In meiner Arbeit habe ich mich dem Problem der Vermittlung ‚fremder’ Kunst auseinandergesetzt. Die kritische Analyse galt dabei dem europäischen Blick auf die Werke anderer Kulturen, vor allem der afrikanischen. Ausgehend von den frühen Sammlungen zur Zeit des Kolonialismus habe ich versucht, die sich immer wieder wandelnden Bedeutungszuschreibungen an das ‚Exotische’ nachzuzeichnen und die damit verbundenen Konflikte der Rezeption herauszuarbeiten. Die Neubewertung nicht - westlicher Objekte durch die Künstler der europäischen Moderne weist dann den Weg auf den Schwerpunkt der Arbeit. Dieser befasst sich mit postkolonialen Vermittlungsansätzen, die anhand von 6 als beispielhaft zu bezeichnenden internationalen Großausstellungen analysiert werden. Hierbei werden Ansätze der ethnologischen Forschung, der Kunstwissenschaft sowie der Postcolonial Studies miteinander verknüpft um eine möglichst interdisziplinäre und offene Herangehensweise zu garantieren. Weil sich die westlichen Konzepte von ‚Kunst’ wie auch von ‚Geschichte’ von denen anderer Kulturen oft stark unterscheiden, wird deren Interpretation ein eigenes Kapitel gewidmet. Daraus ableitend ergibt sich die Frage der letzten Kapitel nach neuen Vermittlungsformen. Das ‚Musée du Quai Branly’ in Paris sowie das – geplante – Humboldtforum in Berlin stellen hier den Rahmen für die kritische Abschlussbetrachtung: Soll die Unterscheidung zwischen ethnografischen Objekten, Kunst - und Kult - Objekten beibehalten werden? Wie lassen sich die verschiedenen Konzepte von Kunst vermitteln und museal inszenieren? Wie interdisziplinär muss die museologische und kunstwissenschaftliche Forschung in Zukunft werden, bzw. wo liegen ihre Defizite? Wie lässt sich der hegemoniale Deutungsanspruch der immer noch stark ‚westlich’ geprägten Kunstwelt aufbrechen?
Inhaltsverzeichnis
1. BEGEGNUNGEN MIT DEM „FREMDEN“- KUNST IM PROZESS IHRER REZEPTION
1.1 DER BLICK AUS DER FERNE - ANEIGNUNG UND KONSTRUKTION „FREMDER“ KUNST IM KOLONIALISMUS
1.2 FORSCHUNGSGEGENSTAND UND ABSICHT: STRUKTURELLE KUNSTBETRACHTUNG
1.3 HISTORISCHER ABRISS DER SAMMLUNGSGESCHICHTE IM KOLONIALISMUS: DER MYTHOS VOM „EDLEN“ UND VOM „BÖSEN“ „WILDEN“
1.3.1 DER BEGRIFF DES „FETISCH“ ALS BEISPIEL FÜR DAS ABGELEHNTE „EIGENEN“ IM „ANDEREN“
1.3.2 ETHNOGRAPHISCHE SAMMELWUT
1.3.3 DIE WISSENSCHAFT VOM „ANDEREN“ : DIE ENTSTEHUNG DER ETHNOLOGIE
1.4 DIE EUROPÄISCHE MODERNE I: HÖHEPUNKT UND ENDE DES KOLONIALISMUS?
1.4.1 „TRAURIGE TROPEN“ ? TRAURIGE MODERNE!
1.4.2 EXOTISMUS - MOTOR DER MODERNE?
2. ‚KUNST’ ALS LEINWAND ODER: WAS IST KUNST- UND FÜR WEN?
2.1.1 DIE ENTWICKLUNG DES EUROPÄISCHEN KUNSTBEGRIFFS
2.1.2 UNIVERSALISMUS UND ‚ARS UNA’ : KONSTRUKTION EINER MENSCHHEITSÜBERGREIFENDEN KUNSTGESCHICHTE
2.2 EUROPÄISCHE MODERNE II: ABSCHIED VOM GEGENSTAND: REFLEXION ÜBER ABSTRAKTION UND ‚WILDES DENKEN’
2.3 UNIVERSALISMUS UND DIE FOLGEN FÜR DIE POSTMODERNE: EGALITARISMUS UND KULTURELLER FUNDAMENTALISMUS
3. VOM UNIVERSALISMUS ZUM PLURALISMUS, VOM EUROZENTRISMUS ZUM DEZENTRALISMUS: VON DER HYBRIS ZUR HYBRIDEN KULTUR
3.1 NEUE PERSPEKTIVEN AUF DIE FRAGE: WAS IST KUNST?
3.1.1 ETHNOZENTRISMUS UND DIE FOLGEN- DER KÜNSTLER ALS EUROPÄISCHES KONSTRUKT
3.1.2 SOZIALE FUNKTION(EN) VON KUNST IN SCHRIFTLOSEN GESELLSCHAFTEN
3.2 ANDERE KUNSTGESCHICHTEN
3.3 KULTUR UND MACHT
3.3.1 WER HAT KEINE ANGST VORM „SCHWARZEN MANN“ ? ÜBER DIE UNMÖGLICHKEIT DES ‚RASSE’ - BEGRIFFS
3.3.2 KULTURRELATIVISMUS
3.4 HYBRIDITÄT UND KREOLISIERUNG: NEUE KONZEPTE (WECHSELSEITIGER) ANEIGNUNG
3.5 (RE-) PRÄSENTATION ALS PROBLEM. DÜRFEN WIR „ANDERE“ AUSSTELLEN?
4. VON DER MAGIE ZUR POLITIK- NEUERE AUSSTELLUNGSPRAXIS VON ‚LES MAGICIENS DE LA TERRE“ BIS HEUTE
4.1.1 DEZENTRALISIERUNG DER MACHTVERHÄLTNISSE UND DER BEGRIFF DER ÄSTHETIK IM ‚EMPIRE’ (NEGRI/HARDT)
4.1.2 KUNST UND KÜNSTLERISCHE IDENTITÄT IM ZEITALTER DER GLOBALISIERUNG: DIE INTERNATIONALISIERUNG DER KUNST
4.2 INTERNATIONALE AUSSTELLUNGEN MIT DEM SCHWERPUNKT NICHT - WESTLICHE KUNST: VERSUCH EINES DISKURSANALYTISCHEN VERGLEICHES .
4.2.1 LES MAGICIENS DE LA TERRE UND FOLGEN
4.2.2 49. & 50. BIENNALE VON VENEDIG
4.2.3 DOCUMENTA 11 & DOCUMENTA 12
4.3. KRITIK DER AUSSTELLUNGSPRAXIS - KRITIK AN WESTLICHEN FORMEN DER PRÄSENTATION ALS UMGANGSNORM
4.3.1 WAHRNEHMUNG UND BEDEUTUNGSKONSTRUKTION IM MUSEALEN KONTEXT
4.3.2 ANALYSE DES SEHENS
5. NEUE FORMEN DES TRANSFERS UND DER VERMITTLUNG: MUSÉE DU QUAI BRANLY UND ETHNOLOGISCHES MUSEUM DAHLEM ZU BERLIN
6. SCHLUSSBETRACHTUNG
BEGRIFFSERLÄUTERUNGEN
LITERATURNACHWEISE
1. Begegnungen mit dem „Fremden“- Kunst im Prozess ihrer Rezeption
“Ceci n’est pas une pipe”. So betitelte René Magritte eines seiner bekanntesten Bilder. Darauf zu sehen ist: nichts anderes als eine schlichte Tabakpfeife. Was das Bild des Surrealisten verdeutlicht ist, welche Transformation seiner Bedeutung ein Gegenstand im Prozess seiner Abbildung erfährt. Ein und dasselbe Objekt kann unterschiedliche Aussagen vermitteln - je nachdem, welchen Zweck es erfüllt. Durch seine gestalterische Verwertung kann aus einem banalen Alltagsutensil Kunst werden. Und ebenso kann sich die Aussage von Abbildern je nach dem Kontext ihrer Präsentation grundlegend verändern. Somit bedeutet dasselbe Bild in einer Kirche möglicherweise etwas völlig anderes als im Weißraum eines Museums. Das, was Menschen in Museen betrachten hat, so Magrittes These, mit der abgebildeten Wirklichkeit nur noch wenig zu tun. Im musealen Zusammenhang ergibt sich eine neue Bedeutungszuschreibung der ausgestellten Objekte. Was Magritte und später auch Marcel Duchamp, Andy Warhol und andere - größtenteils westliche - Künstler der 40er, 50er und 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts mit dem Transfer profaner Alltagsgegenstände in die musealen Tempel verdeutlichen wollten, war die Konstruierbarkeit von Kunst. Sie schöpften dabei aus ihren eigenen gesellschaftlichen Kontexten und regten somit eine Reflexion über die Wahrnehmung von Kunst an. Kunst stellt jedoch nicht nur einen Prozess der Deutung oder Erfindung von Realitäten durch den Künstler dar. Auch die Rezeption und Aneignung durch den einzelnen Betrachter sowie ihre jeweilige sozialen Funktionen tragen zum „Konstrukt Kunst“ bei.
1.1 Der Blick aus der Ferne - Aneignung und Konstruktion „fremder“ Kunst im Kolonialismus
Wie sich aus den bisherigen Ausführungen ergibt, hatte es Bedeutungstransfers und Neuzuschreibungen auch jenseits theoretischer künstlerischer Auseinandersetzung gegeben. Zunächst sind Magritte, Duchamp und Warhol Akteure einer okzidental geprägten Kunstwelt, und die Institution Museum, deren Macht sie mit der Ausstellung profaner Alltagsgegenstände infrage stellten, gilt ebenso als Erfindung der Abendlandes. Dieser Aspekt ist für die vorliegende Untersuchung zentral. Denn wenn solche Prozesse einen derart großen Einfluss auf unsere Wahrnehmung des vermeintlich Vertrauten- zum Beispiel Magrittes Pfeife - haben, dann ist anzunehmen, dass es sich bei der Rezeption des Fremden ebenso verhält. Durch die Unterwerfung fremder Kulturen während der Kolonisation waren die Europäer in Kontakt mit dem gestalterischen Schaffen anderer Gesellschaften gekommen. Die Bewertung dieser „fremden“i Kunst ist so wechselvoll wie geprägt von Missverstehen. Sie reicht von ablehnenden Beschreibungen wie „primitiv“, „wild“ oder „naiv“ über exotisierende Überformungen und der Idealisierung ihrer angeblichen „Ursprünglichkeit“ bis hin zu postmodernen, vermeintlich aufgeklärten Betrachtungsweisen. Gemein ist all diesen Formen der Rezeption ihr „Blick aus der Ferne“ (Lévi- Strauss 1993). Auch die Definitionen der „eigenen“, im Kontext dieser Arbeit also der europäischen oder westlichen Kunst, schärfen sich an dem, was - aus „unserer“ Sicht - das „Andere“ ist. Die anfängliche Ablehnung und das Befremden angesichts fremder Kulturpraktiken entwickelten sich, nicht zuletzt bedingt durch sozio- psychologische Gründe, bald zu einer Faszination. Der Philosoph Hinrich Fink- Eitel nennt hier beispielsweise das kollektiv empfundene Schuldbewusstsein über die „eigenen“ Grausamkeiten während der Kolonisation. Dass jedoch die in Reaktion darauf entstehende Begeisterung für das Unbekannte, Exotische nicht zum tatsächlichen Verständnis des, bzw. für die „Anderen“ führte, sondern im Gegenteil die hegemoniale Vormachtstellung mit konstituierte, ist Gegenstand des Kapitels 1.0. Der Exotismus der Kolonialzeit hatte andere Motive als jener, der von den Künstlern der europäischen Avantgarde zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts formuliert wurde, Zwar ist Beidem eine Romantisierung der „fremden“ Lebensverhältnisse zueigen, dem Exotismus der Moderne steht jedoch zugleich ihr Universalitätsanspruch gegenüber. Mit diesem beschäftigt sich Kapitel 2.0 und zugleich bezieht sich die Gegenüberstellung von Assimilation und Exotismus im Titel dieser Arbeit auf diese dualen Bestrebungen zwischen der Angleichung und kulturellen Verwertung des „Fremden“ und dem zugleich empfundenen Wunsch der Allgemeingültigkeit. Der imperialistische Machtanspruch der Europäer drückte sich nicht allein in politischem, bzw.
territorialem Überlegenheitsdenken aus, sondern auch im Umgang mit der Kunst der „Anderen“. Den Künstlern der Moderne galt sie als Inspiration, als frischer Impuls und Abgrenzung zu den Dogmen der Akademien. Ihre Methoden und Motive der Aneignung glichen jedoch denen der politischen Eroberer.
Sowohl Fremdes als auch Eigenes sind somit sich gegenseitig konstituierende Konstrukte, so der postmoderne wissenschaftliche Konsens. Was das aber für die konkrete Ausstellungspraxis bedeutet und wie mit der Pluralität der Bedeutungen von Kunst umgegangen werden kann, wird in Kapitel 3.0 behandelt. Die unterschiedlichen Auffassungen von Kunst und ihrer Historizität spielen hier mit dem Faktor der Macht, welcher bereits in Kapitel 1.0 durch die Auseinandersetzung mit dem frühen Kolonialismus relevant wird, eng zusammen. Leitend für das gesamte Kapitel ist die unter anderem von Volkenandt aufgestellte These, das Konstrukt Kunst sei ein westliches Label, welches es neu zu verhandeln gilt. Wer darf in Folge dieser Erkenntnis wen ausstellen, und wer für sich beanspruchen das „Andere“ zu verstehen? Wie stark ist das westliche Verständnis von Kunst geprägt durch die Struktur der Eigen-fremd-Konstruktion? Forschungsziel dieser Arbeit ist, mithilfe eines an die Methode der Diskursanalyse angelehnten Vergleichs aufzuzeigen, wie das, was als „fremde“ bzw. als „eigene“ Kunst gilt, konstruiert wird Besondere Aufmerksamkeit wird hierbei auf eventuelle Beeinflussungen durch Rassismen gelegt werden. Forschungsgegenstand ist dabei die Vermittlung sowie die Rezeption zeitgenössischer Afrikanischer Kunst in Europa. Durch den Vergleich signifikanter Ausstellungen soll der Wandel in der Praxis veranschaulicht werden. Theoretische Grundlage stellt dabei eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit Forschungen sowohl aus der (Kunst-) Ethnologie als auch aus der Kunstgeschichte, bzw. der Kunsttheorie dar. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei der Kooperation zwischen diesen beiden Wissenschaftsfeldern beziehungsweise den hier vorhandenen Defiziten. Eine ernsthafte Auseinandersetzung müsste durch Synergien beider Disziplinen geführt werden, was bislang jedoch versäumt wurde. Ausgehend von der Frage nach einer „Global Art“, also der Existenz einer postkolonialen zeitgenössischen Kunst, soll deren Rezeption innerhalb des immer noch vom westlichen Kunstbegriff geprägten Systems befragt werden. Leitend für diese und alle sich im Fortgang dieser Arbeit ergebenden Analysen soll die Frage nach der Konstruiertheit von Begriffen sein. Bedingt durch die hegemoniale Ausdehnung des westlichen Kulturverständnisses sowie die gewaltsame Aneignung des „Fremden“ gilt es, die Notwendigkeit einer postkolonialen Neuschreibung der Kunstgeschichte zu diskutieren. In diesem Zusammenhang soll der Begriff der Postkolonialität in der vorliegenden Arbeit neu gedacht werden, um ein diskursives Verharren in alten Strukturen zu vermeiden. Denn solange der Diskurs innerhalb der alten Strukturen und unter den Voraussetzungen und Begrifflichkeiten des westlichen „Wertekanons“ geführt werden, ist der Kolonialismus nicht überwunden.
Zugespitzt lautet die in dieser Untersuchung behandelte Frage also: Können „wir“ „fremde“ Kunst verstehen? Übergeordnet lässt sich die Fragestellung der Autorin in den Themenkomplex postkolonialer Theorien einordnen. Ein Abriss über ihre Entstehung und Entwicklung innerhalb der letzten 20 Jahre sowie ihre gegenwärtigen Positionen stellen somit den dritten Teil der vorliegenden Arbeit dar. Ziel der Arbeit ist es nicht, originäre Positionen kultureller Identität auszumachen, sondern vielmehr die komplexen Verstickungen zu analysieren, die ihre Bedingung in den historischen Machtverschiebungen während der Kolonialzeit haben. Die tatsächlich viel weiter zurückreichende Geschichte interkultureller Begegnungen und gegenseitigen Austauschs nachzuzeichnen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Kurz soll daher an dieser Stelle betont werden, dass Kunst nicht erst mit der Einführung des Begriffs durch die Cultural Studies „hybrid“ wurde, sondern immer erst im Austausch mit dem „Andren“ entsteht und entstand. Somit kann eine Definition dessen, was „fremd“ und was „eigen“ ist im postkolonialen Globalisierungszusammenhang nicht länger die (inter-) kulturellen Diskurse bestimmen. Wenn heute von „Weltgegenwartskunst“ gesprochen wird, (Volkenandt, 2004) so darf dabei nicht die Historizität des Kunstbegriffes außer Acht gelassen werden. Der europäische Kunstbegriff ist eben nicht allein spezifisch europäisch oder westlich, er hat, seit der Kolonisation Hegemonialcharakter. Zwar haben Postkolonialismus und postmoderne Debatten Ansätze zu einem Pluralismus der Kunstgeschichten hervorgebracht. Somit kann der europäische Umgang mit der globalen Kunstgeschichte nur als eine unter vielen „(...) Möglichkeiten des Verstehens (...)“ bewertet werden. (Volkenandt, 2004: 22 )
Die Notwendigkeit alternativer Kunstgeschichtsschreibungen, die von der Literaturwissenschaftlerin Gayatry Spivak und dem Ethnologen Christian Kaufmann ebenso gefordert wie von dem Künstler und Kunstkritiker Racheed Araeen oder dem Kurator Chris Dercon, werden in Kapitel 4.0 erörtert werden. Was genau mit Objekten geschieht, die ihrem Ursprungszusammenhang entnommen werden um von „Fremden“, in diesem Fall den Europäern, gerahmt und klassifiziert zu werden, bildet die Ausgangsfrage der gesamten Arbeit. In historischer wie auch wissenschaftstheoretischer Hinsicht haben sich Wahrnehmung, Bewertung und Umgang mit „exotischer“ Kunst immer wieder gewandelt, und werden es auch weiterhin. Diese Arbeit wird daher - aufgrund des begrenzten Raumes in stark vereinfachter Form- die verschiedenen Phasen westlicher Rezeptionsparadigmen nachzeichnen somit den Wandel westlicher Zuschreibungen fremder Kunst.
Welche Konsequenzen die - vermeintlich wohlmeinende - Aufnahme ethnographischer Objekte und Kunstwerken aus den kolonisierten Gebieten in das westliche Label „Kunst“ hatte und bis heute hat, wird abschließend in Kapitel 5.0 behandelt. Hier wird anhand aktueller Diskussionen um die Ausstellungspraxis die Frage lauten: Ist der Anspruch an die „Andersartigkeit“ nicht- westlicher Kunst heute überhaupt noch zu rechtfertigen oder führt er vielmehr eine exotisierende und romantisierende Geisteshaltung des okzidental geprägten Kunstbetriebs und des Publikums fort? Gibt es heute etwas, das sich als Global Art bezeichnen lassen könnte, oder ist dies nichts weiter als die „(...) zweckgerichtete Konstruktion eines gierigen westlichen Kunstbetriebs auf der Suche nach Selbsterneuerung?(...)“ (Brüderlin in: Volkenandt 2004: 123)
An dieser Stelle soll bemerkt werden, dass in der vorliegenden Arbeit zwar eine Vielzahl künstlerischer Strömungen und Positionen erwähnt und zur Veranschaulichung heranzieht. Dennoch ist nicht „Kunst“ das Thema dieser Arbeit, sondern das westliche Verständnis davon. Somit stellt auch der Vergleich der Ausstellungspraktiken in Kapitel 4.0 - 5.0 nicht den gesamten Forschungsgegenstand dar. Er dient in seiner Knappheit lediglich zum Verständnis der jüngsten Tendenzen der Rezeption ‚fremder’ Kunst.
1.2 Forschungsgegenstand und Absicht: Strukturelle Kunstbetrachtung
Kunst als Kulturprodukt bezieht Stellung zur Kultur ihrer jeweiligen Zeit. Was unter „Kunst“ verstanden wird, ändert sich somit ständig. Dass kein Kunstwerk weder ein historischer noch ein ästhetischer Einzelfall ist, sondern immer parole, aktueller Ausdruck der zugrunde liegenden langue, also des kulturellen, sozialen historischen und politischen Kontexts ist, gilt heute als Allgemeinplatz. Dennoch wurde Kunst, europäischer und außereuropäischer („fremder“) Kulturen lange ausschließlich innerhalb der europäischen Denkstrukturen bewertet und eingeordnet. Dass der westliche Kontext, also das spezifische historische Bewusstsein und die ästhetischen Traditionen der Kolonisatoren jedoch eine eigene langue im Kanon aller Sprachen darstellt, wurde aufgrund der eigenen Dominanz über Jahrhunderte ignoriert. Erst mit der Moderne gelang ein Paradigmenwechsel. Die Kunst der unterworfenen Völker galt nicht mehr allein als „ primitiv “ - im Gegensatz zur westlichen „ Hochkultur “. An die Stelle der jahrhundertealten Tradition der Ablehnung, bzw. Abwertung des kulturell Fremden als „exotisch“, „ursprünglich“, oder „authentisch“ entstand zunächst ein euphemisierender Exotismus. Die europäische Künstleravantgarde ‚entdeckte’ die Kunst der Kolonien auf ihrer Suche nach neuen Formen und Ausdrucksmöglichkeiten. Mit den beiden Weltkriegen endete die klassische Moderne mitsamt ihrem Universalismusanspruch. Die Umsetzung ihrer Ideale muss aus dieser Perspektive als gescheitert, die lange behauptete moralische Überlegenheit der westlichen „Zivilisationen“ gegenüber den indigenen Naturvölkern - auch vom Westen selbst- infrage gestellt werden. Im Zuge postkolonialer Befreiungskämpfe erhoben außereuropäische Theoretiker die Forderung nach einer Neuschreibung der Geschichte jenseits des eurozentristischen Dogmas. Dass sich das weltweite Mächteverhältnis langfristig verschiebt, zeigen die Kämpfe der Postmoderne - als Beispiele seien nur der Nah- Ost- Konflikt oder der Aufstieg der Wirtschaftsmächte Indien und China genannt. Die Entgrenzung der Märkte muss zugleich eine Entgrenzung der kulturellen Deutungshoheit bedeuten. Ob der Euro- und Ethnozentrismus sich in den von ihm selbst entworfenen Marktgesetzen auflösen wird, bleibt noch abzuwarten. Aber die Hochzeit dieser Geisteshaltung ist vorüber und dies bietet die Chance einer völlig neuen Betrachtung von Kunst: Wenn Kunstwerke sprachlicher Ausdruck ihrer historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Gebundenheiten sein sollten, können sie dann- durch Kenntnis derselben- neu entziffert werden? Spielen derartige Determinierungen auf dem zeitgenössischen Kunstmarkt überhaupt noch eine Rolle oder sind sie, wie Akteure der internationalen Kunstwelt gerne behaupten, längst überholt. An der Spitze der zeitgenössischen Kunst finden sich heute selbstverständlich Künstler, Kuratoren und Kritiker aus außereuropäischen/ nicht- westlichen Ländern. Jenseits der diskursiven Ebene der Avantgarde zeigen sich jedoch auch heute noch nach ‚fremd’ und ‚eigen’ kategorisierende Wahrnehmungsmuster.
1.3 Historischer Abriss der Sammlungsgeschichte im Kolonialismus: Der Mythos vom „edlen“ und vom „bösen“ „Wilden“
Als durch ein historisches Zusammenfallen von technischen und politischen Entwicklungen die Überbrückung auch größerer räumlicher Entfernungen - und somit die geographische Erschließung der Erde - möglich wurde, vergrößerten sich die wahrgenommene Differenzen zwischen der von den Europäer bis dahin als „eigen“ definierten Kultur und jenen der „neu entdeckten“ Gesellschaften. Die als „fremd“ und „archaisch“ empfundenen Lebensformen der indigenen Bevölkerungen in Afrika, den beiden Amerikas und im ozeanischen Raum wurden zunächst objektiviert und somit die Herausforderung einer echten Auseinandersetzung umgangen. In einem dialektischen Verhältnis aus Unterwerfungswillen und dem schlechten Gewissen darüber, schrieben die Eroberer den „Wilden“ all jene Eigenschaften zu, die sie in ihren eigenen Kulturen überwunden zu haben glaubten. Der „Wilde“, bzw. die indigenen Völker, wurden somit einerseits als kulturell unterlegen diffamiert, andererseits „(...) über Jahrhunderte hinweg zum Sinnbild der Hoffnung auf Heilung einer kultur- und zivilisationskranken Welt.(...)“ (Dietrich 2001: 31) Hier manifestierte sich jene Doktrin, die „(...) in den intellektuellen und moralischen Merkmalen, die einem Komplex von Individuen zugeschrieben werden (wie immer man diesen Komplex definiert), die zwangsläufige Auswirkung eines gemeinsamen genetischen Erbgutes zu sehen behauptet. (...)“ (Lévi- Strauss, 1993: 14). Die „Primitivität“ der Naturvölker wurde als biologischer Determinismus, bzw. als gottgegeben aufgefasst. Diese Annahmen bilden bis heute das Fundament für rassistische Diskurse, auf deren Anpassung an die sich wandelnden geisteswissenschaftlichen Paradigmen in Kapitel 3.3.2 näher eingegangen wird. Nach Lévi- Strauss ist es noch nicht strafbar, eine bestimmte Art, zu leben und zu denken über alle anderen zu stellen, und sich von der anderer weniger angezogen zu fühlen. Der Ethnologe spricht in diesem Zusammenhang von einer „relativen Unansprechbarkeit“ (Lévi- Strauss ebd.) gegenüber Lebensweisen, welche weitgehend von jener entfernt sind der man durch Tradition verhaftet sei. Dies, so betont er, gilt jedoch nur, solange jene „anderen“ Werte beziehungsweise deren Repräsentanten nicht unterdrückt oder benachteiligt werden. Als eine positive Konsequenz dieser Unempfänglichkeit für fremde Werte betont er sogar den Erhalt und die Stärkung der Wertsysteme jeder (...)“ geistigen Familie oder Gemeinschaft (...)“ (Lévi- Strauss, ebd.). Erst in der Abgrenzung vom ‚Anderen’ manifestiert sich die eigene Identität. Die Verschiedenheit zwischen den menschlichen Gesellschaften sei zum Teil dem Bedürfnis jeder Kultur geschuldet, sich von anderen Kulturen zu unterscheiden. (Lévi- Strauss, ebd.). Kann dies letztlich dahingehend gedeutet werden, dass kulturelle Verschiedenheit weniger naturgegebene Tatsache als vielmehr Resultat der Identitätsgenese einzelner sozialer Komplexe ist? Somit wären also die einzelnen Kulturen nicht aufgrund ihres Erbgutes und ihrer Herkunft verschieden von anderen, sonder unterschieden sich, um überhaupt zu einem eigenen Komplex zu werden. Ohne die ‚Anderen’ zu ignorieren, ja sogar durch gelegentlichen Austausch, entsteht Identität- soziale, kulturelle wie auch individuelle- immer erst durch Abgrenzung, quasi in Form einer Definition ex negativo. ‚Ich bin nicht, was Du bist’ Somit kann kulturelle Identität immer als Konstrukt verstanden werden, als etwas von Menschen zur Konstituierung und Verortung der eigenen Identität) geschaffenes. Der Mythos vom „bösen Wilden“ der als „unzivilisiert“ und „primitiv“ beschrieben wurde, erfüllte somit den Zweck der Legitimation des eigenen Herrschaftsanspruches der europäischen Eroberer. Die fast vollständige Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner und ebenso die Verschleppung und Versklavung der Einwohner Afrikas konnten durch diese Zuschreibungen in derartiger Brutalität und Konsequenz vollzogen werden (vgl. Fink- Eitel 1994: 9). Denn: „(...) Im Gegensatz zu bloßem Kontakt duldet Herrschaft kein Gefühl für kulturelle Gleichwertigkeit. (...)“ (Wallerstein 2006: 43) Allerdings hat der Mythos des ‚Edlen Wilden’ seinen Ursprung nicht nur in der Absicht Unterwerfung zu legitimieren. Er stellt auch einen Versuch dar, das schlechte Gewissen der Eroberer ruhig zu stellen. „(...) Die empfindsamen Europäer litten an der blutigen Gewalt, die die „eigene“ Gesellschaftsordnung auf andere ausübte.(...)“ (Fink- Eitel, 1994: 9.) Hier begründet sich auch der Exotismus, die Romantisierung und Idealisierung des als ‚ursprünglich’ und ‚unschuldig’ erscheinenden Fremden als kritischer Gegenentwurf zur eigenen Kultur. Soweit dieses Konzept des „Edlen Wilden“ „(...) in einer bloßen Umkehrung der herrschenden Werte (...)“ (Fink- Eitel, ebd.: 10) bestehe, bleiben die beiden Vorstellungen vom ‚Fremden’ untrennbar miteinander verbunden und zugleich den herrschenden Werten verhaftet. Während die Tradition des ‚Edlen Wilden’ in der strukturalen Ethnologie von Lévi- Strauss kulminiere, liefe die des „bösen Wilden“ über Nietzsche und Heidegger auf Foucault zu, meint Fink- Eitel. Bei Nietzsche ist ‚der Wilde’, jenseits von gut und böse, vermeintlicher Ausdruck der reinen, unzivilisierten Natur des Menschen; bei Foucault sind ‚die Wilden’ der eigenen, der europäischen Kultur immanent. Sowohl im Falle der Verklärung, als auch in dem der Ablehnung führten immer auch Neugier und Faszination für ‚fremde’ Lebenswelten zu einer Auseinandersetzung mit dem „Anderen“. Den Eroberern folgten Forscher, welche sich den fremden Gesellschaften der Indigenen zumindest mit naturwissenschaftlichem Interesse zuwandten.
1.3.1 Der Begriff des „Fetisch“ als Beispiel für das abgelehnte „Eigenen“ im „Anderen“
Kaum ein Begriff der europäischen Mythenbildung um Afrika hat eine so lange Geschichte wie der des „Fetisch“. Innerhalb der westlichen Diskurse transformierten die Bedeutungszuschreibungen von anfänglicher Ablehnung über ein zunächst anthropologisches Interesse bis hin zu einer ästhetischen Rezeption. Der Ursprung des Begriffs für jenes angeblich traditionalen Symbols westafrikanischer Kulte ist jedoch portugiesisch: feitico (Schneider 1891: 169) So wurde während der Inquisition im europäischen Mittelalter, als die kirchliche Verfolgung von Teufelsanbetung und Götzenverehrung ihren Höhepunkt hatte die „Hexerei“ bezeichnet. (vgl. Malefakis 2007 : 16)
Feiticeiros waren also zunächst jene Hexer, welche mithilfe sakraler Gegenstände rituelle oder satanische Riten vollzogen. Eben diese von der katholischen Kirche so sehr verabscheuten Riten glaubten portugiesische Seefahrer in den Gesellschaften der westafrikanischen Küste anzutreffen, die sie bei ihren Entdeckungsreisen etwa hundert Jahre später erreichten. Die in den „eigenen“ Gesellschaften als destabilisierend bezeichneten und daher abgelehnten Praktiken wurden in den als „fremd“ und somit bedrohlich empfundenen Kulturen Westafrikas vermeintlich wieder erkannt und das „eigene“ soziale Unterbewusste dorthin externalisiert.
1.3.2 Ethnographische Sammelwut
„ (...) Aber die Kultur im Sinne kultureller Artefakte zu erhalten ist etwas anderes, als eine ganze Kultur bewahren(...) “ (Appiah 2007: 133)
Jene Zuschreibung, die westafrikanische Objekte als ‚Fetische’ klassifizierte, stellte erst den Beginn einer ‚Migration der Objekte’ durch verschieden Bedeutungszusammenhänge dar. (vgl. Malefakis 2007: 16) In diesem Kapitel werden die kulturellen und politischen Motive, die für einen ersten Wandel der ästhetischen Wahrnehmung verantwortlich waren. Denn nach der Entdeckung ‚Schwarzafrikas’ durch die Europäer gelangten Artefakte der verschiedenen Völker sehr schnell in die „(...) Schatzkammern der Potentaten.(...)“ (Koloss 1999: 9) Ohne die europäische Kunst zu beeinflussen, wurden Masken und Figuren neben Alltagsgegenstände in die damals beliebten Kuriositätenkabinette gestellt. Dort fanden sich ebenso ausgestopfte wilde Tiere, antike Möbel oder Groteskes der „eigenen“ Kultur. Was Forscher, Missionare oder Eroberer von ihren Reisen mitbrachten, wurde ohne weitere Klassifikation angehäuft. Erst ab 1890 gelangte eine größere Zahl völkerkundlicher Objekte in die Museen, jedoch noch nicht aufgrund ihres ästhetischen Wertes, sondern vielmehr als Trophäen, mit denen die eigene militärische, politische und eben auch kulturelle Überlegenheit demonstriert wurde. Die evolutionistische Auffassung von Kultur betrachtete die „eigene“ also westliche Form der Zivilisation als vorläufige höchste Stufe kultureller Entwicklung, welche von den indigenen Völkern der Kolonien „noch nicht“ erreicht war. Diese Zuschreibungen der „Kulturlosigkeit“ prägten die Anfänge der Kolonialzeit. Ein Sinn für „fremde“ Ästhetiken entwickelte sich nach Hans- Joachim Koloss erst, als britische Truppen um 1897 Bronzearbeiten aus Benin mitbrachten. Diese waren von einer technischen und künstlerischen Qualität, die es den Europäern schwer machte, weiter von einer völligen „Kulturlosigkeit“ afrikanischer Gesellschaften auszugehen. Zunächst wurden daher ägyptische, griechische oder portugiesische Einflüsse vermutet,
1.3.3 Die Wissenschaft vom „Anderen“ : die Entstehung der Ethnologie
Aufgrund des begrenzten Platzes wird an dieser Stelle die Entwicklungsgeschichte der Ethnologie- also der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem oben genannten Begriffspaar „fremd“ - „eigen“ auf den okzidentalen Raum beschränkt bleiben. Da es in dieser Arbeit um die westliche Aneignung des „Fremden“ geht, werden nichtwestliche Wissenschaftsströmungen dabei nicht näher erläutert. Bei näherer Analyse dieser stark dialektischen Beziehung bzw. Genese der Begriffe „eigen“ und „fremd“ zeigt sich, dass auch empirische Untersuchungen bzw. eine vorgeblich wertneutrale Annäherung an das „Fremde“ immer zugleich getrübt sind von Erwartungen, Ängsten und dem zwiespältigen Wunsch, im „Anderen“ das „Eigene“ zu entdecken und sich zugleich von ihm zu unterscheiden. Dieser Komplex individueller Vorstellungen wiederum speist sich aus sozialen und kulturellen Gegebenheiten der Herkunftsgesellschaft der Forscher. Wissenschaftliche Entdeckungsreisen waren keine Konsequenz neuzeitlicher Eroberungen und der ‚Entdeckung’ der ‚Neuen Welt’. Bereits ab etwa 500 v. Chr. entsandten europäische Könige oder Stadtstaaten Seeleute und Handlungsreisende, aber auch Geographen. (vgl. Müller in: Fischer 1992: 24) Bald entstand ein Interesse an „fremden“ Gesellschaften, das über „(...) Verwunderung, Abscheu oder Belustigung (...)“ (Müller in: Fischer ebd.) hinausging. Hier setzt demnach die Geschichte der Ethnologie ein. Im okzidentalen Kulturraum ist diese Entwicklung am stärksten durch die griechische Antike überliefert, aus der auch der Begriff ‚Ethnos’ stammt. Er wurde nur für „(...) nichtgriechische Menschengruppen, das heißt für solche mit einer anderen „Daseinsform“ (...)“ (Rudolph in: Fischer 1992: 59) verwendet. Die Bezeichnung ihrer Fremdartigkeit enthielt bereits hier eine Minderbewertung, die jedoch nicht auf die griechische Rezeption anderer Menschengruppen beschränkt war. (vgl. Rudolph, ebd.) Woher diese Diversität rührte und welche Bedeutung sie für die Beurteilung der eigenen Kultur hatte, waren die Ausgangsfragen, mit denen sich die frühen Ethnologen beschäftigten. Infolge neuzeitlicher Entdeckungsreisen wurden sie neu formuliert, waren in ihren Antworten denen der griechischen Denker jedoch oft ähnlich und, wie Müller meint, „selten schlüssiger begründet“ (Müller in: Fischer 1992: 25) Mit der Römerzeit schwand das Interesse an Ethnologie trotz der zahlreichen Eroberungsfeldzüge und den damit einhergehenden Kontakten zu anderen Menschengruppen. Verstärkt wurde nun bei der Beschreibung der „Anderen“ Wert auf „(...) Absonderliches, Kuriositäten und Wundergeschichten(...)“ (Müller ebd.: 30) gelegt. Diese Form des ‚Entrückens’ des Fremden ins ‚Fabelhafte’ setzte sich im europäischen Mittelalter fort, was zum einen mit der geringen Alphabetisierung zusammenhing, zum anderen mit der sinkenden Reisebereitschaft über die Grenzen des Mittelmeerraumes hinaus. Durch die gesellschaftsprägende Macht der Kirche ging das „konkret- ethnographische“ Interesse an den „ungläubigen Barbaren“ im europäischen Früh- und Hochmittelalter weiter zurück. Analogien zu dieser Haltung finden sich zeitgleich auch im arabischen Raum. ii In der westlichen Welt entwickelte sich die Ethnologie erst mit den Entdeckungsreisen der Portugiesen, Spanier und Engländer ab dem späten 15. Jahrhundert weiter. Nachdem man in den neu entdeckten Gebieten nicht auf die - von den Römern beschriebenen und den Gelehrten des Mittelalters kritiklos übernommenen-„(...) monströsen Fabelwesen(...)“ (Müller in: Fischer 1992: 32) stieß, sondern auf ‚richtige Menschen’ (vgl. hierzu Müller, ebd.) wurden die ethnologischen Studien- zunächst von Seiten der Missionare- wieder aufgenommen. Die Beurteilung der fremden Kulturen durch die Europäer war zunächst von stark evolutionistischen Paradigmen geprägt. Die indigene Bevölkerung der ‚neuen Welt’ galt als zivilisatorisch unterentwickelt, in einer Art „Naturzustand“ befindlich, den es zu überwinden galt. Trotz des seit der Aufklärung erstarkten Interesses an „fremden“ Kulturen entwickelte sich die Ethnologie als eigenständige Wissenschaft erst mit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Nach dem ersten Weltkrieg wurden Feldstudien zur gängigen Methode der Ethnologie. Die stark selbstreflektive und selbstkritische Forschungsansätze der jüngeren Ethnologie führten zusammen mit dem Verschwinden der „weißen Flecken“ auf den Landkarten und den globalisierenden Prozessen um etwa 1960 zur „Krise der Ethnologie“. Das Schwergewicht der Forschungen wurde auf die sozialen und religiösen Kulturbereiche gelegt - ein Programm, in dem auch die Kunst eminente Bedeutung hätte erlangen müssen. Kunst blieb in der Erforschung der „fremden“ Kulturen für die Ethnologie jedoch ein vernachlässigtes Teilgebiet. Da zu Beginn der ethnologischen Forschung vieles, was heute Kunst ist noch unter „materielle Kultur" fiel, wurden „(...) Objekte ihres vornehmsten Charakters beraubt.(...)“ (Koloss 1999: 11 ) „(...) Dass darunter auch die bessere Erfassung anderer Kulturbereiche litt, wurde lange nicht erkannt. (...)“ (Koloss, ebd.) Allerdings wurde afrikanische Kunst ebenso von den europäischen Kunstwissenschaften lange nur peripher behandelt. Bis in die sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts galten Kunst und Kunstausstellungen bei einigen Ethnologen als überflüssiges Beiwerk: "Das Völkerkunde-Museum ist kein Museum für primitive Kunst - mögen die ethnographischen Objekte zum Teil auch noch so kunstvoll gestaltet sein. Sich ihnen auch auf ästhetischem Wege anzunähern, steht jedem Besucher frei".(von Luschan; zitiert in: Koloss 1999: 11) Heute wird die Kunst der ehemaligen Kolonien nicht mehr als von den drängenden sozialen, gesellschaftlichen oder politischen Problemen isoliertes Phänomen betrachtet. Ethnologie und Kunstwissenschaft haben begonnen, ihre Defizite auf diesem Forschungsgebiet zu erkennen. Zeitgenössische Künstler mögen durch ihre Auseinandersetzung mit den veränderten Lebenswirklichkeiten dazu beigetragen haben. Auf Tendenzen einer Politisierung der zeitgenössischen internationalen Kunst wird in Kapitel 4.1 näher eingegangen.
1.4 Die europäische Moderne I: Höhepunkt und Ende des Kolonialismus?
Der Wandel der europäischen Gesellschaften von stark klerikal geprägten Gesellschaften hin zu säkularen Nationen hatte entscheidenden Einfluss auf die ästhetischen Theorien und Praktiken. Als ‚Kunst’ galten fortan nicht länger allein jene Objekte, deren weihevoller Charakter eine Verbindung zum Transzendenten versprach. Vielmehr wurde Kunst mit der Zeit selbst zur transzendenten Erfahrung. Als Beispiel für diese Entwicklung soll wiederum Duchamp erwähnt werden, der, wie der Philosoph Arthur C. Danto schreibt, „(...) im Sinne eines kunstgeschichtlichen Vorläufers der erste gewesen (sei), der das subtile Wunder vollbrachte, Objekte aus der Lebenswelt, aus ihrer banalen Existenz in Kunstwerke zu verwandeln: einen Kamm, einen Flaschenständer, ein Velorad, ein Urinal. (...)“ (Danto 1981: 10) Was vom Surrealisten Duchamp als kunstgeschichtlich revolutionäre Konfrontation gedacht war- die Befragung der eigenen Wahrnehmung und der Vorstellung dessen, was Kunst ist und was nicht, fand innerhalb seiner westlichen Rezeption eine sehr dynamische Resonanz. Die Aufwertung des Banalen zu bedeutungsvollen Kunstwerken setzte sich in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts in der Pop Art fort. Ähnlich radikale Transfers hatte es aber - teilweise auch unter umgekehrte Vorzeichen- also von ‚heilig’ zu ‚profan’ in der Geschichte des Ausstellens immer wieder gegeben- auch mit afrikanischen oder ozeanischen Objekten. In Unkenntnis über ihre rituelle und kulturelle Bedeutung waren Ethnografika von Alltagsgegenständen zu Artefakten geworden. Bei Duchamp funktioniert der ideelle Zugewinn an sich profaner Objekte durch eine Neuplatzierung in ästhetischer Distanz, d. h. durch ihre Rahmung innerhalb der Institution Museum. Damit wird der praktische Nachweis erbracht, dass Schönheit auch an unerwarteten Orten zu finden ist. Ebenso wie der Westen in den vermeintlich ‚wilden’ Gesellschaften der Kolonien die Existenz ästhetischen Schaffens ‚entdeckt’ hatte, wurde Anfang der 1960er Jahre der ‚eigenen’, profanen Welt der Konsumgüter ästhetischer Wert abgerungen. Danto sieht Duchamp dabei jedoch nicht in der Tradition der christlichen Theorie, nach der „(...) der Geringste unter uns (und vielleicht gerade der) in heiliger Gnade erstrahlt. (...)“ (Danto, ebd.) Im Gegenteil, Duchamps Arbeit weist weit über eine demokratisch- christliche Ästhetik, welche allen Objekten dasselbe ästhetische Potential zugesteht, - ebenso wie sie alle ihre Gläubigen für prinzipiell gleich religiös begabt hält, hinaus. Es geht nicht allein um das Auffinden und Anerkennen einer unerwarteten ästhetischen Dimension der Objekte) sondern um die damit verbundene Frage, was denn ein Kunstwerk erst zu einem solchen mache. Diese Frage war im Prozess der ästhetischen Aneignung der ‚fremden’ Kunst nicht gestellt worden, was allerdings auch mit den kunsttheoretischen Diskursverschiebungen zusammenhängt. Eine Reflexion der ‚eigenen’ Wertvorstellungen setzte erst nach dem Scheitern der bis dato als universell verstandenen modernen Werte ein. Künstler der europäischen Avantgarde, wie Picasso, Gaugin und auch Duchamp hatten mit ihrer Vorliebe für ‚fremde’, ‚neue’ Formen zwar das ‚Andere’ der Kulturen nicht durchdrungen, aber sie schufen ein Bewusstsein für die Diversität künstlerischer Ausdrucksformen und durch ihre radikale Neubefragung des westlichen Kunstbegriffes den Raum für eine theoretische Debatte über ästhetische Werte.
1.4.1 „Traurige Tropen“ ? Traurige Moderne!
Die technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen des späten neunzehnten Jahrhunderts hatten, um mit Marx zu sprechen, eine tief greifende Entfremdung des Individuums zu der von ihm verrichteten Arbeit zur Folge. Auch hierin gründet die bereits erwähnte Sehnsucht nach- bzw. die Projektion des Ursprünglichen auf die naturvolklich organisierten Gesellschaften in den Kolonien. So fremd den Europäern deren Lebensweisen erschienen, - die sich so sehr von dem unterschieden, was sie selbst eben erst als zivilisatorische Errungenschaften für sich formuliert hatten -so sehr wurden diese Gesellschaften auf der anderen Seite zum Sehnsuchtsort verloren geglaubter Authentizität. Siegmund Freud nannte dieses Befremden gegenüber dem ‚Eigenen’ einige Jahre später das ‚Unbehagen an der Kultur’ (Freud 1929, 1974). Dieses, so die zentrale Aussage Freuds, entstehe nur durch Triebverzicht und damit dem einhergehenden Verlust individueller Freiheit. Zur Jahrhundertwende gewann diese Haltung Einfluss auf die europäischen Künstler, und somit auf die formalen Entwicklungen der Moderne. Die Künstler sahen sich zu diesem Zeitpunkt - nach den individualisierenden und säkularisierenden Prozessen der Aufklärung- einem freien Markt und seinen prekären Gesetzen ausgesetzt. Seitens der Akademien existierten tradierte Dogmen und starre Konzepte von künstlerischer Qualität. Um sich diesen zu widersetzen entwickelte die Avantgarde neue, ‚wilde’ Ausdrucksformen, zu denen sie teilweise die Werke der ‚fremden’ Kulturen inspirierten. Zugleich stellte die ästhetische Aufwertung der afrikanischen und ozeanischen Kunstproduktion eine Legitimation ihrer eigenen Arbeit dar. Ethnographische Artefakte fungierten somit als Rechtfertigung und Antithese zugleich. Die Künstler der ‚fremden Kulturen galten als mit sich identische, „enthusiasmierte“ (Badenberg 2004: 46) Schöpfer. Die art and crafts Bewegung kann in diesem Zusammenhang als ein Versuch gelesen werden, diese ‚Ursprünglichkeit’ zu restituieren. (Badenberg, ebd.) ‚Ursprünglichkeit’ wurde zur Qualität an sich, existierte jedoch nur und erst in diesem Kontext, als binärer Gegenpart zur als zunehmend überformt empfundenen Eigenkultur. Badenberg nennt dies das „(...) Paradoxe Unterfangen, Entfremdung durch Fremdheit zu überwinden. (...)“ (Badenberg, 2004: 46) Diese ästhetische Aneignung des ‚Fremden’ hinterließ ihre Spuren jedoch nicht nur in Europa sondern ebenso in den Herkunftsgesellschaften. Das vom Westen so verklärte ‚Ursprüngliche’ ließ den Kontakt nicht unberührt an sich vorüberziehen. Was koloniale Unterwerfung, Ausbeutung und Missionierung noch an ‚Ursprünglichkeit’ zurückgelassen hatten, begann sich durch die kulturelle Globalisierung zuletzt auch zu transformieren. In einem melancholischen ‚Nachruf’ auf das Verschwinden kulturell spezifischer Phänomene nannte Claude Lévi- Strauss den Schauplatz des Verlustes die ‚Traurige Tropen’ (Lévi- Strauss 1955)
1.4.2 Exotismus - Motor der Moderne?
„ In der Darstellung der ‚ Exotischen Figuren ’ habe ich mich gar nicht bemüht irgendwie in die Exotische Kunst einzudringen, sie waren mir nur Gegenstände wie ein Topf oder eine Blume es auch gewesen wären “
(Emil Nolde in: Brugger 2001: 33)
Mit der Entstehung der europäischen Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert hatte sich auch das Verständnis von Identität verändert. Das Subjekt der Aufklärung nahm sich als mit sich selbst identische Entität wahr. Sinnstiftend waren, bedingt durch die (vor-) modernen Prozessen der Kolonisation und der Industrialisierung jedoch nicht länger Konfession und Glaube, sondern in verstärkt die „Bindungen an besondere Orte, Ereignisse, Symbole und Geschichten“ (Hall 1994: 213) Dieser partikularistischen Form der Zugehörigkeit habe jedoch, so Hall, immer auch eine universalistischere
Form der Identifikation, beispielsweise mit der ‚Humanität’ gegenübergestanden. Die Moderne musste also eine permanente Spannung ertragen - zwischen der Definition ihrer Individuen über deren nationale Kulturen auf der einen- und ihrem Anspruch auf globale Ausdehnung und Universalität ihrer Werte auf der anderen Seite. Zur Konstruktion des Identifikationsangebots ‚Nationalstaat’ waren ‚die Anderen’ bzw. eine westliche Konstruktion dessen, was diese ‚Anderen’ ausmacht nötig. Diese Notwendigkeit legitimierte die Kolonialpolitik Europas auf der einen, und bedingte sie auf der anderen Seite. Jede Grenzziehung folgt der binären Logik von „innen“ und „außen“. Die eigene Überlegenheit vor dem Rest der Welt wurde dabei durch den humanistischen Universalitätsanspruch ideologisch verbrämt. Innerhalb dieses Spannungsfeldes entstand nun das moderne Konzept der kulturellen Eigenidentität, bei dessen Konstruktion Kunst eine entscheidende Rolle spielt. (vgl. Hall in: Zijlmanns in: Volkenandt 2004: 245) Zwar waren die Interessen der Künstler nicht unbedingt die der staatlichen Politik - sie verfolgten weder deren Machtansprüche noch stellten sie territoriale Ansprüche an die „Anderen“. Dennoch wirkten Akteure beider Sphären an der Umdeutung und exotisierenden Neuinterpretation der in den Kolonien gesammelten oder erbeuteten Artefakte mit. Die nationalstaatliche Institution Museum muss hier als Schnittstelle zwischen Politik, Kunst und Wissenschaft betrachtet werden. Die Nationen brauchten die Ausstellungsräume als Ort der Repräsentation ihrer Macht. Das zeigte sich schon in der Darbietung des Erbeuteten. Die in den Völkerkundemuseen ausgestellten Objekte waren noch etwa bis Mitte der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts nicht erklärend geordnet „(...) sondern entfalteten ihre (ästhetische) Wirkung im Dichtgedrängten Neben- und Durcheinander (...)“ (Badenberg in: Volkenandt 2004: 42) Durch Defizite sowohl seitens der Ethnologie wie auch der Kunstwissenschaften wäre die Rezeption der Objekte hauptsächlich von Kunstsammlern getragen worden, so Badenberg. Diese hätten sie als Kunstwerke interpretiert, als solche jedoch blieben die Werke „(...) kontextlos und ahistorisch (...).“ (Badenberg, ebd.) Gleich ob sie nun Kult- Kunst- oder Alltagsgegenstände gewesen waren, hier wurde ihnen ein westliches Label verpasst. Die mangelnde Information rührte teilweise schlicht aus dem Fehlen gesicherter ethnographischer Kenntnisse, sie führte aber zum Paradigma der ‚Geschichtslosigkeit’ ‚primitiver’ Kulturen. Der historische und kulturelle Leerraum, der durch diese ‚Aufwertung’ der verschiedenen ethnographischen Stücke in den Kontext der Kunst entstand, wurde so zu einer Projektionsfläche für jede beliebige Vorstellung, jede Sehnsucht der westlichen Beobachter nach dem ‚Mythos’ Afrikas oder Ozeaniens. Und auch die Künstler agierten in diesem Zusammenhang, wenn auch meist entgegen ihrer erklärten Absicht, politisch. Ihre Faszination für die visuellen Einflüsse weit entfernter Welten war nicht allein ästhetischer Natur sondern fungierte auch als Mittel zur Distinktion und zur Manifestation des Status ihrer Avantgarde. Durch ihre Auseinandersetzung mit den „(...) wilden, kantigen und doch rhythmisch gegliederten Formen (...)“ betonten sie ihren „ ( ) Bruch mit den seit der europäischen Renaissance gültigen Normen der Proportion und der Zentralperspektive.(...)“ (Badenberg, 2004: 42) Somit war die Aneignung der fremden Ästhetik durch die Künstler von denselben hegemonialen Schemata geprägt, wie es die vorangegangene Aneignung derselben Objekte durch die europäischen Eroberer gewesen waren. Der Blick der Künstler war keiner des Dialogs, sie suchten kein Verständnis für die Fremdartigkeit sondern machten sie sich ästhetisch zueigen. Pablo Picasso war einer der ersten westlichen Künstler, die sich mit außer- europäischer Kunst beschäftigten. Die Skulpturen und Antiken aus Afrika waren für ihn Inspirationsquelle und beeinflussten seine Suche nach neuen formalen Ausdrucksmöglichkeiten. Als meinungsbildendes Mitglied der europäischen Avantgarde beeinflusste seine Sammeltätigkeit wiederum andere Künstler, so dass afrikanische und ozeanische Kunst durch die westliche Moderne eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfuhr Auch die Ethnologie entwickelte nun vermehrt Interesse an den Artefakten der von ihr untersuchten Gesellschaften Allerdings stand für sie deren soziale, politische und religiöse Funktionen im Mittelpunkt. Mit diesen stark divergierenden Forschungsansätzen zur ‚Kunst der Anderen’ wird sich die Autorin an späterer Stelle noch ausführlicher auseinandersetzen. Hubert Martin, Generaldirektor des Museum Kunstpalast in Düsseldorf erinnert in seinem Essay ‚Kannibalismus der Moderne’ daran, dass „(...) der Begriff „Exotismus“ oft unter seiner Nähe zum Kolonialismus gelitten (...)“ habe. Es müsse allerdings „(...) zur Kenntnis genommen werden, dass die unausweichliche virtuelle Beherrschung des ganzen Planeten durch westliche Modelle, die in unseren Augen zur Normalität geworden sind, nicht von der Fremdheit ablenken kann, die sie in den Augen der Anderen besitzen. (...)“ (Martin 2002: 3) Mit dieser Ausdehnung des Exotismusbegriffes über die westliche Hemisphäre hinaus hinterfragt er westliche Sehgewohnheiten und öffnet den Blick für die Pluralität der Weltwahrnehmungen. Der Kulturwissenschaftler Oliver Marchart betont, dass „(...) Kunst nun immer schon eine der bevorzugten Universalisierungsmaschinen des Westens (...)“ (Marchart in: Volkenandt 2004: 97) gewesen sei und exotisierende Strategien daher in der okzidentale Kunstgeschichte immer wieder aufträten. Weil das ‚Andere’ objektifiziert wird und ihm damit der Subjektstatus abgesprochen wird, wohnt ein kolonialer Gestus der Praxis des Ausstellens selbst inne.
2. ‚Kunst’ als Leinwand oder: Was ist Kunst- und für wen?
„ Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer
Sinneswahrnehmung “ (Benjamin 1977: 14)
Die Einzigartigkeit eines jedes Kunstwerkes ist abhängig vom jeweiligen Kontext seiner Tradition, meint Walter Benjamin. (vgl. Benjamin, 1977: 16).Dabei begreift Benjamin ‚Tradition’ als dynamisches Modell. Das einzelne Werk könne daher verschiedene Traditionszusammenhänge durchlaufen. Der Philosoph zieht zur Veranschaulichung eine griechische Venusstatue heran. Seine Erläuterung hätte sich aber beispielsweise genauso gut auf ein bieri bieri beziehen können - eine Ahnenmaske des westafrikanischen Volkes der Fang. Während sowohl die Skulptur der Venus als auch die bieri bieri in ihrem Ursprungszusammenhang Gegenstand eines Kultus waren, sahen europäische Kleriker lange Zeit in beidem einen „unheilvollen Abgott“ (vgl. Benjamin, ebd.)
Dies änderte sich mit dem Schwinden des kirchlichen Einflusses in Europa. Es war eine Konsequenz der Säkularisierung, dass die religiösen Ausdrucksformen seiner Kulturen einen Bedeutungstransfer durchliefen. Während mit der Renaissance sakrale Werke aus dem Label „Kunst“ mehr und mehr verschwanden, gewannen weltlich orientierte Schaffensprozesse an Einfluss. Mit Ende des neunzehnten Jahrhunderts erreichte der Prozess der Trennung von Kirche und Staat, Diesseits und Jenseits auch auf dem Gebiet der Kunst einen vorläufigen Höhepunkt... Dadurch verloren religiös konnotierte Objekte anderer Kulturen ihre „Aufwertung“ zur Kunst, die zuvor allein durch ihren rituellen Charakter legitimiert wurde. Diese Umwertung zeigte sich in zweifacher Hinsicht. Zum einen wurde den Artefakten die Reinheit und Authentizität abgesprochen, die ihre Herkunftsgesellschaften vermeintlich besessen hatten bevor sie mit den westlichen Kulturen in Kontakt gekommen waren. Kolonisation und Missionierung, so die Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitete Ansicht, hätten traditionale Glaubensvorstellungen sowie deren ästhetische Praxis „verfälscht“. (vgl. Martin 2002) Nach den gewaltvollen Eingriffen in die indigenen Kulturen wurde nun die abwertende
Zuschreibung der ‚Wildheit’ oder ‚Kulturlosigkeit’ abgelöst von der ebenfalls abwertenden Zuschreibung der verloren gegangenen kulturellen „Reinheit“. Hubert Martin nennt dies den „Kannibalismus der Moderne“ Was zuvor von den Eroberern als minderwertiges, weil „kultisches“ Äquivalent zur eigenen Sakralkunst gegolten hatte, verlor mit dieser Umdeutung des Kunstbegriffes das westliche Label Kunst. Welche Begrifflichkeiten in den Herkunftsgesellschaften außereuropäischer Kunst galten oder gelten, bzw. ob es in der spezifischen Kultur überhaupt ein Äquivalent zum westlichen Konzept ‚Kunst’ gab, wird erst in der jüngeren Ethnologie sowie den vergleichenden Kunstwissenschaften wie auch den postcolonial studies untersucht. Das l’art pour l’art welches zum künstlerischen Paradigma der westlichen modernen Kunst wurde war, für Benjamin nichts anderes als eine Reaktion der Kunst auf die Krise, in die sie durch die Entstehung des „(...) ersten wirklich revolutionären Reproduktionsmittels, der Photographie (...)“ gestürzt wurde. In deren Folge habe sich, so Benjamin, die Idee einer „(...) ‚reinen’ Kunst (...)“ entwickelt, welche nicht nur „(...) jede soziale Funktion sondern auch jede Bestimmung durch einen gegenständlichen Vorwurf ablehnt (...)“ (Benjamin 1977:17)
2.1.1 Die Entwicklung des europäischen Kunstbegriffs
Grundlagen zum spezifischen Verständnis von ‚Kunst’, an dem die Gesellschaften des Okzidents bis heute ihre kulturellen Hervorbringungen messen, liegen zeitlich jedoch lange vor dem l’art pour l’art der Moderne. Seine Ursprünge finden sich in der griechischen Antike. Diese Zeit fällt zusammen mit der Herausbildung der griechischen Philosophie, welche als eine der wichtigsten Wurzeln abendländischen Denkens gilt. Zugleich entstanden die, literarischen Gattungen Drama und Epos, sowie die ersten Modelle demokratischen und liberalen Denkens. Als auslösend für diese Entwicklung gilt ein zu dieser Zeit erstmals fassbar werdender Kritizismus, der zu einer Emanzipation von überkommenen religiösen Traditionen geführt hat. Max Weber hatte diese Loslösung von den „magischen Gefahren um 1920 die „Entzauberung der Welt“ genannt. Heute wird davon ausgegangen, dass diese Trennung von der Religion, im Bereich der Kunst zu einer Kettenreaktion geführt hat.
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- Ariane Lemme (Author), 2009, Die europäische Konstruktion fremder Kunst zwischen Assimilation und Exotismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/140606
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