Mit der Bombardierung der damaligen serbischen Provinz Kosovo, setzten die westlichen alliier-ten Streitmächte unter der Führung der USA 1999 den Kriegen auf dem Staatsgebiet des ehemaligen Jugoslawien vordergründig ein Ende. Etwas, das bei vielen bewaffneten Konflikten eine Art „offizielles Ende“ markiert, fehlte hier jedoch gänzlich: Die Entmachtung der unterlegenen Kriegsgegner, sowie ihre meist öffentlichkeitswirksam inszenierte Verurteilung, die nicht selten mit einem Todesurteil endet. Im ehemaligen Jugoslawien war alles anders: Der politische Führer der bosnischen Serben, Radovan Karadžić, sowie sein militärischer Oberbefehlshaber Ratko Mladić konnten lange Zeit trotz angeblich intensiver polizeilicher und nachrichtendienstlicher Fahndung nicht ausgeliefert werden.
Schon früh machten dagegen Gerüchte in internationalen Medien die Runde, denen zu Folge die beiden Hauptverdächtigen an den mutmasslichen Kriegsverbrechen bei den Belagerungen der Städte Sarajewo und Srebrenica weiterhin auf dem Gebiet von Serbien leben würden. Da lag die Schlussfolgerung nahe, dass beide wohl von ehemaligen politischen und / oder militärischen Weggefährten unterstützt und beschützt würden.
Als Radovan Karadžić 2008 zu einem für viele Beobachter überraschenden Zeitpunkt doch noch verhaftet und an den ICTY ausgeliefert wurde, platzierte dieser eine Behauptung von ungeheu-rer politischer Sprengkraft: Die USA, genauer gesagt ihr Sondergesandter Richard Holbrooke, sollen Karadžić angeblich im Rahmen des Friedensabkommens von Dayton Straffreiheit zugesichert haben. Im Gegenzug dafür sollte sich Karadžić komplett aus der Politik und dem Militär zurückziehen und auch den Parteivorsitz abgeben.
Gewiss: Die Aussage von Radovan Karadžić kann sehr schnell als simple Schutzbehauptung abgetan werden, mit der er darüber hinaus noch die moralische Reputation des ehemaligen Kriegsgegners schädigte. Slavica Vesić konnte zudem starke Verbindungen zwischen der militärischen und politischen Führung der Serben und kriminellen Subjekten und Organisationen nachweisen (Vesić, 2008).
Doch es dauert geschlagene 13 Jahre, bis Radovan Karadžić an das Tribunal in Den Haag ausgeliefert wird. Wieso dauerte dies so lange?
Ein weiterer möglicher Erklärungsansatz wäre der Einsatz Karadžić‘ als Druckmittel, mit dessen Auslieferung sich politische Zugeständnisse seitens der EU erlangen liessen. Und nicht zuletzt sollte auch die Möglichkeit eines Versagens der Fahndungskräfte berücksichtigt werden.
1. INHALTSVERZEICHNIS
2 Einleitung
2.2 Aufbau der Arbeit
3. Historischer Uberblick
3.1. Das Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen
3.2. Jugoslawien wahrend des 2. Weltkrieges
3.3. Das kommunistische Jugoslawien unter Tito
3.4 Die Unabhangigkeitvon Slowenien, Kroatien und Mazedonien
3.5 Der Kriegin Bosnien
4.. Das Verhalten der UNO und der NATO
5 Srebrenica
5.1 Potocari
5.2 Zusammenfassung uber den historischen Uberblick
6. Fallstudie
6.1 Die Fallstudie in der Sozialwissenschaft
6.2. Quellen von Fallstudien (allgemein)
6.3. Verfugbarkeit und Verlasslichkeit der Dokumente
6.4 Expertenbefragung
6.5 Konstruktion der Fragen
6.6 Theoretische Herleitung der Fragen
6.6.1.. Geheimabkommen zwischen den USA und Radovan Karadzic
6.6.2.. Two-Level-Game nach Robert Putnam
6.6.3.. Das diplomatische Verhalten der EU
6.6.4 Die Qualitat der Fahndungsmassnahmen
6.7 Zusammenfassung Fallstudie
7. Konstruktion des Fragebogens
8. Inhaltsanalyse
8.1 Definition der Inhaltsanalyse
8.2. Quantitative vs. qualitative Inhaltsanalyse
8.3. Allgemeines inhaltsanalytisches Modell (nach Mayring)
8.3.1.. Festlegung des Materials
8.3.2.. Analyse der Entstehungssituation
8.3.3.. Formale Charakteristika des Materials
8.3.4 Richtung der Analyse
8.3.5.. Theoretische Differenzierung der Fragestellung
8.3.6 Definition der Analysetechniken und Festlegung des konkreten Ablaufmodells
8.3.7 Definition der Analyseeinheiten
8.4.1 Analyse der Annual Reports: Definitionen
8.4.2 Analyse der Annual Reports: Vorgehen
8.4.3 Analyse der Annual Reports: Zusammenfassungen
8.4.4 Analyse der Completionstrategies: Zusammenfassungen
9 Interviews
9.1. Interviewfragen und Verteilung der Antworten
9.2 Aussagen der Experten
10. Ergebnisse
10.1 Die Suche nach dem Geheimabkommen
10.2 Das Multi-Level-Game Oder: Wieso die Serben auf allen Ebenen falsch spielten
10.3 Das diplomatische Verhalten der EU: Zuckerbrot ohne Peitsche
10.4 Die Qualitat der Fahndung des ICTY
10.5 Fazit
10.6 Hypothesen und Ausblick
11. Anhang
11.1 Fur die Inhaltsanalyse extrahierte Textstellen
11.2 Abkurzungsverzeichnis
11.3 Abbildungsverzeichnis
11.4 Diagrammverzeichnis
11.5 Tabellenverzeichnis
11.6 Verzeichnis der Annual Reports des ICTY
11.7 Verzeichnis der Completion Strategies des ICTY
11.8 Verzeichnis der Resolutionen des UNO Sicherheitsrates
11.9 Verzeichnis der elektronischen Quellen
11.10 Verzeichnis der Filmdokumente
11.11 Literaturverzeichnis.
2. EINLEITUNG
Mit der Bombardierung der damaligen serbischen Provinz Kosovo, setzten die westlichen alliier- ten Streitmachte unter der Fuhrung der USA 1999 den Kriegen auf dem Staatsgebiet des ehema- ligen Jugoslawien vordergrundig ein Ende. Etwas, das bei vielen bewaffneten Konflikten eine Art ,,offizielles Ende" markiert, fehlte hier jedoch ganzlich: Die Entmachtung der unterlegenen Kriegsgegner, sowie ihre meist offentlichkeitswirksam inszenierte Verurteilung, die nicht selten mit einem Todesurteil endet. Im ehemaligen Jugoslawien war alles anders: Der politische Fuhrer der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, sowie sein militarischer Oberbefehlshaber Ratko Mladic konnten lange Zeit trotz angeblich intensiver polizeilicher und nachrichtendienstlicher Fahndung nicht ausgeliefert werden.
Die damalige Chefanklagerin des Internationalen Strafgerichtshof in Brussel, die Schweizerin Carla Del Ponte, versicherte zwar mehrfach, man sei den zwei Gesuchten dicht auf den Fersen, zahlbare Erfolge konnte sie hingegen wahrend ihrer gesamten Amtszeit keine vorweisen.
Schon fruh machten dagegen Geruchte in internationalen Medien die Runde, denen zu Folge die beiden Hauptverdachtigen an den mutmasslichen Kriegsverbrechen bei den Belagerungen der Stadte Sarajewo und Srebrenica weiterhin auf dem Gebiet von Serbien leben wurden. Da lag die Schlussfolgerung nahe, dass beide wohl von ehemaligen politischen und / oder militarischen Weggefahrten unterstutzt und beschutzt wurden.
Als Radovan Karadzic 2008 zu einem fur viele Beobachter uberraschenden Zeitpunkt doch noch verhaftet und an den ICTY ausgeliefert wurde, platzierte dieser eine Behauptung von ungeheu- rer politischer Sprengkraft: Die USA, genauer gesagt ihr Sondergesandter Richard Holbrooke, sollen Karadzic angeblich im Rahmen des Friedensabkommens von Dayton Straffreiheit zugesi- chert haben. Im Gegenzug dafur sollte sich Karadzic komplett aus der Politik und dem Militar zuruckziehen und auch den Parteivorsitz abgeben.
Gewiss: Die Aussage von Radovan Karadzic kann sehr schnell als simple Schutzbehauptung ab- getan werden, mit der er daruber hinaus noch die moralische Reputation des ehemaligen Kriegsgegners schadigte. An der grundsatzlichen Tatsache, dass die jahrelange Flucht und seine angebliche Unauffindbarkeit wohl jedoch nicht ohne Helfershelfer organisiert werden konnte, andert diese Aussage jedoch nichts. Slavica Vesic von der Uni Zurich konnte zudem starke Ver- bindungen zwischen der militarischen und politischen Fuhrung der Serben und kriminellen Sub- jekten und Organisationen nachweisen (Vesic, 2008).
Am 24. Juli 1995 wird gegen Radovan Karadzic und 21 weitere mutmassliche Kriegsverbrecher offiziell Anklage vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag erhoben (Vetter, 2007). Nur wenige Monate nach der Anklageerhebung wird in Paris am 14. Dezember 1995 das Daytoner- Friedensabkommen unterzeichnet. Fur die Serben unterzeichnet President Slobodan Milosevic den Vertrag.
Doch es dauert geschlagene 13 Jahre, bis Radovan Karadzic an das Tribunal in Den Haag ausge- liefertwird. Wieso dauerte dies so lange?
Bei der Eroffnungsrede vor dem ICTY widerholte Karadzic seine Behauptung vom angeblichen Geheimabkommen mit Holbrooke, bzw. den USA. Eine Video-Aufzeichnung mit englischen Un- tertiteln dieser Rede ist auf dem online Video-Portal „YouTube" verfugbar (Johansson, 2008).
Ohne bereits vorgreifen zu wollen, wird die Frage nach einem solchen Abkommen fur diese Un- tersuchung zweifellos von Bedeutung sein. Ohne die Glaubwurdigkeit dieser Aussage bereits beurteilen zu wollen, mussen jedoch auch mogliche alternative Erklarungen berucksichtigt wer- den. An dieser Stelle erwahnt seien die Interessen der offiziellen serbischen Behorden und Insti- tutionen, die moglicherweise unter dem innenpolitischen Druck standen, nicht nach dem Mann zu suchen, der in den Augen vieler serbischer Burger ein Kriegsheld, und nicht ein Kriegsverbrecher war.
Ein weiterer moglicher Erklarungsansatz ware der Einsatz Karadzic' als Druckmittel, mit dessen Auslieferung sich politische Zugestandnisse seitens der EU erlangen liessen. Und nicht zuletzt sollte auch die Moglichkeit eines Versagens der Fahndungskrafte berucksichtigt werden.
2.2 AUFBAU DER ARBEIT
Die Untersuchung wird in der Form einer Fallstudie durchgefuhrt, da sich diese nach Yin beson- ders eignet, um Fragen nach dem „wie?" und dem „warum?" zu beantworten (Yin, 2003).
Begonnen werden soil mit einem historischen Uberblick der Entstehungsgeschichte des Staates Jugoslawiens, sowie den Faktoren, die schliesslich zum Krieg fuhrten.
Besondere Beachtung wird den Ereignissen bei der Belagerung der Stadte Sarajewo und Srebrenica geschenkt Dies deshalb, da es sich dabei um Hauptanklagepunkte im Verfahren gegen Karadzic handelt. So sollen in beiden Stadten systematisch und auf Befehl von Radovan Karadzic' mehrere Tausend zivile muslimische Manner getotet worden sein. Dazu kommen Vorwurfe uber angeblich angeordnete sexuelle Gewalt an Frauen, bis hin zu Massenvergewaltigungen und der Vorwurf der ethnischen Sauberung durch die gezielte Vertreibung der muslimischen Bevolke- rung.
Diesen in der Literatur bereits ausreichend dokumentierten Fakten sollen die Erkenntnisse aus Experteninterviews gegenubergestellt werden. Zusammen mit theoriegeleiteten Uberlegungen sollen so plausible Hypothesen zur Fluchtvon Radovan Karadzic generiert werden.
3. HISTORISCHER UBERBLICK
Aus historischer Perspektive galt die Balkaninsel aufgrund ihrer geographischen Lage schon immer als Schmelztiegel der Kulturen. Eingeklemmt zwischen Westeuropa und Asien, war die Region vielfaltigsten Einflussen ausgesetzt. Wahrend mehreren Jahrhunderten war der Balkan immer wieder Angriffsversuchen von Eindringlingen und Eroberern ausgesetzt. Es war die Funktion als Bindeglied zwischen Ost und West, welche die Gegend so interessant wie umstrit- ten machte. Eine Funktion ubrigens, die der Balkan sowohl kulturell als auch z.B. in Bezug auf Transitrouten bis heute behalten hat (Hosch, 2007).
Topographisch ist das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien unterteilt in vergleichsweise schwer zugangliche Gebirgsregionen und kleine, oftmals isolierte Talschaften. Durch das Fehlen grosse- rer, zusammenhangender Siedlungsraume, die eine Beherrschung der gesamten Region ermog- licht hatten, wurden nationalistische Tendenzen gefordert, wodurch die kulturellen Gegensatze der verschiedenen Volksgruppen kultiviert, manchmal sogar zementiert wurden.
Die vielfaltigen kulturellen Einflusse, von katholischen Christen in Kroatien, uber orthodoxe Christen in Serbien, bis zu den Muslimen im heutigen Bosnien und in Albanien, lassen sich mit der Tatsache erklaren, dass der Balkan wie bereits erwahnt jahrhundertelang ein Transitland war.
In Kombination mit der kleinraumigen Segmentierung, die stets das lokale und nationalistische begunstigte, wurde so die politische Einigung erschwert.
3.1 DAS KONIGREICH DER SERBEN, KROATEN UND SLOWENEN
Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts verstarkten sich die Rivalitaten zwischen der Turkei, Oster- reich-Ungarn sowie Russland um die dominante Vorherrschaft auf dem Balkan. Dieser aussere Druck fuhrte zum ersten Mal dazu, dass sich eine Bewegung etablierte, die die Vereinigung aller sud-slawischen Volker zum Ziel hatte.
Es wurde das sogenannte ,,Jugoslawische Komitee" gegrundet. Ziel dieses Komites war die Schaf- fung eines autonomen, insbesondere von Russland und Osterreich-Ungarn unabhangigen Staa- tes. Der Weg dahin war muhsam und auch von verschiedenen Ruckschlagen und internen Que- relen gepragt, doch am 1. Dezember 1918 wurde allen Widrigkeiten zum Trotz das „Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen" proklamiert (Goldstein, 2007).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
ABBILDUNG 1: KARTE DES KONIGREICHS DER SERBEN, KROATEN UND SLOWENEN, PUBLIZIERT 1919.
ONLINE VERFUGBAR UNTER: HTTP://EN.WIKIPEDIA.ORG/WIKI/FILE:JUGO-SLAVIA,_1919.PNG
Die serbische Dynastie der Karadordevic fuhrte den neuen Staat sehr zentralistisch, was insbe- sondere den Kroaten schnell missfiel. Die generelle Dominanz der Serben im noch jungen Staatsgebilde verstarkte diese Tendenz noch weiter.
Der Kroate Ante Pavelic, von der Kroatischen Partei des Rechts (kroat Hrvatska Stranka Prava, HSP) grundete eine der ersten Widerstandsorganisationen, die „Ustascha". Das deklarierte Ziel der Ustascha war die Vereinigung aller Kroaten in einem eigenen Nationalstaat, dies galt insbe- sondere auch fur die ethnischen Kroaten in Bosnien-Herzegowina. Zusammen mit der IMRO, der 1919 von Todor Aleksandrov neu formierten mazedonischen nationalistischen Widerstandsor- ganisation, wurde der gemeinsame Kampf gegen die verhasste serbische Hegemonie koordi- niert Geschutzt von den Italienern und Ungaren, gipfelte diese Kooperation 1934 in der Ermor- dung von Konig Aleksandar durch den IMRO-Attentater Vladimir Cernozemski in Marseille.
Obwohl der Konig tot war, bestand das Konigreich trotzdem weiter. Gefuhrt wurde der Staat fortan von einem dreikopfigen Gremium. Es anderte sich jedoch weder etwas am autoritaren Kurs, noch an der serbischen Dominanz im Konigreich.
Dieser Umstand fuhrte dazu, dass die Zeit bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges von an- dauernden Rivalitaten zwischen Kroaten und Serben einerseits, und zwischen autoritaren und demokratischen Kraften andererseits gepragt war. Gegen Kritiker des Staates wurde mit Gewalt vorgegangen. Die Staatspolizei sowie die lange Zeit mysteriose Geheimorganisation ,,Die weisse Hand" gingen mit ausserster Brutalitat gegen samtliche Regimegegner vor. Politische Morde und Attentatsversuche kamen ausserst zahlreich vor (Libal, 1996).
Das Ende des Konigreichs kam mit dem zweiten Weltkrieg. Hitlers Streitkrafte besiegten die jugoslawischen Armeen und das gesamte Gebiet wurde (erneut) aufgeteilt: Slowenien ging an Deutschland und Italien, Mazedonien wurde bulgarisch. Serbien schliesslich wurde zwischen Deutschland und Ungarn aufgeteilt und die Provinz Kosovo wurde Albanien einverleibt, welches zu Grossalbanien wurde (Libal, 1996).
3.2 JUGOSLAWIEN WAHREND DES 2. WELTKRIEGES
Das Ende des Konigreichs der Serben, Kroaten und Slowenen bedeutete gleichzeitig das erneute Erstarken der innerjugoslawischen Widerstandskrafte. Sie waren es, die den Kampf gegen die italienischen und deutschen Besatzungsheere koordinierten.
Wieder teilte sich der Widerstand anhand der ethnischen Trennlinien. So gab es:
- Die serbische Tschetnik-Bewegung, Angefuhrt durch Draza Mihajlovic
- Die durch Ante Pavelic angefuhrte kroatische Gruppierung ,,Ustascha"
- Und die Partisanenbewegung von Josip Broz Tito
Allerdings gab es markante Unterschiede zwischen den drei Gruppierungen: Namentlich die Partisanen von Josip Broz Tito verfugten als einzige uber eine stabile, funktionierende Kom- mandostruktur. Des Weiteren hatten sie auch einen politischen Arm, genannt AVNOJ. Dieser rief bereits 1943 eine provisorische Regierung unter der Fuhrung von Josip Broz Tito aus. Hinter den Partisanen und dem AVNOJ stand im Wesentlichen die kommunistische Partei Jugoslawiens, die KPJ. Dies sollte sich spater als entscheidender Schritt fur die Gestaltung der jugoslawischen Nachkriegsordnung herausstellen.
Die KPJ wehrte sich entschieden gegen die ethnische Segmentierung der Slawen auf dem Gebiet Jugoslawiens und strebte explizit den Zusammenschluss aller slawischen Volker in einem eige- nen, multiethnischen Staat an. Tatsachlich gelang es der Partei auch, durch ihre Fokussierung auf die Gleichberechtigung der slawischen Volksgruppen grosse Teile der Wahler hinter sich zu bringen und Zuspruch uber alle ethnischen Grenzen hinweg zu erhalten.
Die Partisanen von Tito kampften gleichzeitig sowohl gegen die Nazis, als auch gegen die Wider- standsbewegungen der Serben und Kroaten, also gegen die Tschetniks und gegen die Ustascha. Dabei erhielten Sie im Laufe des zweiten Weltkrieges Unterstutzung durch die USA und die eu- ropaischen Alliierten. Bemerkenswert sind dabei zwei Dinge:
1. Eigentlich wollten die Alliierten hauptsachlich die Monarchisten von Draza Mihajlovic unterstutzen. Auf der Konferenz von Teheran im Dezember 1943 wird jedoch auf Grund der militarischen Erfolge der Partisanen im Kampf gegen die Deutschen beschlossen, ab sofort auch die Partisanen mit Waffen auszurusten.
2. Die Kommunistische Partei Jugoslawiens verstand es sehr gut, die ideologischen Beden- ken der westlichen Alliierten zu umschiffen. Daher sind weder „Klassenkampf‘, ,,Sturz der burgerlichen Ordnung" noch die Parole vom Sozialismus in den damaligen propa- gandistischen Verlautbarungen der KPJ und ihrer Organisationen zu finden, wie es Slav- ko Goldstein treffend auf den Punktbringt (Goldstein, 2007).
Die Unterstutzung der Alliierten zeigte Wirkung: Die Partisanen konnten die Deutschen ent- scheidend zuruckdrangen. Damit war der Weg frei, fur die Ausrufung des kommunistischen Bundesstaates Jugoslawien. Gegrundet am 29. November 1945 umfasste der Staat die sechs (Voll-) Republiken Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Montenegro. Dazu kamen die beiden Teilrepubliken Vojvodina und Kosovo, die Serbien zugerechnet wurden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
ABBILDUNG 2 DIE SECHS TEILPROVINZEN JUGOSLAWIENS UNTER TITO, ONLINE VERFUGBAR UNTER: http://UPL0AD.WIKIMEDIA.0RG/WIKIPEDIA/C0MM0NS/A/A9/F0RMER_YUG0SLAVIA_MAP.PNG
3.3 DAS KOMMUNISTISCHE JUGOSLAWIEN UNTER TITO
Mit seiner wachsenden Macht wurde Tito jedoch zunehmend kompromiss- und rucksichtslos, Das Versprechen der Demokratisierung war in den Hintergrund geruckt, Stattdessen machte Tito vor allem durch eine rigorose Kontrolle des offentlichen und staatlichen Lebens von sich reden. Die freie Meinungsausserung war eingeschrankt und die Medienzensur dementsprechend stark, Jegliche mutmasslichen oder tatsachlichen Gegner des kommunistischen Regimes wurden gnadenlos verfolgt und meistens verhaftet oder gleich umgebracht Dies galt nach dem Krieg insbesondere auch wieder fur die Gegner aus den Reihen der Tschetniks und der Ustascha,
Einer dieser Gegner war Alija Izetbegovic, der spatere Fuhrer der bosnischen Serben im Bos- nienkrieg, 1946 gehorte er einer Vereinigung namens ,,Junge Moslems" an, Fur sein Engagement zu Gunsten der muslimischen Bevolkerung wurde er zu drei Jahren Gefangnis verurteilt, Es zeig- te sich, dass Titos Fahigkeit zum Zusammenhalt Jugoslawiens zwischen 1945 und 1980 nicht in etwa auf Demokratie und dem Zuspruch der Bevolkerung beruhte. Stattdessen gelang es ihm, mit seinem Charisma die eigenen Anhanger zu begeistern und mit dem Einsatz von Gewalt, die politischen Gegner mundtot zu machen. Damit waren jedoch die politischen Probleme, die sich entlang den ethnischen und religiosen Trennlinien entzunden konnten, keineswegs gelost, son- dern bestenfalls unterdruckt und totgeschwiegen. Wie sehr es unter dem Deckel tatsachlich brodelte, sollte sich aber erstnach Titos Tod am 4. Mai 1980 zeigen.
An die Stelle des Prasidenten trat ein Gremium, welches aus je einem Vertreter der Republiken und Teilrepubliken bestand. Aus den Reihen dieser acht, wahlten die Vertreter jeweils ihren Prasidenten. Dies bedeutete einen Machtzuwachs fur die Provinzen, auf Kosten der Zentralregie- rung in Belgrad. Keiner der Gewahlten vermochte jedoch die Lucke zu fullen, die Tito hinterlas- sen hatte.
Dazu kamen ernsthafte wirtschaftliche Probleme. Von 1963 bis 1985 nahm das jahrliche Wachs- tum des BIP in Jugoslawien auf dramatische Art und Weise ab. Von Rund 8% in den 1960-er Jah- ren auf nur noch 0.6% Anfangs der 1980-er Jahre. Allerdings waren die verschiedenen Republiken in sehr unterschiedlichem Masse davon betroffen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
DIAGRAMM 1 WACHSTUM DES BIP IN JUGOSLAWIEN, 1963 BIS 1985
(SELL, 2002 S. 28]
Die beiden wirtschaftlich vergleichsweise erfolgreichen Republiken im Norden, Kroatien und Slowenien, setzten sich fur eine verstarkte wirtschaftliche Liberalisierung ein, um so ihre Wett- bewerbsfahigkeit erhalten zu konnen. Die armeren Republiken dagegen, setzten auf starkere staatliche Lenkung als Ausweg aus der Krise. Dieser Gegensatz schadigte das Zusammengeho-
rigkeitsgefuhl der verschiedenen Republiken nachhaltig. Jedoch waren nicht nur die verschiede- nen Republiken unterschiedlich betroffen, sondern auch verschiedene gesellschaftliche Schich- ten. Das tiefe Wirtschaftswachstum in der Krise wirkte sich vor allem auf die Arbeiter und einfa- cheren Angestellten aus, was diese noch zusatzlich von dem neuen Regierungsgremium entfern- te. Diese Schicht hatte in den 1980-er Jahren beides verloren: Ihre Wettbewerbsfahigkeit und finanziellen Reserven und auf Grund dessen auch das Vertrauen in die Regierung.
Wie so mancherorts waren auch in Jugoslawien die von der Regierung enttauschten wirtschaftli- chen Verlierer besonders empfanglich fur populistische Stromungen. Slobodan Milosevic ver- dankte seinen spateren Aufstieg ganz wesentlich dieser Schicht (Nikolic, 2002 S. 19).
Nun zeigte sich, dass sowohl im Konigreich der Serben, Kroaten und Slowenen, als auch im Jugoslawien unter Tito ethnische Unterschiede moglichst negiert und entsprechende Stromungen unterdruckt wurden. Der Nationalismus, der bei vielen Balkanvolkern bereits seit langerem rela- tiv stark verbreitet war, wurde jedoch dadurch nicht zum Verschwinden gebracht. So wurden bis zum Tod Titos sehr verschiedene kulturelle Identitaten vor allem mit einer starken Zentral- gewalt in einem gemeinsamen Staatsgebilde zusammengehalten. Dabei stimmten die ethnisch- kulturellen Grenzen nur zum Teil mit den politischen Grenzen uberein.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
ABBILDUNG 3 ETHNISCHE VERTEILUNG UND GRENZVERLAUFE IM EHEMALIGEN JUGOSLAWIEN
ONLINE ALS PDF VERFUGBAR UNTER: http://www.klett.de/sixcms/media.php78/29450_030_031.pdf
Parallel zu den Umwalzungen nach dem Tod Titos in Jugoslawien brach auch die Sowjetunion auseinander. Milosevic setzte alles daran, dass ihn nicht das gleiche Schicksal ereilen wurde. Sein erklartes Ziel war es, einerseits den Kommunismus zu erhalten, andererseits aber auch um jeden Preis Volksaufstande, wie sie sich in den ehemaligen Staaten des Warschauer Pakts ereig- neten, zuverhindern (Krech, 2002 S. 32 - 35).
Kroatien und Slowenien hatten andere Ziele: Politischer und gesellschaftlicher (ethnischer) Plu- ralismus in einem lockereren Staatenbund mit kapitalistisch- marktwirtschaftlicher Wirt- schaftsordnung und Offnung gegenuber dem Westen. So entstand das Potential fur die starke Polarisierung zwischen den verschiedenen Volksgruppen. Die Grundsatzfrage uber die zukunfti- ge Ausrichtung der Wirtschaft sowie der Aufbau einer neuen politischen Ordnung bot zudem ein grosses Profilierungspotential fur neue Parteien.
Die ersten freien Wahlen 1990 besiegelten dann das Schicksal des ehemaligen jugoslawischen Vielvolkerstaates. Nur in Serbien und Montenegro konnte sich die kommunistische Partei noch behaupten. In allen anderen Republiken gewannen ausnahmslos burgerliche Parteien mit natio- nalistischem Fokus (Sundhausen, 1993 S. 124).
Die KPJ konnte ihre Klammerfunktion, die wahrend der gesamten Regentschaft Titos den Staat zusammengehalten hatte, nicht mehr ausuben. Damit wollte sich die Zentralregierung jedoch nicht kampflos abfinden. Im Januar 1991 ordnete sie den Einzug aller Waffen der verschiedenen Territorialstreitkrafte an.
3.4 DIE UNABHANGIGKEIT VON SLOWENIEN, KROATIEN UND MAZEDONIEN
Auf die Ankundigung der KPJ, alle Waffen der Territorialstreitkrafte einziehen zu wollen, rea- gierte Slowenien mit einem Boykott. Aus Angst vor einem Angriff der jugoslawischen Volksar- mee JNA wurden keine Wehrpflichtigen mehr entsandt Stattdessen begann Slowenien mit dem Aufbau einer eigenenArmee, welche Rund 75000 Mann umfassen sollte.
Dies wiederum machte auch aus serbischer Sicht einen gemeinsamen jugoslawischen Staat un- moglich. Folgerichtig brach nur einen Tag nach der formellen Unabhangigkeitserklarung Slowe- niens, am 25. Juni 1991, der Krieg offen aus. Die serbisch dominierte jugoslawische Volksarmee lieferte sich Gefechte mit den slowenischen Territorialstreitkraften (Krech, 2002 S. 36 - 37).
Der Krieg in Slowenien dauerte jedoch nur zehn Tage. Eine weit verbreitete Ansicht daruber ist die, dass die Serben sich aller Wahrscheinlichkeit nach aus strategischen Uberlegungen auf den Krieg in Kroatien konzentrieren wollten. In der Republik Kroatien lebten viel mehr Serben als in Slowenien, dessen Bevolkerung vergleichsweise sehr homogen war. Aufstande oder auch nur politischer Widerstand von ethnischen Minderheiten gegen die Abspaltung gab es deswegen in Slowenien nicht. Bei dieser Ausgangslage erschien den Serben ein Krieg an zwei Fronten als ein nicht lohnenswertes Risiko. Allem Anschein nach machte die Tatsache, dass Slowenien relativ glimpflich davon kam, auch den Mazedoniern Mut. Am 8. September 1991 erklarte sich Mazedo- nien daraufhin in einer Volksabstimmung fur unabhangig. Als einziger ehemaliger Teilrepublik Jugoslawiens gelang Mazedonien die Abspaltung tatsachlich in Frieden. Die Serben (bzw. die JNA) griffen Mazedonien nicht an.
Weitaus dramatischer sollte sich die Lage in Kroatien entwickeln. Hauptgrund dafur war wie bereits erwahnt die ethnische Vielfalt auf dem Gebiet Kroatiens. Franjo Tudman, dessen Partei HDZ die kroatischen Wahlen gewonnen hatte, machte aggressiv Stimmung gegenuber der serbi- schen Minderheit, die bis anhin verfassungsmassig als zweites Staatsvolk gegolten hatte. Tudman jedoch, versprach seinen Wahlern einen unabhangigen kroatischen Staat innerhalb seiner ,,historischen Grenzen". Dieser relativ offen formulierte Anspruch auf Gebiete, die mehrheitlich serbisch bevolkert waren, sowie die Tatsache, dass die Serben in der neuen Verfassung Kroatiens nicht mehr Staatsvolk sonder nur noch anerkannte Minderheit waren, versetzte grosse Teile der serbischen Bevolkerung zuerst in Unruhe, spater in blankes Entsetzen und Angst. Aus dieser Zeit stammt auch eine beruhmt gewordene Geschmacklosigkeit Tudmans, der im Wahl- kampf wiederholt und aus voller Uberzeugung erklarte, ,,Gott sei Dank, sei er weder mit einer Serbin noch mit einer Judin verheiratet."
Die anhaltende Diskriminierung der Serben in Kroatien, sowie die immer aggressivere Rhetorik der HDZ fuhrte bereits im Januar 1991 zu Drohungen der JNA gegenuber Kroatien. Die serbische Minderheit ihrerseits reagierte auf den zunehmenden Druck mit der Unabhangigkeitserklarung der Krajina, einem fast ausschliesslich von Serben bewohnten Gebiet innerhalb Kroatiens.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
ABBILDUNG 4 KRAJINA: MEHRHEITLICH VON SERBEN BEWOHNTES GEBIET INNERHALB KROATIENS ONLINE VERFUGBAR UNTER: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/51/Krajina.png
Zu den ersten Kampfhandlungen kam es bereits im Marz 1991. Die JNA war damals bereits grossmehrheitlich serbisch dominiert. So kampften auf kroatischer Seite ehemalige Mitglieder von Sondereinheiten der Polizei, welche die neue kroatische Armee darstellten, gegen die JNA und bis dato unbekannte serbische paramilitarische Gruppierungen, die zum ersten Mal in Akti- on traten.
In der Hoffnung, eine Eskalation des Konflikts zu verhindern, verhangte die UNO ein rigoroses Waffenembargo gegen alle Republiken des ehemaligen Jugoslawiens. Da die JNA jedoch stark serbisch dominiert war, wirkte sich dies vor allem fur die Kroaten verheerend aus. Die Serben konnten auf die bestehenden Waffen der JNA zuruckgreifen, wogegen die Kroaten gezwungen waren, ihre neue Armee mit illegal beschafften Waffen aufzurusten. Exilkroaten, die auf der gan- zen Welt legal und illegal Waffen kauften und diese uber verschlungene Wege nach Kroatien schmuggelten, bildeten dabei eine wichtige Stutze. Daneben waren aber offensichtlich auch Staa- ten und Geheimdienste in diesen Handel verwickelt. Unter starkem Verdacht diesbezuglich ste- hen insbesondere der Deutsche Geheimdienst BND sowie die ehemalige argentinische Regierung um Prasident Carlos Menem. Menem wurde am 28.11.2008 in Buenos Aires offiziell wegen ille- galer Waffengeschafte unter Umgehung des UNO-Embargos angeklagt. Der BND geriet vor allem deswegen in Verdacht, weil die damalige BRD sich nach dem Ende der DDR verpflichtete, die Waffen der NVA zu beseitigen. Spater tauchten diese im grossen Stil auf kroatischen Schlachtfel- dern wieder auf, waren also offensichtlich nichtverschrottet worden. Weitere Waffen kamen aus der Tschechoslowakei, aus Ungarn und naturlich aus Slowenien (Rathfelder, 2007 S. 348).
Gleichzeitig jedoch wurde der Sezession Kroatiens politisch sehr viel Wohlwollen entgegenge- bracht. Im Januar 1992 war Kroatien bereits von samtlichen (damaligen) Staaten der EG, den USA und dem Vatikan anerkannt.
Durch die internationale Anerkennung Kroatiens und Sloweniens wurde das Waffenembargo gegenuber diesen beiden Staaten aufgehoben und galt von diesem Moment an nur noch fur Ser- bien und fur Montenegro. Montenegro deswegen, weil es die einzig verbliebene Republik neben Serbien war, welche sich fur den Erhalt des ehemaligen Jugoslawiens einsetzte.
Mit dem Ende des Waffenembargos nahm die Intensitat der Kampfhandlungen ab, bis sich die JNA schlussendlich 1992 zum grossten Teil aus Kroatien zuruckzog. Die international von kei- nem Staat anerkannte Serbische Republik Krajina existierte der Form nach noch bis 1995. Bei der Ruckeroberung durch kroatische Truppen 1995 wurde die serbische Bevolkerung dann jedoch durch die Kroaten vertrieben. Der damalige kroatische General Ante Gotovina ist heute einer der Hauptangeklagten vor dem ICTY. Ihm werden ethnische Sauberungen wahrend der ..Operation Storm" sowie andere Kriegsverbrechen, wie die Totung von Zivilisten vorgeworfen (ICTY, 2008).
3.5 DER KRIEG IN BOSNIEN
Wird im Zusammenhang von Radovan Karadzic vom Krieg in Bosnien berichtet, so fallen fruher oder spater die Namen zweier Stadte: Srebrenica und Sarajewo. In beiden Stadten sollen die serbischen Truppen unter Karadzic entsetzliche Kriegsverbrechen begangen haben. Diese Er- eignisse sind heute die schwersten Verbrechen, die Radovan Karadzic vor dem ICTY vorgeworfen werden (ICTY Communications Service, 2008).
Diese mutmasslichen Kriegsverbrechen lassen die gewohnlichen Kriegsereignisse in Bosnien- Herzegowina oftmals in den Hintergrund rucken. Dabei hatten die Serben bereits 1991 etwa einen Drittel der Flache Bosniens unter ihre Kontrolle gebracht und in ihrer eigenen Terminolo- gie ,,befreit" (Rathfelder, 2007 S. 351). Betroffen waren vor allem die landlichen Regionen Drvar und Bosanski Petrovac sowie die Gegend um die westbosnische Stadt Banja Luka. Karadzic er- klarte es jedoch schon fruh zu seinen Zielen, mindestens zwei Drittel des Territoriums von Bos- nien-Herzegowina zu kontrollieren, sowohl militarisch als auch politisch.
Zu diesem Zweck grundete Karadzic im Juli 1990 die bosnische „Serbische Demokratische Par- tei" (SDS). Die SDS sollte die politische Kontrolle sicherstellen. Zum Zweck der militarischen Kontrolle des Gebiets wurde ebenfalls bereits 1990 begonnen, alle Waffen der bosnischen Terri- torialstreitkrafte einzuziehen und in die Kasernen der JVA zu verfrachten. Teile der serbischen Territorialstreitkrafte wurden zusammen mit serbischen Freiwilligen zur neuen ,,Armee der Republik Srpska" umformiert und mit eben diesen Waffen ausgerustet. 1992 umfasste diese Armee bereits rund 42'000 Mann (Rathfelder, 2007 S. 351). Da die kroatischen und die muslimi- schen Soldaten die serbisch dominierte JVA zum grossten Teil freiwillig verliessen, war diese 1992 de facto ebenfalls zur rein serbischen Armee mutiert und wurde am Anfang des Kriegs in Bosnien-Herzegowina dann auch in ,,Jugoslawische Armee" (VJ) umbenannt. Zur VJ und zur Armee der Republik Srpska kamen noch verschiedene weitere paramilitarische Gruppen, die von Warlords gefuhrt wurden und sich fur ublich nicht an irgendwelche Regeln oder Abmachungen gebunden fuhlten. Die bekanntesten darunter waren die ,,Tiger", angefuhrt von Zeljko Raznjato- vic, genannt ,,Arkan", sowie die ebenfalls bereits in Kroatien aktiven ,,Tschetniks" von Vojislav Seselj. Dazu kamen noch Spezialeinheiten, die dem serbischen Innenministerium unterstellt waren, (die sogenannten ,,Roten Barette") sowie mehrere kleinere, praktisch unkontrollierbare Freiwilligenverbande aus Serbien und Montenegro.
Angesichts dieser militarischen Ubermacht wurde von den bosnischen Muslimen die ,,Patrioti- sche Liga" gegrundet, welche Gegenmassnahmen fur den erwarteten serbischen Angriff vorbe- reiten sollte. Staatsprasident Alija Izetbegovic setzte zu diesem Zeitpunkt jedoch noch auf fried- liche Losungen im Rahmen der Diplomatie. So wurde konkret relativ wenig unternommen, um sich im schlimmsten Fall militarisch verteidigen zu konnen. Das immer noch geltende Waffen- embargo zwang die Patriotische Liga, sich auf illegalem Weg Waffen zu beschaffen. Paradoxer- weise kamen viele Waffen von serbischen Zivilisten, denen die Waffen abgekauft wurden. Der Restkam (wie schon im Kroatienkrieg) uber verschlungene Wege aus dem Ausland.
Etwas besser vorbereitet waren die bosnischen Kroaten. Schon im Sommer 1991 wurde begonnen, militarische Ausrustung aus Kroatien in den westlichen Teil Bosnien-Herzegowinas zu ver- schieben. Bei Kriegsbeginn bestanden die Truppen der bosnischen Kroaten aus rund 25'000 passabel ausgerusteten Soldaten und Freiwilligen.
Zwischen Oktober 1991, als die Serben das bosnische Parlament verlassen hatten und stattdes- sen die (von niemandem ausser Serbien anerkannte) Republik Srpska mit der Hauptstadt Banja Luka ausriefen, und dem Fruhjahr 1992 kam es immer wieder zu kleineren Scharmutzeln und spontanen Gewaltausbruchen zwischen den serbischen Truppen und der Zivilbevolkerung. Als die EG und die USA jedoch am 6. April 1992 Bosnien-Herzegowina als (vor allem von Serbien) unabhangigen Staat anerkannten, breiteten sich die Kampfhandlungen sofort uber das ganze Land aus. Nur drei Tage zuvor hatte auch Alija Izetbegovic die Hoffnung auf eine friedliche Lo- sung aufgegeben und die Generalmobilmachung seiner Territorialstreitkrafte verfugt (Koslowski, 1997 S. 21).
Am 8. April 1992 begannen die Bombardierung und der Artilleriebeschuss Sarajewos durch die Serben. Innert sehr kurzer Zeit eskalierte der Konflikt dramatisch. Der Norden Bosniens war schnell zu einem grossen Teil unter totaler serbischer Kontrolle. Der grosste Teil der dortleben- den bosnischen Muslime wurde vertrieben. Unter diesem Druck stehend, schlossen sich die bos- nischen Kroaten und die bosnischen Muslime am 20. Mai 1992 offiziell zusammen und grunde- ten die bosnische Armee. Dabei handelte es sich jedoch um ein reines Zweckbundnis, welches eigentlich nur durch den gemeinsamen serbischen Feind am Leben gehalten wurde. Je langer der Krieg dauerte, desto starker verfolgten die beiden Partner wieder ihre eigenen nationalistischen Interessen. Insbesondere die bosnischen Kroaten, welche wesentlich von Zagreb gesteuert wa- ren, wechselten mehrfach ihre Strategie und riefen schliesslich selber einen kroatischen Staat auf dem Gebiet Bosnien-Herzegowinas aus, die ,,Kroatische Gemeinschaft Herceg-Bosna".
Die Jahre 1992 bis 1995 waren gepragt von sich verandernden Allianzen, unterschiedlichen Frontverlaufen und mal starkerem, mal schwacherem Einfluss der serbischen, bzw. kroatischen Regierungen in Belgrad und Zagreb auf ihre jeweiligen Volksgruppen in Bosnien-Herzegowina. Der Krieg hinterliess das, was umgangssprachlich gemeint ist, wenn von einem ,,Chaos" gespro- chen wird. Der noch sehr junge Staat Bosnien-Herzegowina schien in samtlichen Bereichen zu zerfallen. Wirtschaftlich, politisch und militarisch. Es waren dies auch die Jahre, in denen von allen Kriegsparteien mutmasslich die schlimmsten Kriegsverbrechen begangen wurden. Es kam bei alien Kriegsparteien zu „ethnischen Sauberungen". (Der Begriff wurde im deutschen Sprach- raum erst durch den Jugoslawien-Krieg gepragt. 1992 wurde er von der Gesellschaft fur Deutsche Sprache zum ,,Unwort des Jahres" gewahlt.) Organisierte Vergewaltigungen zeigen die bei- spiellose Zugellosigkeit der Soldaten, wurden aber auch gezielt als Mittel zur Demoralisierung der feindlichen Volksgruppen eingesetzt. Und: Es gab wieder Konzentrationslager in Europa.
4. DAS VERHALTEN DER UNO UND DER NATO
Der Burgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien traf die Weltgemeinschaft unvorbereitet. 1991 be- endete eine internationale Koalition unter der Fuhrung der USA den zweiten Golfkrieg und ver- trieb Saddam Husseins Truppen aus Kuwait. Die Einigkeit, mit welcher der UN-Sicherheitsrat nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gegenuber dem Irak auftrat, starkte seine Hand- lungsfahigkeit. Allenthalben wurde die Erwartung geaussert, dass die UNO nun (endlich) in der Lage sei, die ihr zugedachte Rolle zur Eindammung internationaler Konflikte wahrzunehmen. Der Krieg in Jugoslawien zeigte aber deutlich, dass die UNO mit einem zerstrittenen Sicherheits- rat kaum etwas ausrichten kann, insbesondere dann nicht, wenn sich nicht klar trennbare Kon- fliktparteien gegenuberstehen. Die Tatsache, dass mit Russland ein dezidierter Verbundeter Serbiens im Sicherheitsrat Vetorecht geniesst, fuhrte zu einer schwer uberbruckbaren Blockade.
Die erste Handlung der UNO im Zusammenhang mit dem Krieg in Jugoslawien war die Verab- schiedung der Resolution 752 am 15. Mai 1992 (Security Council, 1992). In dieser Resolution druckte der Sicherheitsrat seine Besorgnis uber den Krieg aus und mahnte die Kriegsparteien, insbesondere die JVA, sich aus Bosnien-Herzegowina zuruckzuziehen. Resolution 757, verab- schiedet am 30. Mai 1992, ging einen Schritt weiter. Sie beinhaltete wirtschaftliche Sanktionen gegen die Federal Republic of Yugoslawia (Security Council, 1992).
Bis zum Ende des Krieges war es die Strategie der UNO, den Konflikt mit Vermittlungsversuchen und Wirtschaftssanktionen zu beenden. Nach der Resolution 757 kamen noch weitere, ver- scharfte Resolutionen, die jedoch alle nicht den gewunschten Effekt hatten. Das Wirtschaftsem- bargo belastete vor allem die Zivilbevolkerung. Das Ziel, die militarische Schlagkraft der JVA zu verringern, blieb unerreicht Stattdessen wurde der prozentuale Anteil der Rustungs- und Mili- tarausgaben am Gesamtetat der jugoslawischen Staaten immer grosser. Dadurch fehlte Geld fur die staatliche Infrastruktur, was wiederum hauptsachlich der Zivilbevolkerung schadete.
Neben den Wirtschaftssanktionen, die die Armee schwachen sollten, aber die Zivilbevolkerung trafen, bestand die zweite Strategie der UNO aus dem Entsenden von Peacekeeping-Truppen. Die UNPROFOR, war ab Marz 1992 im Einsatz. Es war eine Blauhelmtruppe, welche ausschliess- lich aus zivilem oder nur leicht bewaffnetem Personal bestand. Problematisch an dieser Aus- gangslage ist die Tatsache, dass die UNPROFOR als peacekeeping - Truppe in ein aktives Kriegs- gebiet entsandt worden war. Es gab keinen Frieden, den man hatte bewahren konnen. Tatsach- lich wurde das Mandat der UNPROFOR wahrend des Kriegsverlaufs mehrfach uberarbeitet und erweitert Insbesondere die Lander, welche grossere Truppenkontingente stellten, beharrten jedoch darauf, dass die UNPROFOR-Truppen nicht dazu autorisiert waren, aktiv in die Kampf- handlungen einzugreifen, sondern Gewaltanwendung nur zur Selbstverteidigung zulassig sei.
Doch selbst klassische Peacekeeping-Aufgaben, wie z.B. die Organisation und Bewachung von Hilfslieferungen an die Zivilbevolkerung, vermochte die UNPROFOR nur unzureichend zu ge- wahrleisten. Ab dem Fruhling 1993 begannen die USA aus diesem Grund damit, die von der Aus- senwelt und den Hilfslieferungen abgeschnittene Bevolkerung in Bosnien-Herzegowina aus der Luft zu versorgen.
Gleichzeitig wurde auch versucht, mit einer erneuten Anpassung des Mandats fur die UNPROFOR die humanitaren Ziele der UN-Blauhelme doch noch zu erreichen. Durch die Resolution 824 (Security Council, 1993) wurden Sicherheitszonen definiert. Diese umfassten die Stadte Srebrenica, Gorazde, Zepa, Bihac und Sarajewo. In diesen Zonen sollte die muslimische Zivilbevolkerung Schutz finden. Rund einen Monat spater, am 4. Juni 1993, verabschiedete der Sicherheitsrat dann die Resolution 836, welche es der UNPROFOR fortan gestattete, Angriffe auf die Sicherheitszonen mit Waffengewalt abzuwehren (Security Council, 1993).
Doch die kleine, kaum bewaffnete Truppe war weder willens, noch fahig, die „Sicherheitszonen" wirklich zu dem zu machen, was der Name suggeriert.
Die Emporung der Weltoffentlichkeit uber die (in ihren Augen nahezu ausschliesslich) von den Serben begangenen Graueltaten, kombiniert mit der eklatanten Wirkungslosigkeit der UNPROFOR, veranlasste im Sommer 1993 die NATO, sich der Sache anzunehmen. Angefragt von der UNO, sich mittels Kampfflugzeugen am Schutz der Sicherheitszonen zu beteiligen, lehnte die NATO allerdings zuerst ab. Als die Serben am 5. Februar 1994 eine 120mm - Morsergranate mitten auf den Markale-Martkplatz in Sarajewo schossen und dabei 68 Zivilisten zerfetzten, gin- gen jedoch solch grauenhafte TV-Bilder um die Welt, (Arte, 1995) dass sich der Nordatlantikrat dazu entschloss, den Serben ein Ultimatum zu stellen. Die Serben sollten alle schweren Waffen im Umkreis von 20km um Sarajewo abziehen oder der Kontrolle der UNPROFOR ubergeben, andernfalls wurde die NATO serbische Stellungen bombardieren (Rathfelder, 2007 S. 358).
Auch dank der Vermittlung von Boris Jelzin wurde das Ultimatum von den Serben mehrheitlich eingehalten, so dass sich die Situation in Sarajewo fur die Zivilisten verbesserte. In anderen Re- gionen hielten die Massaker aber unvermindert an, so dass sich die NATO am 22.04.1994 ge- zwungen sah, auch die restlichen UN-Sicherheitszonen unter ihren Schutz zu stellen. Insgesamt flog die Nato daraufhin zwischen Februar 1994 und August 1995 elf Angriffe gegen serbische Stellungen in Bosnien. Trotzdem gelang es der NATO nicht, die Belagerungsringe rund um die
Schutzzonen zu durchbrechen. Ohne Bodentruppen, dies wurde je langer je offensichtlicher, wurden sich die Serben nicht stoppen lassen. Zudem zeigte sich ein taktisches Problem: Stadte, in denen UNPROFOR-Blauhelme stationiert waren, konnten nicht durch die NATO bombardiert werden. Die Blauhelme dienten den Serben als menschliche Schutzschilde. Einige wurden sogar von den Serben als Geiseln genommen und in der Nahe militarischer Anlagen und Munitionsde- pots festgehalten, um sicher zu gehen, dass die NATO diese nicht bombardieren wurde (Althof, etal., 1995).
Weder die UNPROFOR, noch die NATO war fahig, die Serben im Juli 1995 daran zu hindern, die Sicherheitszone rund um Srebrenica zu uberrennen und die Stadt einzunehmen.
5.SREBRENICA
Srebrenica ist eine Stadt im Osten des heutigen Bosnien-Herzegowinas, nahe der Grenze zu Ser- bien. Wahrend des Kriegs suchten tausende bosnischer Muslime in der Stadt Zuflucht. Die Be- volkerung nahm in Srebrenica aus diesem Grund zwischen 1991 und 1993 von Rund 6'000 Men- schen auf ca. 50'000 zu. Vom 11. Bis zum 13. Marz 1993 besuchte der damalige UNPROFOR- Kommandant Philippe Morillon die Stadt. Die Situation in Srebrenica war zu diesem Zeitpunkt bereits ausserst kritisch: Strom- und Wasserversorgung funktionierten nicht mehr, Nahrungs- mittel waren ebenso knapp wie Medikamente und es gab bei weitem nicht genugend Unterkunf- te. Erschuttert durch das gesehene, erklarte Morillon offentlich, dass Srebrenica unter den Schutz der UNO gestellt werden wurde. Nur drei Tage spater, am 16. April 1993, verabschiedete der Sicherheitsrat die Resolution 819, die alle Kriegsparteien dazu aufforderte, die Region um Srebrenica als Schutzzone zu akzeptieren (Security Council, 1993). Der Sicherheitsrat verstarkte den Schutz von Srebrenica mit zwei weiteren Resolutionen (824 und 836) noch zusatzlich. Resolution 836 vom 4. Juni 1993 erlaubte dabei auch die Anwendung von Waffengewalt der UNPROFOR-Soldaten zur Selbstverteidigung (Security Council, 1993).
Tatsachlich fuhrte die Einrichtung dieser Schutzzone und die darauffolgende Entsendung von niederlandischen UN-Soldaten zu einer Verbesserung der Situation. Mehr jedoch nicht. Die Serben hielten sich wahrend rund zweier Jahre daran, Srebrenica nicht anzugreifen, hielten aber gleichzeitig den Belagerungsring um die Stadt aufrecht und bedrohten auch widerholt Hilfskon- vois oder gar UNPROFOR-Truppen. Etwa ab Marz 1995 registrierten die UNPROFOR-Truppen verstarkte Anstrengungen der Serben in der Vorbereitung eines grossen Angriffs. Zudem erliess Radovan Karadzic Anfang Marz 1995 die sogenannte ,,Direktive 7", in welcher er unmissver- standlich forderte, Zitat: ,,durch gutgeplante und durchdachte MUitaroperationen eine unertragli- che Lage voUiger Unsicherheit in der Schutzzone herbeizufuhren, die den Eingeschiossenen keine Hoffnung auf ein Uberieben in der Schutzzone iasst" (ICTY, 2004 S. 33). Diese Anordnung von Karadzic ist heute einer der starksten Beweise fur seine Verantwortung an den Kriegsverbrechen in Srebrenica, den die Anklage am ICTY gegen Karadzic ins Feld fuhrt. So kam es schliesslich, dass am 09. Juli 1995 sowohl die serbische Armee als auch diverse Warlords mit ihren Truppen nur noch einen Kilometer vor der Stadt standen. Von einem einzigen serbischen Panzer abgese- hen, welcher von NATO Truppen beschossen wurde, gab es keinen Widerstand gegen den serbischen Vormarsch. Stattdessen reagierten die Serben auf den Beschuss des Panzers mit einer neuen Drohung: Sollte die Bombardierung durch NATO-Einheiten anhalten, so wurden die Serben alle UNPROFOR-Soldaten toten, die sie bis dahin als Geiseln genommen hatten und gleich- zeitig wurden sie gezielt die Fluchtlingslager in der Stadt beschiessen. Die Tatsache, dass eine regulare Armee (und nicht etwa nur die Warlords) offen mit der Totung von zivilen Fluchtlingen (und damit einem Kriegsverbrechen) drohte, sagt einiges aus uber das Selbstverstandnis der serbischen Armee zu diesem Zeitpunkt.
Doch auch diese Drohung anderte nichts Entscheidendes am Verhalten der UNPROFOR- Truppen. Die serbischen Truppen konnten die Stadt ungehindertunter ihre Kontrolle bringen.
5.1 POTOCARI
Nachdem Srebrenica vollstandig durch die Serben eingenommen wurde, flohen grosse Teile der eingeschlossenen Menschen nach Potocari. Die Ortschaft liegt etwa sechs Kilometer nordwest- lich von Srebrenica und gehorte noch zur Schutzzone. Hier befand sich auch die Basis der Blau- helmtruppen und die Menschen versuchten, auf deren Gelande Schutz zu finden.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
ABBILDUNG 5 DIE MILITARISCHEN AKTIVITATEN WAHREND DES MASSAKERS VON SREBRENICA
ONLINE VERFUGBARUNTER: Http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/0/00/Srebrenica_zepa_july_1995_german.jpg
Der Zustrom von Fluchtlingen nach Potocari riss nicht ab. Am Abend des 11. Juli 1995 befanden sich bereits mehr als 20‘000 Fluchtlinge in der Kleinstadt. Das eigentliche Massaker - zentraler Anklagepunkt gegen Radovan Karadzic - begann einen Tag spater. Am 12. Juli begannen serbi- sche Einheiten in die Menge zu schiessen. Panik breitete sich aus. Am nachsten Morgen machten Geruchte von Vergewaltigungen die Runde.
Die wehrfahigen Manner wurden bereits wahrend des ganzen Tages ausgesondert und in leer stehenden Fabriken etwas abseits gefangen gehalten. Die Frauen, Kinder und alteren Leute wurden mit Bussen auf Serbisch kontrolliertes Gebiet gefuhrt und an verschiedenen Orten inter- niert. Zwischen dem 13. Juli und dem 21. Juli wurden dann schliesslich der allergrosste Teil der bosnischen Manner exekutiert. Die genaue Zahl der Getoteten wird sich nicht mehr rekonstruie- ren lassen. Die Offizielle Statistik spricht von 7079 „Vermissten", in Medienberichten wird oft von ,,bis zu 8000" gesprochen (Vetter, 2007 S. 564). Die offizielle Anklageschrift gegenuber Radovan Karadzic ist diesbezuglich zuruckhaltender und spricht nur von ..Numerous Bosnian Muslims" (ICTY, 2000 S. 7). Auch wenn die exakte Zahl nicht bestimmbar scheint, so gelten die Er- eignisse in Srebrenica und Potocari doch als unbestritten. Es existieren neben Zeugenaussagen auch zahllose Foto- und Videoaufnahmen.
Die Ereignisse in Srebrenica sind bis heute die schlimmsten Kriegsverbrechen, die seit dem zweiten Weltkrieg in Europa begangen wurden.
Trotzdem soll nicht der Eindruck erweckt werden, dass Kriegsverbrechen nur auf Seiten der Serben begangen worden sind. Sei es die Kosovo-albanische U£K oder die kroatischen Kampfer unter Ante Gotovina: Alle Parteien haben Kriegsverbrechen begangen. So ist es denn auch folge- richtig, dass mit dem ICTY eine Institution geschaffen wurde, die fur alle auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens begangenen Kriegsverbrechen zustandig ist.
Im Hinblick auf die Fragestellung nach den Grunden der jahrelangen Nicht-Auslieferung Karadzic' wird jedoch auf eine weitere exemplarische Darstellung von serbischen und nicht- serbischen Kriegsverbrechen verzichtet.
5.2 ZUSAMMENFASSUNG UBER DEN HISTORISCHEN UBERBLICK
In allen Epochen des jugoslawischen Staates kam es zu Machtkampfen zwischen den verschiedenen Volksgruppen um die dominante Stellung im Staat. Seit jeher waren dabei insbesondere die Serben und Kroaten die starksten Konkurrenten um die Vorherrschaft. Es waren externe Bedrohungen, die die multiethnischen Staatsgebilde Konigreich der Serben und Kroaten sowie Jugoslawien unter Tito entstehen liessen. Selbst diese externen Bedrohungen vermochten die Volker jedoch nicht vollends zu einen und so kam es in beiden Fallen wiederholt zu gewalttati- gen Auseinandersetzungen. Die Machthaber reagierten darauf mit harter Repression, Gewalt und Einschuchterung und vermochten so, den schwelenden Konflikt unter Kontrolle zu halten. Allerdings wurden dadurch auch verschiedene Widerstandsorganisationen in den Untergrund getrieben. Insbesondere verschiedene paramilitarische Organisationen, welche im Jugoslawien- krieg kampften, bestanden schon vor dem Krieg und fullten das Machtvakuum, welches nach dem Tod Titos entstanden war.
6. FALLSTUDIE
In diesem Abschnitt wird das methodische Vorgehen der Fallstudie erlautert. Es soll aufgezeigt werden, welches die typischen Elemente und Verfahrensweisen der Fallstudie sind, fur welche Untersuchungsgebiete sie sich eignetund welche Probleme zu beachten sind.
6.1 DIE FALLSTUDIE IN DER SOZIALWISSENSCHAFT
Die moglichen Anwendungsgebiete der Fallstudie (auch „Einzelfallstudie", ,,Case Study" oder „Fallanalyse" genannt) sind vielfaltig. Die Fallstudie kann als Mittel zur Erforschung einer Person, Gruppe, Organisation oder sogar ganzer Gesellschaften verwendet werden. In Fallstudien konnen Hypothesen uberpruft oder generiert werden (Schnell, et al., 1999 S. 237).
Die vorliegende Fallstudie soll Hypothesen generieren. Zur Generierung der Hypothesen sollen unterschiedliche Quellen verwendet werden; insbesondere aber offizielle Dokumente des ICTY, des UN-Sicherheitsrat, oder anderer, direktin den Fall Karadzic involvierter Organisationen und Behorden.
Im zweiten Teil der Fallstudie schliesslich, wird mit der Methode des „Experteninterviews" ge- arbeitet. Diese Methode wird spater ausfuhrlich vorgestellt. Die Experten werden dabei als Quellen betrachtet, deren analytische Auswertung kombiniert mit der Auswertung schriftlicher (oder elektronischer) Quellen zur Generierung der Hypothesen fuhrt.
6.2 QUELLEN VON FALLSTUDIEN (ALLGEMEIN)
Nach Yin existieren sechs typische Arten von Quellen, die fur Fallstudien verwendet werden konnen. Sie zeichnen sich durch jeweils typische Starken und Schwachen aus (Yin, 2003). Eine Ubersicht uber die relevanten Arten von Quellen, gibt Tabelle 1.
(Yin, 2003 S. 86)
Betrachtet man diese sechs typischen Arten von Quellen, wie sie fur Fallstudien ublicherweise verwendet werden, so ist schnell klar, dass, wenn uberhaupt, fur die vorliegende Fragestellung nur die drei erstgenannten in Betracht kommen. Beobachtungen (observation) machen naturlich gar keinen Sinn, da die Flucht von Radovan Karadzic bereits zu Ende ist. Allenfalls liesse sich argumentieren, dass beispielsweise die Beobachtung der Arbeitsweise des serbischen (oder anderen) Geheimdienstes auch zum jetzigen Zeitpunkt noch Ruckschlusse auf die Organisation der Flucht und des Lebens im Untergrund zulassen wurde. Dies ist jedoch ziemlich spekulativ, da es nicht auszuschliessen ist, dass diese Arbeitsweisen geandert wurden, gerade weil sie im Falle Karadzic ruckblickend betrachtet nicht dauerhaft erfolgreich waren. Mal vollig davon abgesehen, dass Geheimdiensten ublicherweise nicht einfach so bei der Arbeit zugesehen werden kann. Das gleiche gilt naturlich auch fur Karadzic' Hascher und erst recht fur nichtstaatliche, meist rechts- frei operierende paramilitarische Organisationen. Es bleiben also bereits bestehende Dokumen- te und Interviews ubrig.
6.3 VERFUGBARKEIT UND VERLASSLICHKEIT DER DOKUMENTE
Die wichtigsten verwendeten Dokumente fur diese Untersuchung stammen allesamt vom ICTY selbst. Es handelt sich um die ,,Annual Reports", die von 1994 bis 2008 jahrlich vom ICTY an den UN-Sicherheitsrat ubermittelt wurden. In diesen Berichten wird detailliert uber die Arbeit des ICTY im jeweils vergangenen Jahr Rechenschaft abgelegt. Die Berichte sind allesamt als PDF- Download auf der Website des ICTY verfugbar. Die Verfugbarkeit kann uneingeschrankt als her- vorragend bezeichnet werden. Gleiches gilt auch fur die Assessments der ..Completion Strategy", einem ab Mai 2004 jeweils halbjahrlich vom ICTY an den UN-Sicherheitsrat ubermittelten Be- richt, in welchen explizit auf die ergriffenen und noch zu ergreifenden Massnahmen eingegangen wird, die notig sind um die vom Sicherheitsrat definierten Ziele des ICTY zu erreichen. Die Assessments der ..Completion Strategy" gehen auf die Resolution 1543 des Sicherheitsrats zuruck (Security Council, 2004).
Die Glaubwurdigkeit dieser Quellen ist hoch. Insbesondere die uneingeschrankte Veroffentli- chung der Dokumente und die damit erreichte Transparenz, welche auch eine kritische Betrach- tung der Ergebnisse ermoglicht, sprechen fur die Glaubwurdigkeit der Dokumente. Gleichzeitig darf jedoch eine eingeschrankte Objektivitat nicht ausgeschlossen werden, verfolgte der ICTY doch augenfallig ein Ziel. Dieses Ziel - die Verhaftung von Radovan Karadzic - hatte sich unter Umstanden leichter erreichen lassen, wenn der Sicherheitsrat politischen, militarischen oder wirtschaftlichen Druck auf Serbien oder andere Staaten (inklusive der international nicht aner- kannten Republik Srpska) ausgeubt hatte. Dies wurde darauf hindeuten, dass der ICTY ein Inte- resse gehabt haben konnte, in seinen Berichten andere Akteure negativ zu bewerten. Gleiches gilt fur den Fall, dass der ICTY von eigenem Versagen hatte ablenken wollen.
Auch mit diesen Einschrankungen kann jedoch gesagt werden, dass die Glaubwurdigkeit hoch ist, insbesondere beispielsweise im Vergleich zu Informationen von Geheimdiensten oder politischen und wirtschaftlichen Akteuren, die dem Gesuchten nahe stehen oder standen.
6.4 EXPERTENBEFRAGUNG
Der Fragebogen soil theoriegeleitet sein. Die Theorien (Rival Explanation) beziehen sich auf ver- schiedene Grundannahmen:
1. Abkommen USA / Karadzic
2. Multi-Level Game
3. Das diplomatische Verhalten der EU
4. Qualitat der Fahndung / Einsatz ICTY
Interviews gehoren zu den wichtigsten Instrumenten der Sozialwissenschaften. Ihre Handha- bung und Methodik unterscheidet sich jedoch teilweise stark, je nach Einsatzgebiet. Die zwei wichtigsten Unterscheidungskriterien beziehen sich auf den Grad der Strukturierung und die Tatsache, ob es sich um eine Einzelbefragung oder eine Gruppenbefragung handelt. Bei Perso- nen, die aufgrund ihrer Sachkenntnis als Experten bezeichnet werden konnen, bietet sich die Einzelbefragung an. Der Grad der Strukturierung wiederum, ist stark abhangig von der ge- wunschten Form der Auswertung der Interviews. Bei Experten, die per Definition uber spezifi- sches, vertieftes Wissen in einem konkreten Sachbereich verfugen, das der Allgemeinheit nicht im selben Masse zuganglich ist, sind offene, unstrukturierte Interviews moglich. Sie bieten den Vorteil, dass dem Experten grosstmogliche Freiheiten bei der Beantwortung der Fragen gegeben werden. Dabei konnen auch Themen oder Teilaspekte behandelt werden, die zu Beginn des Ge- sprachs durch den Interviewer nicht geplant oder beabsichtigt waren. Fur den Interviewer be- deutet diese Situation den Vorteil, dass er auch zu unerwarteten, uberraschenden Antworten gelangen kann. Gleichzeitig sind diese Interviews im Vergleich zu starker strukturierten Varian- ten jedoch ausserst problematisch bezuglich ihrer quantitativen Auswertungsmoglichkeiten.
Bei Fragen mit offenen Antwortmoglichkeiten (also ohne vorgegebene Antworten, die zur Aus- wahl stehen) mussen im Nachgang der Befragung Kategorien mit den dazugehorigen Merk- malsauspragungen gebildet werden. In aller Regel mussen hierbei auch wieder Zusammenfas- sungen von Antwortmustern vorgenommen werden, um eine quantitative Auswertung uber- haupt moglich zu machen (Schnell, etal., 1999 S. 310).
Dem Vorteil, dass man bei einer offenen, unstrukturierten Interviewsituation bei der Experten- befragung aus dem Vollen schopfen kann, steht also ein grosser Nachteil bezuglich der Auswert- barkeit entgegen. Als goldener Mittelweg zwischen den beiden Extremvarianten ,,offen und strukturlos" beziehungsweise „stark strukturiert mittels standardisiertem Fragebogen" hat sich das sogenannte ,,Leitfadeninterview" bewahrt. Bei dieser Variante hat der Interviewer die Moglichkeit, die Abfolge der Fragen dem Verlauf des Gesprachs anzupassen, ist jedoch gleichwohl angehalten, den gesamten Fragebogen innerhalb des Gesprachs abzuarbeiten und jeweils identi- sche Frageformulierungen zu benutzen (Schnell, et al., 1999 S. 300). Die Tatsache, dass ein sol- ches Leitfadeninterview einen freien Gesprachsverlauf zulasst, lasst die Moglichkeit offen, dass das Interview uberraschende Wendungen nimmt und der Experte Themenbereiche zur Sprache bringt, die vom Interviewer nichtvorausgesehen oder eingeplant wurden. Gleichzeitig bieten die standardisierten Fragen die Moglichkeit einer detaillierten quantitativen Auswertung.
Gerade bei kleinen Samples - wie sie bei Expertenbefragungen normalerweise der Fall sind - ist eine gute Auswertbarkeit ein nicht zu unterschatzender Vorteil.
Leitfadeninterviews lassen sich zudem auch in verschiedenen Varianten einsetzen, seien es tele- fongestutzte Interviews oder personliche Gesprache von Angesicht zu Angesicht Auch hier zeigt sich ein klarer Vorteil, war es doch aufgrund der grossen geographischen Distanz der zu befra- genden Personen nicht moglich, sie personlich aufzusuchen.
6.5 KONSTRUKTION DER FRAGEN
Typische Fragen in einem Fragebogen gehoren einem der folgenden vier Typen an:
1. Fragen nach Einstellungen oder Meinungen von Befragten
2. Fragen nach Uberzeugungen der Befragten
3. Fragen nach Verhalten der Befragten
4. Fragen nach Eigenschaften von Befragten
Nach Dillman sind Uberzeugungsfragen (engl: ..questions that elicit beliefs") derjenige Typus von Fragen, der danach fragt, was die Interviewten fur wahr oder falsch halten (Dillman, 1978 S. 82). Uberzeugungsfragen zielen auf die Wahrnehmung und Einschatzung vergangener, gegenwarti- ger oder zukunftiger Realitat. Typische Antwortkategorien sind demnach Paare im Sinne von „richtig / falsch" (Schnell, et al., 1999 S. 304).
Es soil also ein Leitfaden-Fragebogen konstruiert werden, der einerseits einen flexiblen Ge- sprachsablauf ermoglicht, andererseits jedoch auch eine solide quantitative Auswertung zulasst und gleichzeitig schwergewichtig aus Uberzeugungsfragen besteht. Eine sehr starke Einschran- kung sei jedoch erwahnt: Aufgrund der Tatsache, dass Experten unterschiedlicher Mutterspra- che befragt werden mussen, stellt sich das Problem der Vergleichbarkeit. Unterschiedliche Ant- worten, oder nur schon der grundsatzliche Gesprachsablauf, konnen stark von der Moglichkeit der Kommunikation zwischen Interviewer und Interviewtem abhangen. Grundsatzlich sind Interviews in der eigenen Muttersprache allen anderen Varianten uberlegen. Das gilt sowohl fur den Fragenden, als auch fur den Antwortenden. Die Muttersprache des Befragenden ist (Schwei- zer)-Deutsch, so dass festgelegt wird, dass bei allen Personen die des Deutschen machtig sind, die Interviews auch in Deutsch durchgefuhrt werden. Bei Experten, die nicht Deutsch sprechen, wird in erster Prioritat auf Englisch ausgewichen. Der Interviewer spricht fliessend Englisch, so dass eine sprachliche Einschrankung bei dieser Variante allenfalls nur beim Befragten in Be- tracht gezogen werden muss.
Bei all den Experten, bei denen das Interview weder in Deutsch, noch in Englisch noch in Fran- zosisch gefuhrt werden kann, wird mit Ubersetzungen von Fall zu Fall gearbeitet. Zu diesem Zeitpunkt der Untersuchung war jedoch noch unklar, welche Experten fur Interviews uberhaupt zur Verfugung stehen wurden, so dass auch noch nicht klar war, welche Varianten des Fragebo- gen spater effektiv zum Einsatz kommen wurden.
6.6 THEORETISCHE HERLEITUNG DER FRAGEN
Im Vorfeld zu dieser Fallstudie wurden bereits intensive Gesprache uber den Aufbau der Studie und die exakte Ausarbeitung der forschungsleitenden Fragestellung gefuhrt. Einerseits handelte es sich dabei um Gesprache im universitaren Umfeld, andererseits jedoch auch um Gesprache mit Direktbetroffenen aus der Region des ehemaligen Jugoslawiens, welche wahrend der kriege- rischen Ereignisse in die Schweiz geflohen sind. Erganzt um eine teilweise stark ausufernde Recherche, wahrend derer eine Vielzahl an Quellen gesichtet und wieder verworfen wurde, zeigte sich der Zwang zur klareren Eingrenzung sehr deutlich. Im Wesentlichen wurden daraufhin wahrend dieses Prozesses vier Themenbereiche isoliert, welche fur die Fragestellung als ent- scheidend erachtet werden. Es handelt sich dabei um:
1. Die Frage nach einem moglichen Geheimabkommen zwischen den USA und Radovan Karadzic.
2. Die Untersuchung einer Two-Level-Game Situation nach Robert Putnam
3. Das diplomatische Verhalten der EU, welche versuchte Serbien mit einer Kombination aus politischen Anreizen und Druck zur Kooperation mit dem ICTY zu bewegen.
4. Die Qualitatder Fahndungsmassnahmen der StrafVerfolger des ICTY.
6.6.1 GEHEIMABKOMMEN ZWISCHEN DEN USA UND RADOVAN KARADZIC
Die Theorie, dass es ein geheimes Abkommen zwischen den USA und der serbischen Fuhrung um Radovan Karadzic gab, tauchte seit dem Friedensvertrag von Dayton immer wieder auf. Radovan Karadzic behauptete dies mehrfach selbst Auch vor den Schranken des ICTY wiederholte er seine diesbezuglichen Aussagen wahrend der ersten Anhorung.
Aus dem Mund von Radovan Karadzic, kann diese Aussage noch relativ leicht als mutmassliche Schutzbehauptung abgetan werden. Durch die Tatsache, dass jedoch auch die ehemalige Chefan- klagerin des ICTY, die Schweizerin Carla Del Ponte, mehrfach bestatigte, dass sie von der Exis- tenz eines Abkommens ausging, (z.B. gegenuber dem Westschweizer Filmemacher Marcel Schupbach in dessen Film "La Liste De Carla") erhalt diese Moglichkeit eine deutlich grossere politische Brisanz (Schupbach, 2006). Die damalige personliche Assistentin und Pressespreche- rin von Carla Del Ponte, die Journalistin Florence Hartmann, hat in ihrem nach der Arbeit fur den ICTY veroffentlichten Buch "Paix et Chatiment" sogar noch drastischere Worte gewahlt: Ihrer Ansicht nach, hatten die USA, Grossbritannien, Frankreich und Russland ein gemeinsames Inte- resse daran gehabt, einen Prozess gegen Karadzic zu verhindern. Bei einem solchen Prozess ware unweigerlich auch das Verhalten der NATO-Staaten beim Schutz der Sicherheitszone um Srebrenica oder wahrend der verheerenden Belagerung Sarajewos zur Sprache gekommen. Des Weiteren behauptet Hartmann, dass die Plane Milosevics bereits seit 1995 bekannt gewesen seien und man nichts dagegen unternommen habe (Hartmann, 2007). Die grotesk anmutende Ironie der Geschichte will es, dass Florence Hartmann wegen ihres Buches mittlerweile selbst vor dem ICTY angeklagt wurde, wegen Geheimnisverrat
Bereits 1997 dagegen gab die ehemalige Weggefahrtin von Radovan Karadzic und Mit- Unterzeichnerin des Friedensabkommens von Dayton, die Serbin Biljana Plavsic, gegenuber dem deutschen Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" zu Protokoll, dass die damalige amerikanische Aussenministerin, Madeleine Albright, ihr gegenuber den Vorschlag geaussert habe, Karadzic solle die Republik Srpska fur immer verlassen, im Gegenzug dafur werde die Jagd auf ihn einge- stellt (Flottau, 1997).
Wenn also sowohl die Anklage, als auch der Angeklagte dieselben Aussagen machen, dann drangt sich zumindest eine Untersuchung dieser Frage auf.
6.6.2 TWO-LEVEL-GAME NACH ROBERT PUTNAM
Als einer der wichtigsten Autoren im Bereich des Zusammenspiels zwischen nationaler Politik und internationaler Diplomatie, hat Robert Putnam schon vor geraumer Zeit die Theorie des Two-Level-Games entwickelt (Putnam, 1988).
Internationale Vereinbarungen haben demnach desto grossere Chancen auf eine konforme Um- setzung, (Ratifizierung und / oder Implementierung) je grosser der (erwartete) Gewinn fur die beteiligten Politiker auf nationaler Ebene ist.
Je nach Sichtweise, kann das von der EU wiederholt geausserte Zugestandnis an Serbien bezug- lich dem in Aussicht gestellten Assoziierungsabkommen im Falle der Auslieferung von Karadzic und Mladic als Erpressung der Serben durch die EU betrachtet werden, oder aber als Verhand- lungsangebot mit klar abgegrenztem Bargaining-Set. Nach der Theorie des Two-Level-Games (oder Multi-Level-Games) musste demnach nicht der mogliche aussenpolitische Gewinn (Anna- herung Serbiens an die EU) sondern der innenpolitische Gewinn fur die serbischen Politiker betrachtet werden. Wie in volkerrechtlichen Prozessen ublich, werden auf der internationalen Ebene Verhandlungen nur mit Politikern gefuhrt, die der Regierung angehoren, bzw. deren Un- terhandlern. Eine serbische Opposition ist also von solchen Verhandlungen ausgeschlossen. Selbst wenn auch die oppositionellen Krafte grundsatzlich ein Assoziierungsabkommen begrus- sen wurden, so ware da immer noch die Verlockung, das Thema stattdessen innenpolitisch aus- zuschlachten und damit allenfalls die politische Mehrheit zu gewinnen und die Regierung zu stellen.
Um aufgrund der Two-Level-Theorie also abschatzen zu konnen, ob die Umsetzung einer internationalen Vereinbarung (in diesem Falle: Verhaftung und Auslieferung von Karadzic) wahr- scheinlich ist, muss beurteilt werden, wie gross der zu erwartenden Gewinn fur die Regierung ist, die sich darum bemuht, beziehungsweise, was sie damit riskiert.
Als erbittertste Gegner einer Auslieferung Karadzics traten seit je her die serbischen Nationalis- ten auf. Wahrend der verschiedenen Kriege auf dem Balkan und auch in den Jahren danach, wa- ren nationalistische Parteien und Gruppierungen unter verschiedenen Fuhrungen, Namen und Koalitionen immer eine wichtige Kraft im politischen Spektrum Serbiens (Bieber, 2000), (Milosevic, 2001).
Vor allem die Serbische Radikale Partei ("Srpska Radikalna Stranka", SRS) wehrte sich verbissen gegen jede Zusammenarbeit mit dem ICTY. Eine Auslieferung der - in ihren Augen - Kriegshelden Karadzic und Mladic kame einem Hochverrat gleich. Welche Strafe die Partei fur Hochverrat vorsah, daran liess man ebenfalls keinen Zweifel: Vjerica Radeta, Parlamentsabgeordnete der SRS, drohte Regierungschef Tadic wenige Tage nach der Festnahme Karadzic' offen mit dem Tod, sollte Karadzic ausgeliefert werden. Sie ging sogar so weit, mit der Ermordung von Familienan- gehorigen zu drohen, in dem sie betonte, dass "eventuell nicht alle heutigen Machthaber das Gluck von Bindic haben werden, weil Gott die Verrater bis zur siebten Generation bestraft" (Der Spiegel, 2008). Zoran Bindic, welcher 2003 vor seinem Amtssitz erschossen wurde, hatte ihrer Ansicht nach also noch Gluck!
Ubersetzt auf die Two-Level-Theorie muss man sich im Falle von Serbien also eines bewusst sein: Pro-westliche Politiker, die mit dem ICTY kooperier- ten, setzten sich nicht nur politischen Risiken wie einer Abwahl aus, sondern riskierten ohne Ubertreibung ihr eigenes Leben, moglicherweise auch das von Angehorigen. Es erscheint leicht verstandlich, dass solche Drohungen Regierungen in ihrem Engagement bremsen, auch wenn dies ihren Uberzeu- gungen widerspricht. Umgekehrt bedeutet dies naturlich, dass bei einer Re- gierung die Karadzic - aus welchen Grunden auch immer - wohlgesinnt ist, eine Auslieferung sehr unwahrscheinlich ist.
Der bedrohte Tadic dagegen, setzte sich zusammen mit seinem Aussenminister Vuk Jeremic vehement fur einen Beitritt Serbiens zur Europaischen Union ein. Wenn die Auslieferung Karadzic' und die Zusammenarbeit mit dem ICTY als Voraussetzung fur jegliche Annaherung an die EU unabdingbar ist, dann musste dementsprechend der EU-Beitritt diesen Preis wert sein, ansons- ten wurde Tadic im besten Fall die politische Unterstutzung seiner Wahlerinnen und Wahler verlieren. Eine gewisse Ambivalenz der serbischen Bevolkerung lasst sich dabei beobachten: Zweifelsohne setzen viele Serbinnen und Serben grosse Hoffnungen in die EU; dies vor allem angesichts der schlechten wirtschaftlichen Lage in ihrem Land. Andererseits zeigte eine repra- sentative Umfrage der angesehenen sozial- und marketingwissenschaftlichen Firma "Strategic Marketing Research" in Belgrad im Auftrag des Ministeriums fur Menschenrechte und Minder- heiten in Serbien, dass einige Tage nach der Festnahme Karadzic' nach wie vor eine Mehrheit
von 54% der Bevolkerung kategorisch gegen eine Auslieferung war, ungeachtet der moglichen politischen Vorteile fur ihr Land (Der Spiegel, 2008).
Eine starke nationalistische Opposition, die das innenpolitische Uberleben der Regierung ernst- haft gefahrden kann, ware demnach ein starkes Hindernis fur die Umsetzung der internationalen Vereinbarungen, die die Auslieferung Karadzic' vorsahen.
Am 24. September 2000 gewann der als gemassigt pro-westlich geltende Kandidat Vojislav Kostunica uberraschend deutlich die Prasidentschaftswahl gegen den amtierenden Prasidenten Slobodan Milosevic. Es war dies das deutlichste Zeichen einer Machtverschiebung hin zu Kandi- daten, die weder dem sozialistischen/postkommunistischen Lager von Milosevic, noch dem klar konservativ-nationalistischen Lager zugerechnet werden mussten. Bereits bei den Wahlen 2003 zeigte sich jedoch, dass der Einfluss der beiden Lager nach wie vor gross war.
6.6.3 DAS DIPLOMATISCHE VERHALTEN DER EU
Der Krieg in Jugoslawien war von allem Anfang an eine ausserst heikle Situation fur die Europai- sche Union. Mit Slowenien und Kroatien waren zwei direkte Nachbarstaaten der damaligen EU- Aussengrenze in den schlimmsten Krieg auf europaischem Territorium seit dem zweiten Welt- krieg verwickelt. Die Vielzahl daraus resultierender direkter Probleme fur die EU stellte eine bis dato vollig neue Situation dar. Der Zusammenbruch des alten jugoslawischen Staates loste bei- spielsweise eine Migrationswelle aus, deren Ausmass so stark war, dass die ethnische Struktur mehrerer westeuropaischer Staaten nachhaltig und stark verandert wurde.
Wie oft beim Zusammenbruch von Staaten, wurde das entstehende Machtvakuum sofort auch von kriminellen Organisationen ausgenutzt. So entwickelte sich beispielsweise der bis heute unter dem Namen "Balkan-Route" bekannte Vertriebskanal von Rauschgift (vor allem Heroin aus Afghanistan) uber den die Drogen schliesslich nach Westeuropa gelangen. Aber auch im Be- reich des mit der illegalen Prostitution verknupften Menschenhandels, der Geldwascherei und anderem stellte das bruchige Gebilde auf dem Balkan eine konkrete Bedrohung fur die westeu- ropaische Sicherheit dar.
Schon bei Kriegsausbruch (und auch schon davor) beobachtete die EU die Ereignisse auf dem Balkan deshalb mit Argusaugen. Sehr viele europaische Politikern agierten zudem aus einer ehr- lichen, tiefen Uberzeugung heraus, dass der Krieg im ehemaligen Jugoslawien eine schwere mo- ralische Prufung fur die EU darstelle, die gar keines der oben aufgezahlten Beispiele benotigt hatte, um ein Eingreifen der EU zu rechtfertigen. Die offensichtlichen Kriegsverbrechen, die eth- nischen Sauberungen und ganz allgemein die begangenen Graueltaten auf allen Seiten waren schlicht nicht vereinbar mit den moralischen Uberzeugungen der westeuropaischen Gesellschaf- ten und insbesondere auch nicht mit der EU als Institution. Wenn man sich vergegenwartigt, dass die EU selber es als ihren grossten Verdienst betrachtet, seit dem Ende des zweiten Welt- kriegs die ehemaligen Feinde innerhalb Westeuropas politisch vereinigt zu haben und zusam- men mit ihren Vorgangerorganisationen eine nun schon uber 60 Jahre dauernde Phase des Frie- dens und der prosperierenden wirtschaftlichen Entwicklung geschaffen zu haben, dann war Wegschauen schlicht keine Option. Mangels eigener Truppen und einer uneinheitlichen aussen- politischen Position der Mitgliedslander stellte sich die Frage nach einem "EU-Kontingent" an Soldaten jedoch trotzdem nicht. Kommt dazu, dass massgebende EU-Staaten (gemeint sind na- turlich hauptsachlich Frankreich, Grossbritannien und Deutschland) gleichzeitig NATO- Mitglieder sind. Schnell war also klar, dass sich die Rolle der EU auf politische Funktionen be- schranken wurde, wogegen sowohl die militarischen, als auch die nachrichtendienstlichen Ope- rationen von der NATO bzw. einzelnen Mitgliedslandern durchgefuhrt werden wurden.
Die EU entwickelte die Praxis, mit Staaten, die neu zur EU stossen wollten, Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen zu schliessen. (Engl: Stabilisation and Association Agreement, SAA) Sinn und Zweck dieser Abkommen war und ist es primar, unliebsame Uberraschungen nach dem Beitritt zu verhindern. Hauptsachlich werden den beitrittswilligen Staaten Auflagen gemacht, die die Wirtschaft der entsprechenden Lander an den europaischen Wirtschaftsraum koppelt. In mehreren Beispielen wurde kurz nach dem SAA eine Zollunion mit der EU gebildet. Aber auch die politische Stabilitat soll verbessert und/oder langerfristig garantiert werden.
Mit den Staaten des ehemaligen Jugoslawien wurden diese Abkommen zu unterschiedlichen Zeitpunkten abgeschlossen und auch mit unterschiedlichem Tempo vorangefuhrt, wie untenste- hender Tabelle zu entnehmen ist
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
TABELLE 2 STABILISIERUNGS- UND ASSOZIIERUNGSABKOMMEN ZWISCHEN DER EU UND DEN LANDERN DES EHEMALIGEN JUGOSLAWIENS (STAND APRIL 2009)
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