Zu Anfang des 19. Jahrhunderts schickten sich zwei Großmächte - das Russische Reich und das Britische Empire - an, die an ihre etablierten Machtbereiche angrenzenden, politisch zwar nicht vakanten, aber doch recht schwachen Steppen Zentralasiens ihrem Einfluss zu unterwerfen. Wenn die Anfangsphase dieser Expansion (vor allem auf russischer Seite) mehr als Reaktion auf regionale Probleme verlief und kaum Züge eines umfassenden Konzepts erkennen ließ, so rückten später politische und wirtschaftliche Überlegungen in den Vordergrund, die deutlich globaler angelegt waren. Eine innere Logik entwickelte ihre Dynamik: Die politische Komponente gewann in dem Maß an Bedeutung, wie beide Seiten in eine zunächst latente und dann offene Konkurrenz um die Gebiete gerieten, deren wirtschaftliches Potential als Rohstoff- und Absatzmärkte für eine ständig wachsende kapitalistische Maschinerie nicht zu überschätzen war. Der Wettstreit um Zentralasien, das "Great Game", nahm seinen Lauf.
Die vorliegende Arbeit wird sich der russischen Perspektive in dieser Auseinandersetzung widmen und hier vor allem dem Zeitraum, in dem sich die russische Südgrenze über die zentralasiatischen Khanate von Kokand, Chiwa und Buchara hinwegschob und direkten Anschluss an Afghanistan, China und den Iran fand. Bevor die tatsächlichen militärischen Operationen dargestellt werden, die zum Anschluss der Khanate an das russische Reichsterritorium führten, gilt es, die Vorgeschichte der russisch-zentralasiatischen Beziehungen zusammenzufassen sowie den politischen und ökonomischen Hintergrund zu umreißen, auf dem sich diese Beziehungen im 19. Jh. entwickelten. Hierbei soll vor allem die Genesis der russischen Politik gegenüber den Khanaten von Diplomatie und Handel zu direkter Einflussnahme und Eroberung in ihren Motiven nachvollzogen werden.
Parallel zur Darstellung der russischen Durchdringung Zentralasiens gilt es auch, die Stufen des Konflikt mit dem Britischen Empire nachzuzeichnen - von Spannung über drohende Eskalation bis hin zur Normalisierung des ausgehenden Jahrhunderts. Diese übergeordnete Dimension der russischen Politik gegenüber den Khanaten soll also - weil sie als konstitutives Element derselben anzusehen ist - zu keinem Zeitpunkt aus dem Blickfeld verloren werden.
Index
1. Fragestellung und Arbeitsmethode
2. Die Vorzeichen der russischen Politik in Zentralasien
2.1. Kaukasus und Zentralasien – Zusammenhänge und Parallelen
2.2. Beweggründe und Rahmenbedingungen der russischen Expansionspolitik in Zentralasien
2.3. Vorgeschichte der russischen Beziehungen zu Zentralasien und Periodisierung der Eroberungspolitik im 19. Jh.
3. Die russischen Beziehungen zu Zentralasien in der ersten Hälfte des 19. Jhs
3.1. Zur gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verfassung der zentralasiatischen Khanate
3.2. Politische und wirtschaftliche Bedingungen des russisch-zentralasiatischen Handels in der ersten Hälfte des 19. Jhs.
3.3. Die Muraw’jew-Expedition nach Chiwa
3.4. Die Entwicklung der russisch-zentralasiatischen Wirtschaftsbeziehungen bis 1825
4. Zentralasien im Zeichen des »Great Game« - englische und russische Expansionspolitik bis
4.1. Das russische Vordringen nach Transkaspien und die englische Hegemonialpolitik im Mittleren Osten
4.2. Die russische Strafexpedition nach Chiwa und ihre Folgen
5. Die russische Politik in Zentralasien in den 1850er und in der ersten Hälfte der 60er Jahre
5.1. Englische und russische Aktivitäten in Zentralasien während des Krimkriegs
5.2. Drei russische Missionen
5.3. Zentralasien am Vorabend der russischen Militäroperationen
6. Die russische Politik in Zentralasien in der zweiten Hälfte der 1860er und zu Anfang der 70er Jahre
6.1. Die russischen Militäroffensiven im kokandisch-bucharischen Raum
6.2. Die Entstehung des Turkestaner Generalgouvernements und der Konflikt mit Buchara
6.3. Die Verschlechterung der Beziehungen zu Chiwa und Buchara und der Petersburger Sonderkongress von 1872
6.4. Die Maßnahmen der russischen Administration im Turkestaner Generalgouvernement
7. Die letzte Phase der russischen Annexionspolitik in Zentralasien (1872-84)
7.1. Die Eroberung Chiwas
7.2. Die kokandische Aufstandsbewegung 1775/76
7.3. Die Eingliederung Turkmeniens
7.4. Zentralasien in russischer Hand – Versuch einer Bewertung
8. Literaturverzeichnis
9. Verzeichnis der geographischen und ethnographischen Bezeichnungen
1. Fragestellung und Arbeitsmethode
Zu Anfang des 19. Jahrhunderts schickten sich zwei Großmächte – das Russische Reich und das Britische Empire – an, die an ihre etablierten Machtbereiche angrenzenden, politisch zwar nicht vakanten, aber doch recht schwachen Steppen Zentralasiens ihrem Einfluss zu unterwerfen. Wenn die Anfangsphase dieser Expansion (vor allem auf russischer Seite) mehr als Reaktion auf regionale Probleme verlief und kaum Züge eines umfassenden Konzepts erkennen ließ, so rückten später politische und wirtschaftliche Überlegungen in den Vordergrund, die deutlich globaler angelegt waren. Eine innere Logik entwickelte ihre Dynamik: Die politische Komponente gewann in dem Maß an Bedeutung, wie beide Seiten in eine zunächst latente und dann offene Konkurrenz um die Gebiete gerieten, deren wirtschaftliches Potential als Rohstoff- und Absatzmärkte für eine ständig wachsende kapitalistische Maschinerie nicht zu überschätzen war. Der Wettstreit um Zentralasien, das »Great Game«, nahm seinen Lauf.
Die vorliegende Arbeit wird sich der russischen Perspektive in dieser Auseinandersetzung widmen und hier vor allem dem Zeitraum, in dem sich die russische Südgrenze über die zentralasiatischen Khanate von Kokand, Chiwa und Buchara hinwegschob und direkten Anschluss an Afghanistan, China und den Iran fand. Bevor die tatsächlichen militärischen Operationen dargestellt werden, die zum Anschluss der Khanate an das russische Reichsterritorium führten, gilt es, die Vorgeschichte der russisch-zentralasiatischen Beziehungen zusammenzufassen sowie den politischen und ökonomischen Hintergrund zu umreißen, auf dem sich diese Beziehungen im 19. Jh. entwickelten. Hierbei soll vor allem die Genesis der russischen Politik gegenüber den Khanaten von Diplomatie und Handel zu direkter Einflussnahme und Eroberung in ihren Motiven nachvollzogen werden.
Parallel zur Darstellung der russischen Durchdringung Zentralasiens gilt es auch, die Stufen des Konflikt mit dem Britischen Empire nachzuzeichnen – von Spannung über drohende Eskalation bis hin zur Normalisierung des ausgehenden Jahrhunderts. Diese übergeordnete Dimension der russischen Politik gegenüber den Khanaten soll also – weil sie als konstitutives Element derselben anzusehen ist – zu keinem Zeitpunkt aus dem Blickfeld verloren werden. Denn eines scheint sicher: Ohne England hätte es ein vergleichbar konsequentes russisches Vorgehen in Zentralasien nicht geben können – die inneren Stimmen, die sich auch dann noch gegen die Expansion stellten, als sie längst nicht mehr aufzuhalten war, hätten ohne den äußeren Konkurrenten noch lange die Oberhand behalten. Diese Sichtweise gilt es in den folgenden Ausführungen zu belegen.
2. Die Vorzeichen der russischen Politik in Zentralasien
2.1. Kaukasus und Zentralasien – Zusammenhänge und Parallelen
Neuere Forschungen deuten darauf hin, dass dem Kaukasus in Bezug auf die russisch-englischen Spannungen im zweiten Drittel des 19. Jhs. eine größere Rolle zukommt, als bisher angenommen. Nachdem 1829 der Anschluss des Kaukasus an Russland vollzogen war, kam es schnell zu einer Verschärfung des russisch-englischen Konflikts in dieser Region. London setzte nun alles daran, die im ersten Drittel des 19. Jhs. versäumte Gelegenheit nachzuholen, den Kaukasus unter britischen Einfluss zu bringen. Einige Forschungsmeinungen behaupten sogar, dass die Rivalität um den Kaukasus für jene diplomatischen Verstimmungen zwischen London und Petersburg verantwortlich gewesen sei, die letzthin den Ausbruch des Krimkriegs herbeigeführt haben.
Für die Mächte, die daran interessiert waren, den Kaukasus ihrem Herrschaftsbereich einzuverleiben, war stets seine oft zitierte Bedeutung als Brücke zwischen Europa und Asien von zentraler Bedeutung: Die Herrschaft über den Kaukasus öffnete den Weg in die Tiefen Zentralasiens. Für Russland jedenfalls scheint die Aussage des englischen Historikers Stephenson zuzutreffen: »Die Einverleibung des Kaukasus führte Russland nicht nach Konstantinopel, sondern wies den Weg nach Taschkent und Samarkand.«[1]
Das Britische Empire seinerseits suchte nicht nur über die Türkei und den Iran nach Zentralasien vorzustoßen, sondern vor allem auch über Indien. Für Russland ergab sich daraus die durchaus greifbare Gefahr, dass riesige Gebiete jenseits des Kaspischen Meeres in den Einflussbereich Londons gezogen würden, was nichts anderes bedeutet hätte, als dass anstelle einiger schwachen Khanate eine europäische Großmacht zum direkten Nachbarn des Zarenreichs würde. Die bis dato eroberten Positionen im Kaukasus wären damit infrage gestellt. Weil Petersburg diese Gefahr frühzeitig erkannte, beobachtete es aufmerksam die Entwicklung in Zentralasien – man wollte stets bereit sein, England zuvorzukommen. In der ersten Hälfte des 19. Jhs. erfuhren die diplomatischen und ökonomischen Beziehungen zu den zentralasiatischen Khanaten eine schrittweise Ausweitung. Bis in die 30er Jahre hinein schien es für ein entschiedeneres Vorgehen keinen Bedarf zu geben. Zwischenzeitlich konzentrierte das britische Empire seine Kräfte für eine Einmischung in die Angelegenheiten der Region.
Die gesellschaftliche und politische Verfassung des kaukasischen Raums war dem zentralasiatischen nicht unähnlich. Eine wesentliche Gemeinsamkeit war die sozialökonomische Entwicklung: In den Bergregionen des Kaukasus wie auch in den Steppen Zentralasiens war die patriarchalische Ordnung im Verfall begriffen; es entstanden erste Formen von grundherrlichen Besitz- und Herrschaftsverhältnissen. Es ist bezeichnend, dass an den Plänen Petersburgs zum Vorgehen im zentralasiatischen Raum dieselben Staatsmänner und Militärs maßgeblich beteiligt waren, die schon um die Mitte des 19. Jhs. im Kaukasus Erfahrung in der Verwaltung von Grenzregionen erworben hatten. So fand das für den kaukasischen Raum entworfene administrative Modell später auch in Zentralasien Anwendung. Charakteristisch für beide Regionen ist die Einführung besonderer Verwaltungseinheiten: das Statthalterwesen im Kaukasus und das Generalgouvernement in Zentralasien.
2.2. Beweggründe und Rahmenbedingungen der russischen Expansionspolitik in Zentralasien
Wenn Russland mit der kaukasische Frage zu einer Zeit konfrontiert wurde, als es im Begriff war, eine europäische Großmacht zu werden, so waren die Vorzeichen in Zentralasien weniger vorteilhaft. Gerade war man aus dem Krimkrieg als Verlierer hervorgegangen und die Regierung setzte nun alles daran, die inneren Kräfte des Landes zusammenzuziehen. Unter diesen Umständen konnte nur äußerste Bedrängnis sie zu etwas bewegen, das für die erschöpften militärischen und finanziellen Ressourcen des Staates so belastend war, wie die Eroberung Zentralasiens. Dass dieser Schritt als absolut zwingend empfunden wurde, wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, in welcher Zeit die russische Präsenz in der Region intensiviert wurde: Die 1860er Jahre brachten dem geschwächten Zarenreich ökonomische Schwierigkeiten und soziale Spannungen, hinzu kamen die wachsam überwachten Auflagen der Sieger des Krimkriegs.
Während die russische Eroberung des Kaukasus ein langwieriger, sich schrittweise vollziehender Prozess war, ist für die Entwicklung in Zentralasien eine erstaunliche rasche Abfolge der wichtigen Ereignisse kennzeichnend. Über die Beweggründe der russischen Regierung, ihre Politik in Zentralasien in einem kurzen Zeitraum derart zu intensivieren, ist die Forschung kontroverser Meinung. Zwei Thesen konkurrieren um die Deutungshoheit: Die erste sieht diese Gründe in der Sicherung der russischen Grenzen vor nomadischen Angreifern und vor allem in den russischen Handelsinteressen auf dem Hintergrund der entstehenden kapitalistischen Strukturen: Nach der Niederlage im Krimkrieg hatte sich der russische Handel nach Zentralasien gewandt, das seinen Bedarf nach Baumwolle zumindest potentiell befriedigen konnte.
Andere Historiker geben militärisch-strategischen Motiven den Vorzug. Mit dem Vordringen englischer Kaufleute und Gesandter nach Buchara und Chiwa wuchs die Besorgnis der russischen Regierung. Petersburg wusste nur zu genau, wohin der europäische Handel in Asien mündete: Die Sache »fängt mit Seide an und endet mit der Errichtung eines Vasallenstaates mit 150 Millionen Einwohnern.«[2] In der zweiten Hälfte des 19. Jhs. sah sich Russland durch die britische politische und wirtschaftliche Expansion zu einem aktiven und planmäßigen Vorgehen in Zentralasien gezwungen. Der imperialistische Wettkampf der beiden Großmächte, das »Great Game«, ging in die nächste Runde. Einige frühe Forschungen hatten England hierbei in der Rolle des Verteidigers gesehen; vollauf damit beschäftigt, Indien und Afghanistan einer vermeintlichen russischen Bedrohung zu entziehen – eine These, die augrund ihrer Einseitigkeit überholt scheint.
Nahezu einhellig wird in der Forschung die Meinung vertreten, die politisch-organisatorische und ökonomische Rückständigkeit sowie die diplomatische Isoliertheit der zentralasiatischen Khanate habe der russischen Eroberung Vorschub geleistet. Das Vordringen nach Zentralasien wie zuvor in den Kaukasus wurde darüber hinaus – zumindest in einigen Fällen – von der pro-russischen Orientierung ansässiger Völker begünstigt. Die hierfür relevanten Ereignisse sollte man jedoch weder ideologisch überfrachten noch unterschätzen. In den meisten Fällen wird man aber davon ausgehen müssen, dass die betreffenden Völker sich durch die gegebenen politischen oder wirtschaftlichen Konstellationen gezwungen sahen, die Annäherung an das russische Großreich zu suchen. Das konnte z.B. die Bedrohung seitens aggressiver Nachbarn sein oder die erhoffte Option auf neues Weideland. Ob die politischen Führer jener Völker die Gefahr eines völligen Verlustes der Autonomie unterschätzten oder schlicht keine Wahl hatten, bleibt noch zu klären.
Es wird der Sache auch nicht gerecht, die russische Politik in den Randzonen des Reiches einzig auf dem Hintergrund der – zweifellos vorhandenen – Allianz der russischen Administration mit der lokalen aristokratisch-klerikalen Führungsschicht zu sehen. Ein universales Prinzip war dies sicherlich nicht. Die Interessen der Oberschicht wurden zwar berücksichtigt, im Übrigen gestaltete sich die russische Politik jedoch recht pragmatisch: Sie trug den jeweiligen lokalen Gegebenheiten Rechnung und machte sich, wo möglich, auch die pro-russische Stimmungslage der sozialen Unterschichten zunutze.
2.3. Vorgeschichte der russischen Beziehungen zu Zentralasien und Periodisierung der Eroberungspolitik im 19. Jh.
Die ersten Kontakte der russischen Diplomatie mit Zentralasien fallen ins Jahr 1558. Die Regierung Iwans VI. (1547-84) beauftragte einen Gesandten, mit den Herrschern von Chiwa und Buchara die Bedingungen für einen freien Handel mit Russland auszuhandeln. Obwohl die Khanate Interesse bekundeten, kam es im Folgenden zu keiner Regelmäßigkeit der russisch-zentralasiatischen Beziehungen. Peter I. knüpfte an die Politik des ersten russischen Zaren an und bemühte sich, feste Handelsrouten nicht nur zu Zentralasien, sondern auch zu Indien und dem Iran zu etablieren. Jedoch rückten teils vernichtende Überfälle der Khane auf russische Karawanen und Gesandtschaften dieses Ziel wiederholt in weite Ferne.
Für das 19. Jh. lässt sich die russische Außenpolitik in Zentralasien in drei Phasen einteilen. Bis in die 40er Jahre hinein überwogen diplomatische Erkundungsmissionen, wenngleich bereits erste Versuche einer wirtschaftlichen Durchdringung des Raums erfolgten – noch ohne militärische Aktionen. Die russische Regierung versuchte den russisch-zentralasiatischen Handel anzustoßen, indem sie Kaufleuten aus den Khanaten Handelsprivilegien gewährte und auch die eigenen Kleinhändler verschiedentlich zu Expeditionen nach Zentralasien ermutigte.
In Reaktion auf die seit Ende der 30er Jahre intensivierte Politik Englands im Mittleren Osten und in Zentralasien änderte Petersburg seine Vorgehensweise. 1839 wurde eine (kläglich gescheiterte) militärische Expedition gegen Chiwa ausgerüstet – mit der Begründung, man wolle den Raubzügen der Chiwiner ein Ende setzen. Zuvor jedoch hatte der Generalgouverneur von Orenburg die Regierung mehrfach und mit derselben Begründung zum Eingreifen aufgefordert – ohne dass es dazu gekommen wäre.
Während sich die Lage im Mittleren Osten verschärfte (englisch-afghanischer Krieg 1838-40), reifte in Petersburg der Plan zu einer militärischen Offensive gegen die benachbarten Khanate. Seit Anfang der 40er Jahre lässt sich dann von einer neuen Etappe der russischen Außenpolitik in Zentralasien sprechen. Sie ist gekennzeichnet durch der Distanzierung der Regierung von der Option eines rein diplomatischen Vorgehens. Ein gänzlicher Verzicht war es jedoch nicht: Russland war, wie die Expedition von 1839 gezeigt hatte, noch nicht zu groß angelegten militärischen Operationen bereit.
Im Verlauf des Krimkrieges (1853-56) war Russland vom zentralasiatischen Schauplatz abgelenkt. Der Konflikt machte der russischen Regierung unmissverständlich klar, dass ihr größter Konkurrent in Europa wie auch in Asien das Britische Empire ist. In den Folgejahren beschränkten sich die russischen Aktivitäten in Zentralasien unfreiwilligerweise wieder auf diplomatische und handelspolitische Einzelmissionen. (Über die innere Verfassung der Khanate lagen noch immer keine sicheren Kenntnisse vor.) Das geschwächte Reich war damit beschäftigt, seine Position nach innen und außen zu stabilisieren, hinzu kam der andauernde Krieg im Kaukasus. Erst zu Anfang der 60er Jahre holte Petersburg die alten Eroberungspläne wieder hervor. Hintergrund war die Vertiefung der russisch-englischen Gegensätze sowie die ökonomischen Erfordernisse des expandierenden russischen Kapitalismus. Um die Mitte der 80er Jahre stand schließlich das gesamte Territorium Zentralasiens in abgestuften Abhängigkeitsverhältnissen zu Russland.
3. Die russischen Beziehungen zu Zentralasien in der ersten Hälfte des 19. Jhs.
3.1. Zur gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Verfassung der zentralasiatischen Khanate
Die Völker Zentralasiens befanden sich zu Anfang des 19. Jhs. auf verschiedenen Stufen der sozialpolitischen Entwicklung. Die nomadisierenden Kasachen, Kirgisen, Turkmenen und Karakalpaken erlebten den Zerfall der traditionellen Stammesordnung und einen sukzessiven Übergang in eine dem europäischen Feudalismus nicht unähnliche rechtliche und soziale Verfassung. Die Usbeken und Tadschiken waren bereits sesshaft geworden und gingen Landwirtschaft, Handwerk und Handel nach. Auch in ihre soziale Ordnung hielten feudalistische Strukturen Einzug.
Vier Khanate teilten sich in dieser Zeit das Territorium Zentralasiens: Die politisch und wirtschaftlich dominierenden Buchara und Kokand, daneben Chiwa und Taschkent, das jedoch schon 1810 von Kokand erobert wurde. Das Khanat von Buchara im Tal des Serawschan war mit einer Bevölkerungszahl von fast 3 Mio. das größte. Dem Fluss des Syrdarja gen Nordosten folgend stieß man auf das Khanat von Kokand mit 1,5 Mio. Menschen. Im Delta des Amudarja lag Chiwa, das bis zum 16. Jh. als Königreich Choresm bezeichnet wurde (ca. 800 Tsd. Menschen). In allen zentralasiatischen Khanaten herrschte eine innere Zersplitterung vor, welche sich in der eigenmächtigen Politik lokaler Herren ausdrückte. Die Khane waren kaum bemüht, ihre Herrschaft im eigenen Reich zu festigen, sondern vielmehr darum, die Grenzen ihrer Reiche auszuweiten.
Schon um die Mitte des 19. Jhs. waren in den gesellschaftlichen Ordnungen Zentralasiens patriarchalische und leibeigene Strukturen im Verfall begriffen. Über eigene Armeen verfügende Aristokraten und muslimisch-sunnitische Hochgeistliche bildeten die grundbesitzende Herrscherschicht. Größter Grundherr war der Khan, seine Pächter waren ihm zu Militärdienst bzw. Stellung von Aufgeboten verpflichtet. Die despotischen Khane vereinten alle Regierungsmacht auf die eigene Person. In Steuereintreibung, Wasserverteilung und in administrativen Fragen war ihre Willkür ausschlaggebend. Allgemein gültige Gesetze waren unbekannt.
Die zentralasiatischen Khanate verfügten kaum über eine nennenswerte militärische Schlagkraft. Die Armeen waren mehrheitlich beritten und bestanden zu einem nicht unwesentlichen Teil aus versklavten Gefangenen. Fortwährende kriegerische Auseinandersetzungen der Khanate untereinander und mit benachbarten Völkern wirkten sich verheerend auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der gesamten Region aus. Einige Male kam es zu ethnisch begrenzten Aufständen gegen die Willkür der Khane.
In den Oasenregionen Zentralasiens, wo sich die sesshafte Bevölkerung konzentrierte, hatte die landwirtschaftliche Nutzung ein relativ hohes Niveau erreicht; in den Steppen und Wüsten herrschte bei niedriger Bevölkerungsdichte nomadische Viehzucht vor. Der Handel unter den Khanaten und mit Kasachstan stellte sich als Austausch von Produkten der Land- gegen die der Viehwirtschaft dar. Dieser erfolgte auf Märkten (Basaren), Geschäfte ständigen Charakters waren kaum bekannt. Gewerbe und Handwerk hatten es bereits zu einiger Entfaltung gebracht: In Städten und größeren Siedlungen wurden Produkte aus Seide, Baumwolle, Stoffen und Metallen gefertigt, die in den Handel mit Iran, Afghanistan, Indien, China sowie Russland und England einflossen. In Buchara, dem Handelszentrum Zentralasiens, existierten 38 Karawansereien.
3.2. Politische und wirtschaftliche Bedingungen des russisch-zentralasiatischen Handels in der ersten Hälfte des 19. Jhs.
Die Märkte Zentralasiens waren für das aufgehende russische Gewerbe von einiger Bedeutung. Während im europäischen Handel gewerbliche Produkte nur etwa vier Prozent des Handelsvolumens einnahmen, waren es im zentralasiatischen ganze 60. Das lag u.a. daran, dass russische Produkte qualitativ kaum mit den europäischen konkurrieren konnten. Und obwohl der russische Binnen- gegenüber dem Außenhandel immer vorrangig geblieben ist, bemühte sich Petersburg nach dem Einzug kapitalistischer Wirtschaftsformen stets, den besitzenden Schichten günstige Bedingungen für eine Ausweitung von Gewerbe und Handel zu schaffen. Dessen ungeachtet belief sich der Prozentanteil des russischen Handels mit Asien (Türkei, Iran, China, Zentralasien) im Jahre 1825 auf nur 5,1 Prozent des gesamten Außenhandels-Volumens und zeigte kaum Aufwärtstendenzen. Hinzu kam ein defizitäres Verhältnis zwischen Export und Import: Die Kaufkraft der zentralasiatischen Bevölkerung war schwach, monetäre Warenumtausch-Verhältnisse kaum bekannt.
Die russische Regierung glaubte im asiatischen Handel dennoch eine Zukunftsoption auf die angestrebte Etablierung des Landes als Wirtschafts- und Handelmacht zu erkennen. Davon zeugt auch eine Note des russischen Außenministeriums von 1839: »Zentralasien hat für uns seit einiger Zeit eine besondere Bedeutung und lenkt daher zunehmendes Interesse unserer Regierung auf sich. Der Grund: Der anwachsende Handel und die steigende Manufakturproduktion erfordern [...] große Anstrengung in der Erschließung neuer Absatzmöglichkeiten für unsere Produkte.«[3]
Nach Zentralasien exportierten russische Kaufleute vor allem Baumwoll- und Wollprodukte, daneben Metallwaren und verschiedenartiges Geschirr. Eingekauft wurden Seidenprodukte, Farben und – in einem geringen Maße – die im Vergleich mit amerikanischer oder indischer minderwertige zentralasiatische Baumwolle. Nach Kasachstan, wo Landwirtschaft und Gewerbe nur schwach entwickelt waren, wurde aus Russland vor allem Brot eingeführt.
Der Weg nach Zentralasien begann für russische Kaufleute meist in Orenburg am Ural und führte durch die sog. »Kirgisische Steppe«, d.h. Kasachstan (die Kasachen wurden in offiziellen Dokumenten als Kirgisen bezeichnet). Die dort ansässige Bevölkerung gliederte sich in drei Stammesverbände: Die Kleine Horde im Westen, die Mittlere Horde in Zentralkasachstan und die Große Horde am Balchaschsee. In den 30er und 40er Jahren des 18. Jhs. hatten sich bereits die Kleine und Mittlere Horde der Oberhoheit Russlands unterstellt. In den 20er und 30er Jahren des 19. Jhs. geriet auch die Große Horde in den russischen Einflussbereich. Die Orenburger Befestigungslinie, in den 1730er Jahren errichtet, wurde durch den Bau neuer Forts schrittweise zur Mündung des Syrdarja hin verschoben. Die Macht der kasachischen Sultane wurde von der russischen Militärverwaltung tendenziell eingeschränkt, bis das Gebiet 1824 endgültig in Verwaltungseinheiten aufgeteilt und der russischen Administration des Generalgouvernements Omsk unterstellt wurde. In den Folgejahren betrieb Petersburg eine intensive Kolonisationspolitik, die bald den Wiederstand der lokalen Grundherren provozierte. Dabei handelte es sich meist um schlecht organisierte Einzelbewegungen, die – manchmal mit Unterstützung der zentralasiatischen Khanate – russische Siedlungen und Karawanen angriffen und plünderten.
Grundsätzlich war die russische Regierung daran interessiert, die Lage in der politisch zersplitterten, ständig von kriegerischen Auseinandersetzungen der angrenzenden Völker durchzogenen kasachische Steppe zu stabilisieren, um die Sicherheit der Handelsrouten zu gewährleisten. Eine tiefere Feindschaft mit den Kasachen, die in diese Aufgabe eingebunden werden sollten, suchte man daher zu vermeiden.
Auch die Unterhaltung politischer Beziehungen zu den zentralasiatischen Khanaten gestaltete sich nicht einfach. Das europäische System der diplomatischen Gesandtschaften war hier unbekannt, Kontakt wurde eigentlich nur im Fall von Grenzkonflikten oder inform von Gratulationen zu Thronbesteigungen aufgenommen. Manchmal vergingen Jahre, bis eine diplomatische Mission mit einer Gegenmissionen beantwortet wurde. Die russisch-zentralasiatischen Beziehungen blieben im Ganzen unregelmäßig und episodenhaft, was auf russischer Seite vor allem mit der geringen Kenntnis über die innere Verfassung der Khanate zusammenhing.
[...]
[1] G. Stephenson, Russia from 1812 to 1945. A History. S. 276
[2] R. A. Fadejew, Shest’desjat let Kawkazkoj wojny. Sobranije sochinenij. Bd. 1, S. 7
[3] Zitat nach: Kinjapina/Bliew/Degojew, Kawkaz i Srednjaja Azija wo wneshnej politike Rossiji, S. 214
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