Der Suizid ist ein altes und zugleich beständiges Thema der Philosophie.
Kant lehnte die Selbsttötung unter Verweis auf eine „Pflicht gegen sich
selbst“ strikt ab; Hume sah die gegenüber dem Suizid vorherrschend
ablehnende Haltung seiner Zeitgenossen in einem natürlichen und durch
Gewohnheit weiter verstärkten Aberglauben begründet; für Seneca war
die unvoreingenommene Betrachtung der prinzipiell gegebenen
Möglichkeit zur Selbsttötung ein wesentlicher Bestandteil seiner Theorie
des guten Lebens; und Camus war gar der Auffassung: „Es gibt nur ein
wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord“.
Spezifisch prekär wird die Frage nach dem selbstbestimmten Sterben
für Menschen, die in solchem Maß von Krankheit betroffen sind, dass sie
keine Aussicht auf Genesung haben, sondern nur auf erhebliches Leiden
bis zum schließlich ohnehin eintretenden Tod. Die Perspektive Kranker ist
dabei nicht die typische Perspektive jener philosophiegeschichtlichen
Diskurse, gerade aus ihr aber scheint die Haltung, sterben zu wollen, auf
Anhieb leichter zugänglich als aus einer prinzipiellen Perspektive, die etwa
suggestiv und pathetisch zugleich die Frage aufwirft, „ob das Leben es
wert ist, gelebt zu werden oder nicht“, oder, unter welchen Umständen
man aus sittlichen Gründen regelrecht verpflichtet ist, generell nicht mehr
am Leben zu hängen6. So ist der Wunsch nach schnellem Sterben im Fall
eines Todkranken bereits intuitiv und vor-philosophisch wesentlich leichter
nachvollziehbar als im Fall eines körperlich Gesunden. Eine solche Situation der terminalen Erkrankung betrifft potentiell jeden.
Aufgrund der stetig steigenden medizinischen Möglichkeiten, auch den
stark erkrankten menschlichen Organismus noch am Leben zu erhalten, wird ein schneller Tod immer unwahrscheinlicher; das Zeitfenster, in dem
die Frage nach dem Sterbewunsch dringlich wird, vergrößert sich
entsprechend. Zugleich allerdings verbessert sich die palliativmedizinische
Behandlung, die in Verbindung mit entsprechender sozialer Zuwendung
bereits die Entstehung jeder Lebensmüdigkeit verhindern soll. Die Entwicklungstendenzen der Intensiv- sowie Palliativmedizin sind für
den akut tödlich erkrankten Menschen freilich von geringem Interesse. In
Zusammenhang mit seiner Erkrankung gibt es nur eine wichtige Frage:
Will er mit seiner Krankheit unter den faktischen Umständen weiterleben
oder leidet er darunter so stark, dass er es vorzieht zu sterben? [...]
Inhalt
1. Einleitung
2.Suizidassistenz in Deutschland
2.1Rechtliche Situation
2.1.1Abgrenzung zu anderen Formen der Sterbehilfe
2.1.2.Grundsatzliche Schwierigkeiten
2.1.3 Exemplarische Falle
2.1.3.1Fall Wittig, Bundesgerichtshofim Jahr 1984
2.1.3.2Fall Hackethal, Oberlandesgericht Munchen im Jahr 1987
2.1.4 Zwischenfazit zur rechtlichen Situation
2.2 Standesethische Situation
2.2.1 Grundsatze und Richtlinien
2.2.2 Zwischenfazit zur standesethischen Situation
3.Philosophische Kritik der Suizidassistenz
3.1 Betrachtung der Argumente gegen eine liberale Handhabung
3.2 Betrachtung der Argumente fur eine liberale Handhabung
4.Fazit und Ausblick
Literatur
1. Einleitung
Der Suizid ist ein altes und zugleich bestandiges Thema der Philosophie. Kant lehnte die Selbsttotung unter Verweis auf eine ,,Pflicht gegen sich selbst" strikt ab1 ; Hume sah die gegenuber dem Suizid vorherrschend ablehnende Haltung seiner Zeitgenossen in einem naturlichen und durch Gewohnheit weiter verstarkten Aberglauben begrundet ;2 fur Seneca war die unvoreingenommene Betrachtung der prinzipiell gegebenen Moglichkeit zur Selbsttotung ein wesentlicher Bestandteil seiner Theorie des guten Lebens 3 ; und Camus war gar der Auffassung: ,,Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord" 4.
Spezifisch prekar wird die Frage nach dem selbstbestimmten Sterben fur Menschen, die in solchem MaR von Krankheit betroffen sind, dass sie keine Aussicht auf Genesung haben, sondern nur auf erhebliches Leiden bis zum schlieRlich ohnehin eintretenden Tod. Die Perspektive Kranker ist dabei nicht die typische Perspektive jener philosophiegeschichtlichen Diskurse, gerade aus ihr aber scheint die Haltung, sterben zu wollen, auf Anhieb leichter zuganglich als aus einer prinzipiellen Perspektive, die etwa suggestiv und pathetisch zugleich die Frage aufwirft, ,,ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht"5, oder, unter welchen Umstanden man aus sittlichen Grunden regelrecht verpflichtet ist, generell nicht mehr am Leben zu hangen .6 So ist der Wunsch nach schnellem Sterben im Fall eines Todkranken bereits intuitiv und vor-philosophisch wesentlich leichter nachvollziehbar als im Fall eines korperlich Gesunden.
Eine solche Situation der terminalen Erkrankung betrifft potentiell jeden. Aufgrund der stetig steigenden medizinischen Moglichkeiten, auch den stark erkrankten menschlichen Organismus noch am Leben zu erhalten, wird ein schneller Tod immer unwahrscheinlicher; das Zeitfenster, in dem die Frage nach dem Sterbewunsch dringlich wird, vergroRert sich entsprechend. Zugleich allerdings verbessert sich die palliativmedizinische Behandlung, die in Verbindung mit entsprechender sozialer Zuwendung bereits die Entstehung jeder Lebensmudigkeit verhindern soll.
Die Entwicklungstendenzen der Intensiv- sowie Palliativmedizin sind fur den akut todlich erkrankten Menschen freilich von geringem Interesse. In Zusammenhang mit seiner Erkrankung gibt es nur eine wichtige Frage: Will er mit seiner Krankheit unter den faktischen Umstanden weiterleben oder leidet er darunter so stark, dass er es vorzieht zu sterben?
Falls er sich fur den Tod entscheidet und nicht fahig oder willens ist, alleine zu sterben, sieht er sich unter den gegebenen rechtlichen Bedingungen in Deutschland allerdings oft mit Hindernissen konfrontiert. Abgesehen von denkbaren moralisch motivierten Missbilligungen seiner Entscheidung - seien sie aus philosophischer Sicht begrundet oder unbegrundet - ist die Selbsttotung als solche zwar rechtlich nicht verboten, der Betroffene ist jedoch in vielen Fallen auf Hilfe angewiesen: sei es aus physischen Grunden - zum Beispiel bei einem Bettlagerigen oder gar Gelahmten -, sei es aus psychischen Grunden, wenn der ernstliche, glaubwurdige und dauerhafte Entschluss zur Selbsttotung aufgrund bestimmter Hemmungen nicht ohne fremde Unterstutzung umgesetzt werden kann .7 Bittet der Sterbewillige nun erfolgreich jemanden, ihn beim Suizid zu unterstutzen, so ergibt sich dadurch eine Verwicklung der assistierenden Person, die philosophisch von besonderem Interesse ist. Denn neben dem, der den Tod wunscht, und seinem Helfer sind schnell der Staat und, je nach Konstellation, auch die Arzteorganisationen involviert, die typischerweise den Handlungs-rahmen der Beteiligten zu Ungunsten einer Entscheidung fur das Sterben des Leidenden einzuschranken beabsichtigen.
Im folgenden darstellenden Teil dieses Aufsatzes soll naher beleuchtet werden, mit welchen faktischen Bedingungen Suizidenten und ihre Unterstutzer zumeist konfrontiert sind. Der letzte Teil des Aufsatzes soll vor diesem Hintergrund eine kurze philosophische Betrachtung des Themas 'Suizidassistenz' bieten; teilweise ist dies nur unter Hinweis auf die jeweils zugrundeliegende generelle Position zum Suizid moglich. Hierbei ist zu bedenken, dass das Ziel einer philosophischen Herangehensweise mit den Mitteln der Abstraktion und der rationalen Ordnung und Kritik zunachst darin bestehen muss, die wesentlichen Fragen zu erkennen und herauszuarbeiten und so einen Beitrag zur klareren Erfassung des Problems zu leisten - dessen definitive Losung mag dahingestellt oder wenigstens aufgeschoben bleiben. Vorerst werden somit lediglich denkbare Grunde fur die eine und gegen die andere Position sowie umgekehrt dargelegt.
2. Suizidassistenz in Deutschland
2.1 Rechtliche Situation
lm Komplex der Sterbehilfe nimmt der assistierte Suizid rechtlich eine be- sonders schwierige Position ein. Zur Abgrenzung soll im Folgenden eine sehr kurze Darstellung der anderen Erscheinungsformen von Sterbehilfe dienen, die in Hinblick auf ihre Legalitat alle vergleichsweise klar einzu- schatzen sind.
2.1.1 Abgrenzung zu anderen Formen der Sterbehilfe
Die sogenannte aktive Sterbehilfe ist die auf Wunsch des Patienten statt- findende direkte und eigenhandige Verabreichung eines todlich wirkenden Mittels durch den Arzt; sie wird nach Paragraph 216 des Strafgesetzbuchs rechtlich eindeutig als Totung aufVerlangen erfasst und mit Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten und bis zu funf Jahren bestraft.8
Werden auf expliziten oder mutmaRlichen (etwa bei Komatosen) Wunsch des Patienten zum Weiterleben notwendige BehandlungsmaR- nahmen abgebrochen, so handelt es sich um die ublicherweise als passi¬ve Sterbehilfe bezeichnete Praxis. Sie ist nach herrschender Rechtspre- chung klar von der aktiven Sterbehilfe abzugrenzen und wird als 'Beistand im Sterben' nicht bestraft .
Verabreicht der Arzt dem Patienten im Rahmen der Schmerztherapie eine ,,arztlich gebotene schmerzlindernde Medikation"9 und sieht dabei so- gar voraus, dass sie als allein hinreichende Ursache den Eintritt des Todes beschleunigen wird, so gilt er als gerechtfertigt und bleibt somit ebenfalls straffrei, wenn geklart ist, dass die Gabe des Medikaments primar der Lin- derung diente. Der schnellere Tod wird also in dieser als indirekte Sterbe¬hilfe bezeichneten Konstellation als eine nicht intendierte - jedoch vorher- gesehene aber als unvermeidlich tolerierte - Nebenfolge der medizinisch indizierten Behandlung angesehen.
2.1.2. Grundsatzliche Schwierigkeiten
Die rechtliche Lage erscheint bei der Assistenz zum Suizid prima facie ahnlich klar wie in den beschriebenen drei Konstellationen: Suizid ist nach deutschem Recht nicht strafbar, und nach Paragraph 27 des deutschen Strafgesetzbuchs kann wegen Beihilfe generell nur bestraft werden, wer jemanden bei einer per se rechtswidrigen Tat unterstutzt (sogenanntes Ak- zessorietatsprinzip)10. 1st die Tat selbst also nicht strafbewehrt, kann auch der Helfer nicht bestraft werden.
Von grower Bedeutung ist jedoch die Frage, wo eine Grenze denkbar ist, an der die bloRe Assistenz endet und der Helfer selbst zum Tater wird. Hier kommt im juristischen Kontext die sogenannte Tatherrschaftslehre zum Tragen. Demnach besitzt - allgemein formuliert - die Tatherrschaft derjenige, der objektiv das Geschehen kontrolliert und den weiteren Ver- lauf maRgeblich bestimmt 11. In Anwendung auf die Beihilfe zur Selbstto- tung ist demnach zu fragen, von wessen Entscheidung es maRgeblich ab- hangt, ob der Tod eintritt oder nicht. Zunachst ist es der Sterbewillige selbst; in einem vorstellbaren Szenario nimmt er etwa den vom Arzt bereit- gestellten Becher mit todlichem Gift entgegen und entscheidet frei, wann - und ob tatsachlich - er das Gift einnimmt, und schlieRlich kann er sogar dann noch, wenn er das letale Getrank schon geschluckt hat, seine Hal- tung andern und den Arzt auffordern, lebensrettend einzuschreiten.
Der fur die strafrechtliche Beurteilung im Sinne des Tatherrschaftsge- dankens wesentliche Wendepunkt ist dann erreicht, wenn der Suizident das Bewusstsein verliert. Nun ist er namlich nicht mehr in der Lage, sei- nen gravierenden Entschluss zu revidieren und seine Rettung zu veranlas- sen. Nach diesem Zeitpunkt hangen eventuell noch mogliche Reanimati- onsversuche allein vom Willen desjenigen ab, der in seiner Nahe ist. Ab diesem Moment des Tatherrschaftswechsels wird der ursprungliche Assis- tent daher selbst als Akteur im Verhaltnis zum weiteren Geschehen ange- sehen. Der bewusstlose Suizident ist in akuter Lebensgefahr; ob eventuell noch mogliche WiederbelebungsmaRnahmen eingeleitet werden oder nicht, liegt allein in der Macht der Anwesenden.
Strafrechtlich besteht in einer solchen als Unglucksfall charakterisierten Situation eine allgemeine Pflicht zur Hilfeleistung - zumindest, sofern ,,den Umstanden nach zuzumuten“12. Wer dieser Verpflichtung nicht nach- kommt, muss laut Paragraph 323c des Strafgesetzbuchs wegen unterlas- sener Hilfeleistung mit einer Geldstrafe oder sogar mit einer bis zu einjah- rigen Haftstrafe rechnen.
Das Strafgesetzbuch enthalt zudem eine Regelung, welche die meisten konkreten Falle der Suizidbeihilfe weiter verscharft: Steht jemand in einer als „Garantenverhaltnis“13 bezeichneten Beziehung zu einem anderen, so ist er weit uber die allgemeine Pflicht zur Hilfeleistung hinausgehend ver- pflichtet, ,,einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgeset- zes gehort“14. Wenn er dieser Verantwortung als Garant nicht nachkommt und sich als Folge eine Situation realisiert, die in ihrem AusmaR der durch eine Handlung hervorgerufenen entspricht, so droht ihm dafur dasselbe StrafmaR wie fur die entsprechende Handlung. Unterlasst er als Garant also jeden Rettungsversuch, tragt er in diesem Sinne die Verantwortung fur den Tod des Suizidenten und muss eine Anklage wegen einer Bege- hung durch Unterlassen befurchten - mindestens wegen Totung auf Ver- langen, was mit einer Freiheitsstrafe von bis zu funf Jahren und wenigs- tens sechs Monaten geahndet wird, eventuell sogar wegen Totschlags ge- maR Paragraph 212 mit mindestens funfjahriger und maximal lebenslan- ger Haft. Der vermeintliche Unterschied zwischen der aktiven Sterbehilfe und der zunachst als nicht strafbar angesehenen Beihilfe zum Suizid ver- schwimmt also unter tatsachlichen Umstanden spatestens bei Vorliegen einer Garantenstellung.
Wann genau eine nach Paragraph 13 des Strafgesetzbuchs so weitge- hend zur Intervention verpflichtende Garantenstellung besteht, ist oft aller- dings nicht klar. Im hier vorrangig relevanten Verhaltnis zwischen Patient und behandelndem Arzt, ebenso bei Ehepartnern und in engen Verwandt- schaftverhaltnissen, beispielsweise zwischen Kindern und Eltern, wird sie nach herrschender Rechtsprechung15 meist angenommen. Unsicher ist je- doch, unter welchen Bedingungen sie eventuell eingeschrankt werden kann. Moglicherweise kann durch eine Verfugung des Sterbewilligen in manchen Fallen der Suizidbeihilfe das Arzt-Patient-Verhaltnis als beendet angesehen werden, so dass keine Garantenpflicht mehr vorliegt.
Aber selbst wenn zwischen Arzt und Suizident kein Verhaltnis besteht, das eine Garantenstellung des Arztes bedeutet, oder wenn der Assistie- rende oder ein nur zufallig Anwesender schlichtweg aus anderen Grunden kein Garant ist, bleibt fur ihn zunachst die Gefahr der unterlassenen Hilfe- leistung bestehen. Fur diese Pflicht wird jedoch eine Grenze des Zumut- baren eingeraumt. Wann genau diese wesentliche und im Gesetz nur vage angedeutete Grenze erreicht ist, bleibt fur den Einzelfall allerdings schleierhaft.16
Die formalen rechtlichen Voraussetzungen schaffen also nur einen gro- ben Rahmen; ob die Pflicht zur Rettung eines Suizidenten im konkreten Fall tatsachlich besteht und damit strafrechtliche Sanktionen moglich sind, sei es wegen der Verletzung einer Pflicht als Garant oder auch nur der all- gemeinen Hilfspflicht, ist fur den potentiellen Akteur prospektiv nur schwer einzuschatzen.
2.1.3 Exemplarische Falle
Im Folgenden soll exemplarisch anhand von zwei einschlagigen Gerichts- urteilen gezeigt werden, wie und unter welchen konkreten Bedingungen uber diese Fragen in der deutschen Rechtsprechung tatsachlich entschie- den wurde. Zu Beginn wird kurz der Sachverhalt geschildert, daran schlieRt sich eine Darstellung der gerichtlichen Beurteilung an, und jeweils separatfolgen einige kritische Anmerkungen zum Urteil .17
2.1.3.1 Fall Wittig, Bundesgerichtshofim Jahr 1984
Gegenuber ihrem Arzt bekraftigt eine18 76-jahrige Patientin wiederholt ihren Sterbewunsch und begrundet ihn damit, dass sie in ihrem Leben seit dem Tod ihres Mannes, der zwei Jahre zuvor gestorben ist, keinen Sinn mehr sehe und aufgrund einer weit fortgeschrittenen Herzerkrankung und star¬ker Gehbeschwerden durch Arthrose befurchte, in einen Zustand der Hilf- losigkeit zu geraten. Zudem hat sie eine Verfugung verfasst, in der sie vor- sorglich fur den Fall, dass sie sich nicht mehr auRern kann und in einer le- bensbedrohlichen Situation ist, alle lebenserhaltenden MaRnahmen ver- neint. Als ihr Arzt mit ihr zu einem Gesprach uber ihre klar ablehnende Haltung verabredet ist, findet er sie in bewusstlosem, aber noch nicht to¬tem Zustand. Aufgrund der gefundenen Medikamentenpackungen erkennt er, dass sie eine todliche Dosis Morphium und Schlafmittel zu sich genom- men hat. Er entschlieRt sich, nichts zu ihrer Rettung zu unternehmen und bleibt bis zu ihrem knapp zwolf Stunden spater eintretenden Tod bei ihr.
Die Staatsanwaltschaft betrachtet den Arzt als Garanten und klagt ihn wegen unterlassener Rettungsversuche derTotung auf Verlangen an. Der Arzt versichert in der Verhandlung, davon ausgegangen zu sein, dass die Patientin nicht mehr zu retten gewesen sei - und wenn doch, dann nur noch mit schweren Dauerschaden; daraufhin spricht ihn das Landgericht frei. Der fur die Revision zustandige Senat des Bundesgerichtshofs ver- zichtet ebenfalls auf Bestrafung, beurteilt den Fall aber differenzierter und bringt in seinem Urteil einige Wertungen zum Ausdruck, die hier von Inter- esse sind:
Der Senat stellt zunachst grundsatzlich fest, dass sich in solchen Fallen der Wille des Patienten nicht wesentlich entschuldigend fur den Angeklag- ten auswirken kann. Dass der Wunsch des Suizidenten (wie im behandel- ten Fall durch eine schriftliche Verfugung) klar dokumentiert ist, andert daran nichts. Somit ist es nach Ansicht der BGH-Richter durchaus mog- lich, dass es sich in dieser Konstellation um Totung (eventuell auf Verlan- gen) durch Unterlassen handelt. Die Garantenstellung wird aufgrund des Arzt-Patient-Verhaltnisses als selbstverstandlich vorausgesetzt. Entschei- dend ist also nur die Antwort auf die Frage, ob es dem Garanten, nach- dem die Bewusstlosigkeit eingetreten ist und der Suizident somit keine Kontrolle mehr uber den weiteren Verlauf hat, im Rahmen des Zumutba- ren noch moglich ist, den Sterbewilligen zu retten. Diese Frage wird hier jedoch nicht als identisch mit der angesehen, ob es - ex post - im be- trachteten Moment medizinisch noch moglich ist, effektive RettungsmaR- nahmen zu beginnen; und ob dies im verhandelten Fall so ist, kann auch durch ein angefertigtes Sachverstandigengutachten nicht eindeutig geklart werden. Somit geht es bei der Frage zur Zumutbarkeit nach Ansicht des Bundesgerichtshofs wesentlich darum, wie der Garant die Situation sub- jektiv einschatzt. Und der angeklagte Arzt vermittelt, dass er, als er seine sterbewillige Patientin bewusstlos findet, nicht glaubt, sie noch retten zu konnen. Fur den von ihm als kontrafaktisch angesehenen Fall einer noch moglichen Rettung nimmt er an, dass dies nur mit gravierenden und blei- benden Schaden fur die Betroffene einherginge und nur mit von ihr - in der Verfugung - klar abgelehnten Mitteln moglich ware. Diese subjektive Einschatzung der Situation sieht der Senat als wohlerwogene Gewissens- entscheidung des Angeklagten und wertet sie als wesentlich entlastenden Grund. Er betont allerdings im entprechenden Passus erneut, dass die schriftliche Willenserklarung der Patientin dabei irrelevant bleibt. Vorrangig ist allein die durchdachte Entscheidung des Arztes.
Als Nachtrag wird im Urteil zudem generell klargestellt, dass im Kontext des Suizids ein zur allgemeinen Hilfeleistung auch ohne Garantenstellung verpflichtender Unglucksfall nicht etwa erst nach dem Tatherrschaftswech- sel besteht, sondern bereits dann, wenn jemand seine Absicht auRert, sich zu toten. Ob sich die Hilfe dabei ex post als zum betrachteten Zeitpunkt aussichtslos zeigt, ist unwesentlich; nur wenn die Hilfe ganz offensichtlich nutzlos ist (etwa beim Gebrauch radikaler Mittel wie Schusswaffen), be- steht keine Verpflichtung mehr. Im betrachteten Fall ist der Arzt jedoch auch in dieser Hinsicht wegen seiner wohlerwogenen Gewissensentschei- dung entschuldigt; sie versetzt ihn in eine Grenzlage, in der ein Eingreifen wider das Gewissen als unzumutbar betrachtet wird.
Der Bundesgerichtshof lasst im dargestellten Urteil offen, wie verlasslich die subjektive Gewissensentscheidung diese Grenze zumutbarer und un- zumutbarer Hilfe markieren kann. Wenn das nicht weiter analysierte, son- dern - metaphorisch gesprochen - als mysteriose und prinzipiell unzu- gangliche 'Blackbox' betrachtete Gewissen des Arztes ihn auch dann von einer Rettung abgehalten hatte, wenn sie aus nachtraglicher medizini- scher Betrachtung noch leicht moglich gewesen ware, hatte der Senat der subjektiven Einschatzung womoglich weit weniger Gewicht zugerechnet. Belastend ware in diesem Fall sicher besonders, dass vom Angeklagten als Arzt generell eine im Vergleich zu einem Laien erheblich genauer zu- treffende Einschatzung der Situation erwartet werden kann. Somit ware unter solchen Bedingungen das Urteil moglicherweise vollig anders aus- gefallen.
2.1.3.2 Fall Hackethal, Oberlandesgericht Munchen im Jahr 1987
19 Kurz bevor die Patientin stirbt, liegt die Diagnose eines Basalioms (einer Krebserkrankung der Haut) in ihrem Gesicht sechs Jahre zuruck. Nach etwa zehn Operationen leidet sie unter offenen Wunden, ihr rechtes Auge ist durch die Erkrankung permanent geschlossen, ihren Mund kann sie nicht mehr vollstandig schlieRen. Die entsprechend infauste Prognose wird nach ihrem Tod noch durch die Obduktion untermauert, bei der sich herausstellt, dass ein ebenfalls vorhandener Tumor in der Oberkieferhohle bereits in die Schadelbasis und die Augenhohle mit ersten Ubergriffen ins Gehirn zu wachsen begonnen hatte. Aufgrund der mit dieser starken Er¬krankung verbundenen erheblichen Schmerzen und der extremen Entstel- lung ihres Gesichts bittet sie den als Befurworter der Sterbehilfe bekannt gewordenen Arzt Julius Hackethal, ihr bei der Selbsttotung zu helfen. Nach wiederholtem Drangen verschafft Hackethal ihr Kaliumcyanid, ein allgemein als Zyankali bekanntes und bereits in geringer Menge todliches Gift, das sie aufgelost in Wasser schlieRlich in seiner Anwesenheit trinkt. Kurz daraufwird sie bewusstlos und ist einige Minuten spatertot.
Da Hackethal ihr als behandelnder Arzt das Mittel zum Suizid zur Verfu- gung stellt und nichts zu ihrer Rettung unternimmt, wird er von der Staats- anwaltschaft wegen Totung auf Verlangen angeklagt. Das Landgericht lehnt jedoch die Eroffnung des Verfahrens ab, wogegen die Staatsanwalt- schaft Beschwerde einlegt. Das in der nachsten Instanz zustandige Ober- landesgericht lehnt die Verhandlung jedoch ebenfalls ab und bezieht - wie der Bundesgerichtshof im oben dargestellten Fall - in seiner Begrundnug einige grundsatzliche Positionen, die hier genauer beleuchtet werden sol- len:
Zunachst folgt der Senat des Oberlandesgerichts der vom Bundesge-richtshof vorgegebenen Traditionslinie und betrachtet die Tatherrschaft als wesentlich, um die bloRe Beihilfe von der Totung auf Verlangen abzugren- zen; subjektive Kriterien wie der Wille des Patienten bleiben prinzipiell ne- bensachlich. Fur den vorliegenden Fall ist der Senat anders als die Staats- anwaltschaft der Ansicht, dass die Patientin das Geschehen bis zu ihrer Bewusstlosigkeit vollig beherrscht. Vorher entscheidet sie sich freiwillig, zum Sterben in die Klinik zu kommen, trinkt aus eigener Kraft das todliche Gift und hat dann noch fur eine gewisse Zeit die Moglichkeit, um Rettung zu bitten. Erst als sie in Ohnmacht fallt, beherrscht nicht mehr sie, sondern der Angeklagte das Geschehen. Da aber in einem Gutachten die Wahr- scheinlichkeit fur eine erfolgreiche Rettung ab diesem Zeitpunkt selbst bei sofortigem Eingreifen aufgrund der starken Vergiftung auf maximal zwei Drittel eingeschatzt wird, kann objektiv nicht sicher davon ausgegangen werden, dass der Angeklagte zum Zeitpunkt des Tatherrschaftswechsels noch effektiv fahig ist, die Suizidentin zu reanimieren. Sein Unterlassen ei- nes Rettungsversuchs - so schlieRlich die weitere Begrundung - ist also nicht sicher kausal fur den Tod, und somit kann Hackethal strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. So weit ahnelt die Herange-
[...]
1 Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Stuttgart: 2000. S. 79 f.
2 Hume, David: On Suicide. In: Ders.: Essays on suicide, and the immortality of the soul, ascribed to the late David Hume. London: 1783. S. 1-22.
3 Seneca, Lucius Annaeus: Ad Lucilium epistulae morales. LXX-CXXIV. Darmstadt: 1987. Brief 70, 5 f. S. 5.
4 Camus, Albert: Der Mythos des Sisyphos. Reinbek bei Hamburg: 2000. S. 11.
5 Ebd.
6 .Daher wird ein Weiser leben, solange er muß, nicht solange er kann“. Seneca: Ad Lucilium epistulae morales. Brief 70, 4. S. 5.
7 Das an diesem Punkt zu diskutierende Problem der Willensschwäche soll hier nicht weiter betrachtet werden.
8 Das Landgericht Ravensburg bewertet sogar einen Fall als passive Sterbehilfe, in dem das Beatmungsgerät der Patientin nicht durch den Arzt, sondern durch den Ehemann abgestellt wurde, also durch eine in die medizinische Behandlung gar nicht involvierte Person. Das Urteil vom 3.12.1986 ist zu finden in: Christoph Conrads/Gabriele Wolfslast (Hrsg.): Textsammlung Sterbehilfe. Berlin (u.a.) 2001. S. 56 ff.
9 Bundesgerichtshof, Urteil vom 7.2.2001, 5 StR 474/00, S. 9. Zu finden unter: "www.bundesgerichtshof.de', dort unter dem Suchbegriff '474/00' (Stand: 17.9.2008).
10 Siehe dazu die Darstellung von Claus Roxin in: Burkhard Jähnke et al. (Hrsg.): Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar. Band 8, ZweiterAbschnitt, Dritter Titel. 11., neu bearb. Auflage, Berlin: 1992-2006. S. 181.
11 Siehe dazu die Darstellung zur Tatherrschaftslehre in: Johannes Wessels: Strafrecht, allgemeiner Teil. 33., neu bearb. Auflage. Heidelberg: 2003. S. 172.
12 Unterlassene Hilfeleistung, Paragraph 323c, Strafgesetzbuch.
13 Wessels, Johannes: Strafrecht, allgemeiner Teil. S. 256.
14 Begehen durch Unterlassen, Paragraph 13, Strafgesetzbuch.
15 Siehe dazu die Darstellung von Hans-Heinrich Jescheck in: Jähnke, Burkhard et al. (Hrsg.): Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar. Band 1, Zweiter Ab schnitt, Erster Titel. 11., neubearb. Auflage, Berlin: 1992-2006. S. 71 ff.
16 Unklar ist hier zudem, ob diese Grenze mit der für die Pflicht des Garanten identisch ist und ihn gegebenenfalls in ähnlicher Weise entlasten kann.
17 Ob die dargestellte Situation allein durch die Rechtsprechung geprägt wurde, die den behandelten Urteilen vorausgeht, oder ob vielmehr diese gegenwärtige Lage (Mitte 2008) wesentlich durch die hier noch darzu stellen den Entscheide selbst konstituiert ist, bleibt aus zwei Gründen schwer zu sagen: Einerseits wird in den Urteilsbegründungen nicht immer ganz klar zwischen neuer Wertung und der Darstellung längst ausgesprochener Urteile getrennt, andererseits ist natürlich besonders für den rechtlichen Laien die gesamte relevante Rechtsprechung nicht zu überblicken.
18 Bundesgerichtshof, Urteil vom 4.7.1984, BGHSt 32, 367. Zu finden in: Conrads/Wolfslast (Hrsg.): Textsammlung Sterbehilfe. S. 6 ff.
19 Oberlandesgericht München, Beschluss vom 31.7.1987. Zu finden in: Conrads/Wolfslast (Hrsg.): Textsammlung Sterbehilfe. S. 35 ff.
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