30);
- Optionalität (Vielfalt der „Möglichkeiten, Themen, Interaktionsformen, Identitäten, Kommunikationsumgebungen und Wissensbestände, die auszuwählen sind oder auf die zurückgegriffen werden kann“ (Thiedeke, 2000, S.32);
- Interesse statt Geographie (Online-Communities sind in erster Linie Interessengemeinschaften, wohingegen Offline-Gruppen aufgrund physischer Nähe entstehen(van Dijk, 1999, S.159);
- Hyperpersonalität (die Teilnehmer haben online mehrere Möglichkeiten eigene Identitäten frei erfinden) (Utz, 1999, S.22);
- Instabilität (ein Offline-Community ist ein „relatively stable unit with many short and overlapping communication lines and joint activities“. Online-Communities sind anderseits instabil. „They can fall apart at any moment. For instance, leaving a group on the Internet is simple and may hardly be noticed“ (beides van Dijk, 1999, S.160).
Man kann nicht deutlich bestimmen, welche Merkmale offensichtliche Vor- oder Nachteile sind. In einigen Kommunikationssituationen werden einige Eigenschaften als eher positiv, andere als eher negativ betrachtet. In erster Linie hängt es jedoch von der Zielen und kommunikativen Aufgaben der Nutzer selbst ab.
Die Bewertungen von Online- und Offline-Kommunikation sind auch in der modernen Kommunikationswissenschaft sehr unterschiedlich: Einige Autoren sehen darin eine Reihe von Möglichkeiten, andere sehen darin eher Bedrohungen und Beschränkungen. Sonja Utz analysiert in ihrer Arbeit (1999, S. 21) Online-Kommunikation in Bezug auf das Social Presence Model (Short, Williams&Christie), das Cuelessness Model (Rutter) und des Reduced Social Cues Approach (Kiesler,Siegel&McGuire): „All diese Ansätzen fassten CMC [computermediated communication] als verarmte, defizitäre Kommunikationsform auf: weniger soziale Präsenz durch die verminderte Anzahl an Kanälen, Fehlen nonverbaler Hinweisreize durch die Beschränkung auf Text“ (Utz, 1999, S. 21). Deswegen CMC nach Utz ist weniger sozial, enthemmter und feindseliger.
Anderseits muss man erwähnen, dass Online-Communities prinzipiell eine neue Art der sozialen Beziehung ermöglichen, denn durch Online-Kommunikation wird auch neue soziale Nähe hergestellt, die psychologisch als vergleichbar und oftmals wertvoller als die Nähe offline empfunden werden kann. Durch Online-Kommunikation können die Nutzer die kontextuale Determination des eigenen sozialen Lebens überwinden. Statt geografischer Orte entstehen Online-Orte, in denen die Menschen miteinander kommunizieren können. Dadurch wird die geografische Grenze der sozialen Interaktion überwunden und die Individuen bekommen eine neue Möglichkeit, ihre Kommunikationspartner gemäß eigenen Interessen zu finden, was neue soziale Freiheit bedeutet. Wenn früher der Mensch potenziell die Gelegenheit hatte, nur mit den Bewohnern des eigenen Ortes, der eigenen Stadt zu unterhalten, dann bekam er mit den neuen Technologien theoretisch den Zugang zu der ganzen Welt. Die lokale und regionale Gesellschaft bekam eine globale Kategorie.
Aber ob die Leute diese Gelegenheit nutzen oder Offline-Interaktionen bevorzugen, hängt in erster Linie davon ab, wie sie die Beziehungen selbst im Netz betrachten. Die Antwort auf diese Frage kann uns helfen, die Logik der Veränderung der Online Community zu verstehen und ihre mögliche Zukunft zu begreifen: FF2: Wie betrachten die Nutzer selbst die Möglichkeiten zur Interaktionen in der Online Community im Vergleich zum realen Leben?
Ist die neue soziale Nähe, die im Netz entsteht, attraktiv für die Nutzer von OnlineCommunities und genügt die Qualität der sozialen Beziehungen für die effiziente Kommunikation? Oder aber die Position von S. Utz hat allen Grund, bewiesen zu werden. Theoretisch sind einige Antworten auf diese Fragen durch die Analyse der sozialen Natur on den Beziehungen in Online-Communities erhältlich. In dieser Hinsicht ist die Konzeption von Ferdinand Tönnies sehr hilfreich.
2.4. Gemeinschaft, Gesellschaft und Online Community
Tönnies unterscheidet zwei Formen der sozialen Organisation: die Gemeinschaft und die Gesellschaft. Wenn „Gemeinschaft“ eine Form der familiären, verwandtschaftlichen, nachbarschaftlichen Beziehung ist, charakterisiert der Begriff „Gesellschaft“ unpersönliche, oberflächliche und vorübergehende Verhältnisse zwischen anonymen Subjekten. Wenn gemeinschaftliche Beziehungen auf Basis gemeinsamer Werte und Interessen gebaut sind und einen emotionalen Charakter haben, sind gesellschaftliche Beziehungen von rationalem Kalkül determiniert (Back, 2006, S. 166).
“Gemeinschaft im engeren Sinne immer an Tradition, also Dauerhaftigkeit und einen konkreten Ort persönlicher Begegnungen gebunden ist. Soziale Beziehungen basieren in Gemeinschaften nicht auf einem (bestimmten) Zweck, sondern umfassen immer mehrere Sinnbezüge (Multiplexität), weil Menschen hier nicht als Rollenfunktionsträger agieren wie in arbeitsteiligen Gesellschaften“ (Back, S.167).
Virtuelle Gemeinschaften nehmen in diesem Koordinatensystem eine Zwischenposition ein. Einerseits kann man die „Dauerhaftigkeit der Beziehungen, persönliche Kenntnis und körperliche Gegenwart“ in virtuellen Communities infrage stellen, aber Hierarchie, rationale Logik und unpersönliche Beziehungen kann man ihnen nicht zweifellos zuschreiben (Back, 2006, S. 168).
Jede Gruppe in sozialen Netzen, Blogs oder virtuellen Welten enthält das Potential, sich entweder zur sozialen Gemeinschaft zu entwickeln oder nur die gesellschaftliche öffentliche Form zu haben.
Deswegen kann die Teilnahme an der Online Community als Versuch der Selbstdifferenzierung und -orientierung interpretiert werden. Potenziell ist dieser Zwischenstand relativ instabil und hat zur möglichen Folge die Transformation der Online Community in eine Offline-Gemeinschaft.
2.5. Sozialer Transfer
In dieser Arbeit wird der Prozess der Transformation der Online-Beziehungen in Offline-Interaktionen und -Verhältnisse als „sozialer Transfer“ bezeichnet, weil zurzeit es keine gemeinsame Definition vom Prozess der Transformation von OnlineKommunikation in die Offline-Form gibt.
Der Begriff „sozialer Transfer“ ist in dieser Perspektive inhaltlich korrekt. Die Web-2.0- Dienste als einzigartiges „soziales Labor“ (vgl. Turkle, 1998, S.289) zu betrachten, wo die verschiedenen Beziehungen konstruiert werden können. Und die Übertragung dieser online geschaffenen Beziehungen in die reale Welt kann man als sozialen Transfer (Übertragung der online Bezihungen in offline) bezeichnen, nicht als Wandel oder Umwandlung, da dies inhaltlich verwirrend ist.
Sozialer Transfer aus der Forschungsperspektive
Einige wenige Studien waren dem sozialen Transfer gewidmet (vgl. Hampton & Wellman, 1999). Eins der erfolgreichsten Beispiele einer Untersuchung in diesem Bereich ist die Netvilel-Studie von Hampton und Wellman.
Zum Hintergrund: Netville ist eine kleine Vorstadt von Toronto/Canada, die aus 120 Häusern besteht und Mitte der 1990er Jahre gebaut wurde. Eine Besonderheit dieser Vorstadt besteht darin, dass sie von Anfang an mit einem lokalen elektronischen Netz und Internet-Breitband ausgestattet wurde (Hampton & Wellman, 1999, S. 478). Es ermöglichte eine Vielfalt von Musik, Unterhaltungsdienstleistungen und Nachbarschafts-Diskussionsforen Die technischen Bedingungen wurden mit der Zeit verbessert, sodass sie stets auf dem modernsten Niveau blieben (Hampton & Wellman, 1999, S. 478).
2001 haben Hampton und Wellman sozialwissenschaftliche Forschungen durchgeführt, deren Ziel die Bestimmung des Einflusses von modernen Kommunikationsmitteln auf soziale Beziehungen war. Diese Studie wurde aufgrund folgender Prämisse geplant: „community is not of necessity locality-bound“. Dies bedeutet, dass nicht die Gegend, sondern die sozialen Beziehungen die Haupteigenschaft und die Zukunft der Community bestimmen: „The sociable, supportive and identity-giving interactions that define community, and not the local space in which they might take place“(Hampton & Wellman, 2000, S. 195).
Als Forschungsgegenstand wurden die Verhältnisse zwischen den Einwohnern und Nachbarn, Freunden, Verwandten und Kollegen innerhalb und außerhalb Netvilles, online und offline aufgenommen (Jankowski, 2002, S.42). Hampton und Wellman nahmen an verschiedenen On- und Offline-Aktivitäten, an Diskussionen oder Barbecues teil und beschrieben ihre Erfahrungen in der Tradition klassischer Ethnografie. Die Forscher haben auch Umfragen in Netville organisiert, um die Situation der Bewohner und deren Veränderung im sozialen Netz bestimmen zu können (Jankowski, 2002, S.42).
Die Ergebnisse der Umfragen haben gezeigt, dass das elektronische Netzwerk schwache und starke (von rein funktionalen bis zu tiefen psychologischen) Beziehungen unterstützt (Jankowski, 2002, S.42). Die Untersuchung der Breite an sozialen Beziehungen unter den Netville-Einwohnern hat große Unterschiede zwischen den Einwohnern, die einerseits aktiv und andererseits passiv im Netz kommunizieren, gezeigt (Jankowski, 2002, S.42). Die aktiven Netz-Teilnehmer wussten mehr von ihren Nachbarn, kannten ihre Namen, unterhielten sich mehr mit Ihnen online und besuchten sie öfter offline. Mit anderen Worten: die aktiven Netznutzer unterstützten die reale Gemeinschaft und nahmen an einer größeren Zahl von Face-to-Face-Kontakten teil, als die passiven Einwohner (Jankowski, 2002, S.42).
Hampton und Wellman sehen die Gründe darin, dass die ständige Präsenz im Netz und regelmäßige E-Mail-Kommunikation mit den Nachbarn dabei hilft, die eigenen Netzwerke zu unterstützen. Dies erweist sich für soziale Aktionen und auch in Konfliktsituationen als besonders wertvoll (Jankowski, 2002, S.42).
„2x2-Bewegung“ als Beispiel des sozialen Transfers im Runet
Die moderne soziale Praxis im Runet hat die These von Hampton und Wellman bestätigt.
Es existiert in Russland der Fernsehsender „2x2“, der verschiedene Animationsfilme und -serien im Programm hat. Zu den populärsten gehören „South Park“ und „Simpsons“. Zuschauer von „2x2“ sind Jugendliche im Alter von 18 bis 27 Jahren, die parallel online aktiv sind (vgl. Nikolaeva, 2007). Wegen dieser Internet-Partizipation sind in verschiedenen Bloghostings und sozialen Netzwerken viele Communities entstanden, die „South Park“ gewidmet sind.
Im September 2008 haben Vertreter der „realen“ Welt, gemeint ist die Staatsanwaltschaft, versucht, den Kanal 2x2 wegen des unmoralischen Charakters einiger „South Park“-Folgen aufzulösen. Dies hat zur Entstehung der Protestaktionen in Moskau und Sankt-Petersburg geführt, die über eine „South Park“-Community online koordiniert und organisiert wurde. Im Ergebnis blieb 2x2 erhalten. Doch nicht dieses Ergebnis, sondern auch ein anderer Aspekt ist in dieser Geschichte wichtig (vgl. Falikov, 2008).
Die Online Community, deren Vertreter nur online miteinander verbunden waren, haben sich in einer Situation der äußeren Bedrohung in eine reale Gemeinschaft umgewandelt.
Der Fall „2x2“ ist kein einzigartiger, auch der Online-Boykott vom LiveJournal im März 2008 oder die online organisierte studentische Aktion “Wir sind für VAGS” im Wolgograd im April 2008 ist dabei zu erwähnen.
Aufgrund der modernen Runet-Praxis kann man folgende Formen des sozialen Transfers definieren: 1. Politische und soziale Aktionen; 2. Flashmobs; 3. Treffen der Teilnehmer; 4. Gründung einer eigenen Bewegung.
Die Frage ist nur, unter welchen Voraussetzungen die Online-Gemeinschaften ins Offline-Leben eintreten können? Warum findet man sozialen Transfer, welche Bedingungen sind notwendig und welche Faktoren beeinflussen diesen Prozess? Diese Frage ist in dieser Arbeit von zentraler Bedeutung:
FF3: Unter welchen Bedingungen treffen sich die Nutzer mit Teilnehmern aus der eigenen Online-Gruppe in der „realen“ Welt?
2.6. Zwischenfazit
Im zweiten Kapitel wurden zunächst die Online Community begrifflich definiert und die Unterschiede zwischen Online- und Offline-Gemeinschaften analysiert. Es wurde festgestellt, dass jede Online Community theoretisch das Potenzial hat, in eine Offline- Gruppe umgewandelt zu werden. Die Beispiele einer Entstehung von Offline- Communities aufgrund von vorigen Online-Interaktionen wurden aus der Praxis dargestellt, was zu einer Definitionserweiterung für dieses Phänomen geführt hat.
Im Laufe der Analyse der Online Community und sozialer Transfers sind neben der Haupt-Forschungsfrage zu den Gründen dieses Prozesses auch andere Fragen entstanden, die hilfreich bei der weiteren theoretischen Forschung werden können:
FF1: Warum nehmen Menschen an Online-Communities teil?
FF2: Wie betrachten die Nutzer selbst die Möglichkeiten zur Interaktionen in der Online Community im Vergleich zum realen Leben?
FF3: Unter welchen Bedingungen treffen sich die Nutzer mit Teilnehmern aus der eigenen Online-Gruppe in der „realen“ Welt?
Die Antworten auf diese drei Fragen eröffnen uns den Weg, die rationalen (FF1), emotionalen (FF2) und verschiedene externe und interne Faktoren (FF3) des sozialen Transfers zu entdecken und die Antwort auf die Hauptfrage „Unter welchen Voraussetzungen können Online- in Offline-Beziehungen umgewandelt werden?“ zu bekommen. Die nächsten Kapitel sind der Beantwortung dieser Fragen gewidmet.
3 THEORETISCHE EINORDNUNG
Um die Forschungsfrage zu beantworten und die Gründe für den Prozess des sozialen Transfers zu finden, wird in diesem Kapitel die Struktur einer Online Community theoretisch betrachtet und anschließend aufgrund dieser Analyse werden die Determinanten für sozialen Transfer genannt und ergründet.
Es wird vermutet, dass der soziale Transfer die Folge der inneren Evolution und der Entwicklung einer Community ist.
Deswegen muss man um die Hauptgründe des sozialen Transfers zu definieren, die Struktur von Online-Communities (Kapitel 3.1.) und die möglichen Richtungen sowie die Logik der Veränderungen erforschen (Kapitel 3.2.). Aufgrund dieser Analyse kann man die Faktoren für jede Stufe der Veränderungsprozesse weiter definieren (Kapitel 3.3 - 3.4.).
3.1. Struktur von Online-Communities
Eine Hauptcharakteristik jeder Community, die die Enge der Verhältnisse unter deren Mitgliedern abbildet, ist Gemeinschaftsgefühl, Gefühl der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe als „sense of community“ oder „the feeling of the relationship an individual holds for his or her community“ (Oh & Lee, 2005). Newbrough und Chavis beschreiben „sense of community“ als die persönliche Erkenntnis, dass man zu bestimmten Gruppen gehört (Oh & Lee, 2005).
McMillan and Chavis haben auf Basis der bestehenden Forschung ebenfalls vier Dimensionen erarbeitet, die das Community-Gefühl beschreiben und in dieser Studie hilfreich sein können:
„Membership indicates that people experience feelings of belonging to their community.
Influence implies that people feel they can make a difference in their community.
Needs fulfillment suggests that members of a community believe that their needs will be met by the resources available in their community.
Emotional connection is the belief that community members have and will share history, time, place, and experience“ (Oh & Lee, 2005).
Aufgrund der vier Schlüsselelemente von Gemeinschaft, die Duncan vorgeschlagen hat und den vier Elementen von Gemeinschaftsgefühl von McMillan and Chavis kann man in der Community strukturell fünf Ebenen ausmachen: Community, Shared Goal, Membership, Relationship, Emotional Connection (Oh & Lee, 2005).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1: Hierarchical Composition of Community and Sense of Community
Quelle: (Oh & Lee, 2005).
Emotional Connection entsteht durch das Zusammenwirken der Teilnehmer einer Gemeinschaft: „The emotional connection initiates the relationship that can evolve into a convoluted interdependent relationship among large number of members“(Oh & Lee, 2005).
Relationship kann zur Teilnahme an der Gemeinschaft und somit zu sozialer Macht führen. Shared goal ist das Kernelement einer Gemeinschaft, das die Motivation der Teilnehmer bestimmt. Die Struktur einer Community und die Besonderheiten von Beziehungen, die zur Analyse jeder Community verwendet werden können, lässt sich schematisch folgendermaßen darstellen:
Tabelle 1: Struktur von Online-Communities
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: (Oh & Lee, 2005).
3.2. Veränderung von Struktur
Um die Veränderung innerhalb der Strukturelemente einer Gemeinschaft zu erfassen, muss man die sozialpsychologische Konzeption „sense of place“ (von Hummon und Shamai, 1992) erwähnen (Oh & Lee, 2005).
Diese Konzeption als Kernpunkt beschreibt den Raum der möglichen Veränderungen und Interaktionen als das multidimensionale Konstrukt, das folgende Elemente enthält:
- place identity (“beliefs about the relationship between self and place“)
- place attachment („feelings toward the place“)
- place dependence („the behavioral exclusivity of the place in relation to alternative“) (Oh & Lee, 2005).
Canter betrachtet die erwähnten drei Plätze zusammen als einheitliches System, das kognitive, affektive und Verhaltensprozesse in der Gemeinschaft umfasst und bei der Analyse menschlicher Handlungen und dementsprechend der Veränderungen in einer Gemeinschaft hilfreich sein kann (Oh & Lee, 2005).
Gemäß Cantor kann man das menschliche Verhalten in einer Online- und Offline- Gruppe auch als die Kraft der Verbindung der Gruppenteilnehmer durch die Prozesse auf der kognitiven (Place Identity) und der affektiven Ebene (Place Attachment) der Community erklären.
In den nächsten Kapiteln (3.3. Place Identity; 3.4. Affektive Gründe des sozialen Transfers) werden die Faktoren der kognitiven und affektiven Veränderungen näher betrachtet.
3.3. Place Identity
Jede Community kann als ein System dargestellt werden, das aus den Elementen und Beziehungen zwischen ihnen besteht. Die Veränderung des Systems ist die Folge der Veränderungen der Elemente oder Beziehungen. Wie oben bereits erwähnt hat diese Evolution rationalen Charakter. Als Indikatoren solcher Veränderungen kann man die Veränderungen personaler Identität, welche die Persönlichkeit der Teilnehmer einer Community darstellt, und der Veränderung sozialer Identität, welche die Beziehung zwischen den Teilnehmern abbildet, ansehen.
Deswegen um die Rolle von rationalen Faktoren im Prozess der Transformation der Gemeinschaft von online zu offline zu erfassen, muss man am Anfang das Identitätskonzept der Teilnehmer theoretisch betrachten (3.3.1. Members). Danach wird aufgrund der theoretischen Erkenntnisse (Netzwerktheorie von Harrison C. White, Konzeption von N. Luhmann) die Evolution der Online-Communities und ihre Beziehungenbetrachtet: von der Online-Selbstpräsentation ihrer Teilnehmer (Kapitel 3.3.2), über Bildung von Online-Gruppen und der Identifikation mit der Gruppe bis zum eventuell resultierenden sozialen Transfer (Kapitel 3.3.3).
3.3.1. Members
Identität
Identität ist das System der Vorstellungen der Individuen über sich selbst, der Außenwelt, und dem eigenen Platz darin. Eines der Bestandselemente dieses Systems sind die Selbstbilder, die Vorstellungen der Menschen, die man auf verschiedenen Ebenen betrachten kann (sexuell, sozial, ideal, phantastisch, psychologisches Ich und vieles mehr) und die Beziehungen zwischen diesen einzelnen Selbstbildern. Turner und Tajfel unterscheiden das Identitätskonzept in personale und soziale Identität (vgl.Köhler, 2003, S.67). Personale Identität nach Turner ist Teil des Selbstkonzeptes eines Individuums, die Summe der Vorstellungen einer Person über ihre Einzigartigkeit als Individuum, die auch die Meinung über persönliche Fähigkeiten und Einstellungen einschließt (Köhler, 2003, S. 67).
Abbildung 2: Identitätskonzept
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
Nach E. Goffman ist die persönliche Identität keine Eigenschaft, kein Besitz der Person, sondern „bezieht sich auf eine dem Individuum durch seine Interaktionspartner zugeschriebene Biographie“ (Goffman, 1996, S. 73)
„Bei der persönlichen Identität geht es um die Einzigartigkeit einer Person, welche mit Hilfe von „positiven Kennzeichen“ oder „Identitätsaufhänger“ festgehalten wird“ (Goffman, 1996, S. 82). Soziale Identität ist umgekehrt „ein Teil des Selbstkonzeptes eines Individuums, der aus dessen Wissen über seine Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (oder) Gruppen verbunden mit dem Wert und der emotionalen Bedeutung, die dieser Gruppenmitgliedschaft beigemessen werden, erwächst“ (Köhler, 2003, S. 67).
In der Konzeption sozialer Identität von E. Goffman ist die Rede über Rollen, die der Mensch in der Gesellschaft spielt. In diesem Zusammenhang ist die Frage „wie gut entspricht eine Person den menschlichen Erwartungen?“ sehr interessant. Inwiefern kann also die einzelne Person zu einer gewissen Gruppe von Menschen hinzugezählt werden? (Eiden, 2004.)
H. Frey versucht diese Frage in seiner Definition von sozialer Identität auf folgende Weise zu klären: „Soziale Identität bedeutet für ihn die Einordnung einer Person nach allgemeinen, sozial relevanten Kategorien. Es ist sozusagen die „Oberflächenidentifizierung“ der Person, die deshalb aber nicht minder handlungsrelevant ist. Soziale Identität bedeutet die Zuordnung einer Person zu einer Klasse von Menschen, denen gegenüber, definiert durch die jeweiligen Merkmale, relativ homogene Vorstellungen und Erwartungen bestehen.“ (Frey, 1983, S. 44).
Jedes Individuum kann Mitglieder verschiedener Gruppen (gemäß Geschlecht, Beruf, Wohnort) oder Gemeinschaften (Sportverein etc.) werden und eine solche Mitgliedschaft als wesentlichen Teil von sich selbst wahrnehmen. Da die Zahl der sozialen Interaktionen potentiell unbegrenzt ist, verfügt ein Individuum auch über mehrere soziale Identitäten.
Als Ergebnis können wir schließen, dass Identität der Menschen ein System ist, das aus personalen und verschiedenen sozialen Identitäten besteht, zwischen denen eine bestimmte Beziehung oder Funktion existiert.
Balance von Identität
Das Problem der Definition von der Natur der Verhältnisse zwischen sozialen und personalen Identitäten versuchte Jürgen Habermas zu lösen. Er hat die Konzeption „Balance der Identität“ vorgeschlagen. Nach Habermas kann man sich die Identität des
Menschen als Balance zwischen dem Aufrechterhalten personaler und sozialer Identitäten vorstellen. Dieser Balance hat eine dialektische Natur: ,,Wir müssen gleichzeitig unsere soziale Identität wahren und ausdrücken, ohne der Gefahr der Verdinglichung zu erliegen; aber ebenso müssen wir unsere persönliche Identität zugleich wahren und ausdrücken, ohne stigmatisiert zu werden“ (Habermas, 1973, S. 131).
Abbildung 3: Balance von Identität
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
Dank der Autonomie beider Identitäten ist die Balance zwischen sozialer und persönlicher Identität nach Habermas erreicht. Inwiefern beide zusammenwirken, erwähnt er jedoch nicht. Diese zwei Identitäten können beide sowohl zur Geltung gebracht werden (demonstrative Identität mit der Gruppe) oder Distanz und Ungleichheit aufweisen. In dem Fall ist über eine fiktive oder Scheinidentität zu reden (Habermas, 1973, S. 131).
Krappmann beschreibt die persönliche Identität als subjektive Interpretation der sozialen Interaktionssituation (Sozialer und Media-Kontext). Diese Situation kann er nicht selbst verändern, folglich determiniert sie sein eigenes Handeln. Die ,Interaktionssituation ist mitbestimmt von der sozialen Biographie des Einzelnen. Bestimmte Standpunkte des Individuums, die in der „Interaktionssituation“ repräsentiert werden, werden vom sozialen Kontext unterstützt und aktualisiert, andere verlieren an Aufmerksamkeit und können als sozial unerwünschte Elemente bezeichnet werden (Krappmann, 1978, S. 42). Deswegen ist der soziale Interaktionsraum, der eine gemeinsame soziale Identität unterstützt und entsprechende personale Identitäten bildet, nach Meinung von Krappmann eine der Art sozial-normatives System.
Abbildung 4: Interaktionssituation und Identität
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
Darum das ideale Verhältnis zwischen sozialer und personaler Identität, das schon Habermas beschrieben hat, ist eher unrealistisch. In der Realität haben wir es wegen der sozialen Kontrolle oft mit der balancierenden Identität zu tun, der Suche nach einem solchen Interaktionsraum, der uns die persönliche Identität zu realisieren hilft und uns so vom Druck der unerwünschten sozialen Identität befreit.
Dank der Entwicklung der neuen Medien erschienen in den letzten Jahren neue Möglichkeiten für diese Suche, wie zum Beispiel die Online Community. Sherry Turkle unterstreicht in diesem Zusammenhang, dass sich „die Art und Weise, wie wir personale Identität erzeugen und erleben [durch die Möglichkeiten des Internet], grundlegend verändert [hat]“ (Turkle, 1998, S. 10). In früheren Zeiten war ein derart schneller und andauernder Wechsel von Identitäten nicht so einfach. Zwar lebte/spielte man auch verschiedene soziale Rollen, die meisten waren jedoch durch Familie oder andere soziale Bindungen starken Einschränkungen unterworfen (vgl. Turkle, 1998, S. 289). „Das Internet ist zu einem wichtigen Soziallabor für Experimente mit jenen Ich- Konstruktionen und -Rekonstruktionen geworden, die für das postmoderne Leben charakteristisch sind.“ (Turkle, 1998,S. 289).
Es ist davon auszugehen, dass Personen stärkere gemeinsame Interessen haben, da diese nicht wie früher mangels alternativen dem Sportverein in ihrem Heimatort auswählen, sondern durch das Internet die Möglichkeit bekommen haben aus einer unendlichen Vielzahl virtueller Gemeinschaften die zu Ihnen am besten passende auszusuchen (Turkle, S. 290).
Als Ergebnis der Diskussion über den Zusammenhang zwischen der Balance der Identität und der potenziellen Offline-Aktivität der Teilnehmer von Online-Gruppen, kann man folgende Hypothese aufstellen (Tabelle 2):
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Tabelle 2: Hypothese - Balance von Identität „Zufriedenheit im sozialen Kontext“
H1a: Je negativer ein Nutzer die eigene soziale Umgebung bewertet, desto stärker ist sein Wunsch, sich offline mit der Online-Gruppe zu treffen.
H1b: Je negativer ein Nutzer die eigene soziale Umgebung bewertet, desto häufiger wird er sich offline mit der Online-Gruppe treffen.
3.3.2. Selbstpräsentation online
In einer Online Community kann der Mensch seine eigenen Selbstbilder manifestieren, ohne Gefahr zu laufen, an sozialem Prestige zu verlieren und seinen aktuellen sozialen Status und seine Position in dem System der existierenden sozialen Zusammenhänge zu schädigen. Statt in verschiedenen Interaktionssituationen unter den einzelnen
Ausprägungen des Selbstkonzeptes zu balancieren, konstruiert der Mensch aus einzelnen Selbstbildern eigene Identität frei, die später noch verändert werden kann. Identität ist kein starres Konstrukt, sondern sehr wandelbar und auch im Laufe eines Lebens häufig angepasst oder sogar zum Teil neu konstruiert werden kann. Die Tätigkeit in Online-Communities kann man sich als Prozess der Selbstpräsentation und Suche nach neuen sozialen Interaktionsräumen vorstellen. Selbstpräsentation kann man als selbstanalytischen Prozess verstehen, in Folge dessen der Mensch eigene Teilbilder analysiert und dann entscheidet, welche davon für ihn wertvoll ist und welche er der Öffentlichkeit im Internet präsentieren möchte.
Abbildung 5: Selbstpräsentation im Internet
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Quelle: Eigene Darstellung
Niklas Luhmann nennt diese Phase des Kommunikationszyklus „Selbstbeobachtung“. Bereits in diesem Schritt bieten die Online-Netze, Blogs, Virtuelle Welten die Möglichkeit, verschiedene Seiten des Selbstkonzeptes zu präsentieren (Hobbys, Interessen, Musikpräferenzen, politische und religiöse Einstellungen, Ausbildung, geographische Lokalisation) und dies mithilfe von verschiedenen Medienformen (Text, Foto, Video, Audio).
Online kann jeder Mensch auch andere Menschen beobachten und als Folge der eigens konstruierten persönlichen Identität mit Identitäten anderer Menschen und OnlineGruppen vergleichen, um sich eine neue soziale Identität aufgrund der sozialen Interaktionen in Online-Gruppen aufzubauen.
Detaillierter lässt sich die Logik der Entstehung von Online-Gruppen und der Identifikation mit ihnen mithilfe der Netzwerktheorie von H. White darstellen.
3.3.3. Interaktion.
Den Prozess der Bildung neuer Online-Gruppen und entsprechenden sozialen Identitäten kann man mithilfe der Netzwerktheorie von H. White erfassen.
Identität in System von Intergruppenkommunikation
Online-Communities, die sich als online Netzwerk darstellen können, erlauben nach der Netzwerktheorie von H. White „den Entwurf, die Erprobung und die Kontrolle von Identitäten aller Art durch den Bezug auf passende Netzwerkelemente gleicher und anderer Art“. (Baecker, 2006, S.227).
Selbst „ein Netzwerk besteht nicht nur aus Personen und nicht nur aus Institutionen oder Organisationen jeweils gleicher Art, sondern es besteht aus Identitäten unterschiedlicher Art...“ (Baecker, 2006, S. 228). Die Netzwerke sind gemäß Harrison C. White ein Ergebnis vom Prozess der sozialen Interaktionen, die auf Basis der Produktion und Kontrolle von Identitäten entstanden sind. (vgl. White, 2007, S. 1) Identität ist das Schlüsselelement von Whites Theorie. White definiert die Rolle von Identität wie folgt: „[...]it does not mean the common-sense notion of self, nor does it mean presupposing consciousness and integration or presupposing personality. Rather, identity is any source of action not explicable from biophysical regularities, and to which observers can attribute meaning." (White,1992, S.6.). Alle Handlungen, selbst die Online Community wurde wegen der Identität entstanden, Identität ist die Gründe für alle nicht biologische Handlungen. (White, 2007, S. 9)
Identität, soziales Handeln und Kommunikation
Die Identitäten selbst entstehen aus dem Versuch, das Chaos des sozialen Kontexts zu kontrollieren (White, 2007, S. 1). In diesem Sinne ist die Identität ein Versuch zur Reduktion der Komplexität der Außenwelt, zieht man auch die Methodologie von Luhman heran.
„Chaos und Zufälle sind Ressource und Basis für Identitäten. Nach White werden Identitäten in einer chaotischen Umwelt durch Kontingenzen ausgelöst“. (Zhang, 2007, S. 88)
Kontingenzen in der Konzeption von White sind das, was das Physische mit dem Gesellschaftlichen verknüpft. Physisches Handeln wird nur dann die Bedeutung produzieren, wenn sie von anderen aus dem sozialen Kontext beobachtet wird. Ohne sozialen Kontext und ohne die Beobachtung durch andere können sich keine Identitäten durch individuelles Handeln produzieren (White, 2007, S. 8). Und jede Handlung ist wiederum von bestehenden Identitäten abhängig. Deswegen wird Identität im Prozess der Interaktionen und des Handeln im sozialen Kontext produziert: „Social actions begin as triggerings of identities“ (White, 1992, S.32). Identität ist nicht nur vom Individuum selbst bestimmt: Identität benötigt einen Gegenüber, um sich zu konstituieren.Im Prozess der Interaktion online entstehen die Identitäten, die mit Online-Bildern verbunden sind. Und diese Identitäten initiieren dann neue Aktionen, Interaktionen und Handlungen.
Identität und Kontrolle
Die sozialen Handlungen führen zur Entstehung einer Menge von Identitäten. Um diese Menge zu reduzieren und Ordnung im Chaos zu finden, werden Kontrollmechanismen gestartet. Nach White: „Control is both anticipation of and response to eruptions in environing process“(White, 2007, S.7). „Eruption“ in diesem Kontext ist „ein Brechen von Limitation oder Restriktion, Varianz“. (Zhang, 2007, S. 89) Die Kontrolle als Reaktion auf die erhöhte Menge und Unterschiedlichkeit von Identitäten, hat zwei Objekte:
1.die Identität selber, denn Identität kontrolliert sich selbst;
2.die Umgebung der gegebenen Identität, einschließlich anderer solcher Identitäten.
Nach White „An identity is as likely to target itself as another identity for a control effort“(White, 2007, S.9)
Soziale Anerkennung
Die im Online präsentierte Identität wird von anderen nur dann anerkannt, wenn sie eine unproblematische Kontinuität hat, was man durch Selbstkontrolle erreichen kann. „Das heißt, dass eine Identität erst erkannt werden kann, wenn sie sich immer wiederholt, und zwar in verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten.“ (White, 2007, S. 89.) Um Anerkennung der Identität zu bekommen, muss man sie in verschiedenen sozialen Kontexten präsentieren. Als eine der Möglichkeiten stellt sich die virtuelle Umgebung, die Online Community dar und als einen anderen Schritt kann man sich in einer Offline-Community präsentieren.
Identität muss in verschiedenem Kontext wiederholt präsentiert werden, um Anerkennung zu bekommen, deswegen ist die Präsentation seiner Identität wie im Online als auch offline extrem nötig. „Having an identity requires continually reproducing a consistent joint construction out of actions from distinct settings“. Ohne die Selbstreproduktion und die Unterstützung aus der sozialen Umgebung wird die entstandene Identität bald verschwinden.
Wenn wir auch die Vielfältigkeit des Identitätskonzepts der Individuen (vgl. Kap. 3.3.1) und seiner dualistischen Natur in Betracht ziehen, die sich selbst durch Existenz der personalen und sozialen Identität zeigt (vgl. Kap. 3.3.1), dann wird es möglich, die Gründe des sozialen Transfers durch folgende Hypothesen empirisch zu erfassen (Tabelle 3):
[...]
- Quote paper
- Dmitry Pankov (Author), 2008, Die Gründe für das Streben und den Weggang aus Online-Gemeinschaften des russischsprachigen Internet in eine „reale“ Unterhaltung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/141951
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