Einleitung
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gilt noch heute, nach über 55 Jahren, als "empfindliche historische Belastung für das Zusammenleben beider Staaten."(1)
Fast zwei Jahrzehnte lang, zwischen dem Rapallo-Vertrag und dem deutsch-russischen Nichtangriffspakt, hatte besonders die wirtschaftliche Zusammenarbeit für eine gute Beziehung gesorgt. So scheint es gerade aus diesem Grund verwunderlich, warum Adolf
Hitler(2) die UdSSR angriff.
Um die damaligen Tatbestände sicher rekonstruieren zu können, ist man zunächst von den überlieferten Quellen abhängig. Dazu gehören neben den beiden Schriften Hitlers "Mein Kampf" und "Hitlers Zweites Buch" "Die Tagebücher von Joseph Goebbels", "Die Wehrmachtsberichte 1939-1945" sowie die Urkunden- und Dokumentensammlung "Ursachen und Folgen". Quellen sind folglich zwar ausreichend vorhanden, sie bringen bezüglich ihres Aussagewerts jedoch Schwierigkeiten mit sich: Zum einen variieren die von Hitler selbst getroffenen Aussagen stets je nach Zuhörer und Anlaß(3), so daß man zwischen Taktik und Argument streng unterscheiden muß, um sich gelegentlich auftretende
Widersprüche erklären zu können. Zum anderen besaßen besonders die Berichte der Wehrmacht auch propagandistische Funktionen: Die militärische Lage scheint oftmals verschönert, und die größten Verluste habe stets der "Feind" erlitten.
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1 Überschär/ Wette (1983), 9.
2 Im folgenden nur noch Hitler.
3 Vgl. Tauber (1992), 169f.
1. Einleitung
Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 gilt noch heute, nach über 55 Jahren, als "empfindliche historische Belastung für das Zusammenleben beider Staaten."[1] Fast zwei Jahrzehnte lang, zwischen dem Rapallo-Vertrag und dem deutsch-russischen Nichtangriffspakt, hatte besonders die wirtschaftliche Zusammenarbeit für eine gute Beziehung gesorgt. So scheint es gerade aus diesem Grund verwunderlich, warum Adolf Hitler[2] die UdSSR angriff.
Um die damaligen Tatbestände sicher rekonstruieren zu können, ist man zunächst von den überlieferten Quellen abhängig. Dazu gehören neben den beiden Schriften Hitlers "Mein Kampf" und "Hitlers Zweites Buch" "Die Tagebücher von Joseph Goebbels", "Die Wehrmachtsberichte 1939-1945" sowie die Urkunden- und Dokumentensammlung "Ursachen und Folgen". Quellen sind folglich zwar ausreichend vorhanden, sie bringen bezüglich ihres Aussagewerts jedoch Schwierigkeiten mit sich: Zum einen variieren die von Hitler selbst getroffenen Aussagen stets je nach Zuhörer und Anlaß[3], so daß man zwischen Taktik und Argument streng unterscheiden muß, um sich gelegentlich auftretende Widersprüche erklären zu können. Zum anderen besaßen besonders die Berichte der Wehrmacht auch propagandistische Funktionen: Die militärische Lage scheint oftmals verschönert, und die größten Verluste habe stets der "Feind" erlitten. Moderne Wissenschaftler wie Andreas Hillgruber, Joachim Tauber, Rolf-Dieter Müller, Gerd R. Überschär und Peter Longerich sind sich einig, daß Hitler den Überfall auf die UdSSR vertragswidrig und ungerechtfertigt unternahm, wobei man von langfristigen, programmatischen Zielsetzungen ausgehen könne. Lediglich "wissenschaftliche Außenseiter, Ewiggestrige, fachfremde Hobbyhistoriker und Autoren aus dem rechtsextremen Umfeld" würden sich mit der erneuten Diskussion über dieses Phänomen befassen.[4] Die Absichten, die Hitler speziell für Leningrad besaß, lassen sich aus den für Rußland allgemein geltenden übertragen: Die "Theorie von Rasse, Volk und Raum" trifft analog auch auf die Stadt und deren Umgebung zu.
Die genauen Aspekte dieser Theorie nenne ich vorab und werde anschließend mit Hilfe der modernen Literatur und trotz der oben beschriebenen Quellensituation prüfen und diskutieren, inwiefern und ob sie sich untereinander bedingen oder in einem Zusammenhang zueinander stehen. Nach der Darstellung der militärischen Entscheidung bis zum Winter 1941 erscheint es mir sinnvoll, Hitlers "Erfolge" darzulegen, die besonders hinsichtlich seiner Pläne bewertet werden.
2. Die Ostpolitik in "Mein Kampf" und "Hitlers Zweitem Buch"
Während Hitlers Haftzeit[5] in der Haftanstalt Landsberg am Lech entstand das Rechtfertigungs- und Programmbuch "Mein Kampf". Darin entwickelte er in dem Kapitel "Ostorientierung oder Ostpolitik" ein außenpolitisches Grundkonzept, das auch in "Hitlers Zweitem Buch" aus dem Jahre 1928 bestehenblieb. "Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein."[6] - Diese Äußerung beinhaltet eines der Hauptziele, die uns in Hitlers Programm begegnen: die Eroberung neuen Lebensraums im Osten, um das Verhältnis zwischen Volkszahl und Grundfläche in Einklang zu bringen.[7]
Eine Fülle von Äußerungen will die Expansionpolitik im Osten rechtfertigen, und dabei wird ein zweites Ziel Hitlers offenbar: die Ausrottung des jüdischen Bolschewismus. Geradezu als "ein Glück für die Zukunft" Deutschlands wird die Tatsache bezeichnet, daß in der UdSSR die Bolschewisten (Juden) seit der Oktoberrevolution 1917 die Herrschaft übernommen haben.[8] Dies gab Hitler den Anlaß, bei seiner Theorie von Grund und Boden in erster Linie an Rußland und die ihm untertanen Randstaaten zu denken und dies Phänomen als "Wink des Schicksals" zu betrachten.[9] Die angeblich destruktive Veranlagung der Juden zerstöre die UdSSR als Staat, mache ihn reif für den Zusammenbruch und breche ebenso den Bann, der es Deutschland zuvor verboten habe, Raum im Osten als außenpolitisches Ziel anzusehen. Ob die Vernichtung der Juden aber von vornherein zu Hitlers Angriffsmotiven gegen die UdSSR zählte, soll im folgenden Abschnitt erörtert werden.
Eine Symbiose zwischen der Forderung nach Lebensraum und ökonomischen Planungen wird in "Hitlers Zweitem Buch" deutlich.[10] Hier sieht der Autor die Bedeutung Rußlands auch unter dem Aspekt der Energiegewinnung: Rußland sei Besitzer von Ölquellen, denen ... die gleiche Bedeutung zukommt, wie Eisen- und Kohlengruben sie im vergangenen Jahrhundert besessen haben. Außerdem gilt es bei dieser Frage, die Anordnung zum "Vierjahresplan" am 18. Oktober 1936 zu berücksichtigen: Innerhalb von vier Jahren sollte die deutsche Wehrmacht einsatzfähig und kriegsbereit sein, wofür eine erhöhte Produktion in der Schwerindustrie nötig war.[11] In diesem Zusammenhang ist es daher wichtig zu wissen, daß Hitler von einer intakten Volkswirtschaft in Rußland ausging, die nach Belieben umzusteuern sei.[12] Sollte Hitler wirtschaftliche Pläne gehabt haben, so muß nach deren Rechtfertigung gefragt werden, zumal seit fast 20 Jahren wichtige Handelsbeziehungen untereinander existierten.
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[1] Überschär/ Wette (1983), 9.
[2] Im folgenden nur noch Hitler.
[3] Vgl. Tauber (1992), 169f.
[4] Vgl. Überschär (1992), 66.
[5] Aufgrund des gescheiterten Hitler-Putsches am 9. November 1923 wurde Hitler zu fünf Jahren Haft verurteilt, jedoch Ende 1924 frühzeitig entlassen. Er hatte versucht, die konservative bayrische Regierung zum Staatsstreich gegen die "rote" Reichsregierung in Berlin anzutreiben.
[6] Hitler (1925), 742.
[7] Vgl. ders., 150, 728-730, 735. Dazu auch: Hitler (1928), 102.
[8] Hitler (1928), 163.
[9] Hitler (1925), 742.
[10] Vgl. Hitler (1928), 99, 123, 173.
[11] Mit den nach dem Beauftragten benannten "Reichswerken Hermann Göring" wurde durch den Staat ein eigener Konzern im Bereich der Schwerindustrie aufgebaut. Es folgten von der SS gegründete Wirtschaftsbetriebe. Außerdem wurden in der Privatwirtschaft staatliche Produktionsprogramme angeordnet.
[12] Vgl. Müller (1991), 103f.
- Quote paper
- Miriam Riekenberg (Author), 1998, Pläne für Leningrad und militärische Entscheidung bis zum Winter 1941, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1406