Viele Junggermanisten dieser Jahre konnten die geschmäcklerische Altherrenmentalität der werkimmanenten Methode nicht mehr ausstehen und versuchten nach dem Germanistentag 1966, der von vielen westdeutschen Zeitungen mit aufsehensregenden Schlagzeilen als das Ende einer zwanzigjährigen Vertuschungsphase kommentiert wurde, endlich offen über die beschämende Vergangenheit ihres Faches zu reden. Als erstes suchten die Reformer die „braunen“ Aufsätze der führenden Ordinarien hervor, welche diese nach dem Krieg in ihren Schriftverzeichnissen meist weggelassen hatten. Trotz der schweren Konfrontationen war die Macht dieser Ordinarien so groß, dass keiner aufgrund dieser Enthüllungen zur Rechenschaft gezogen wurde oder gar Berufsverbot erhielt. Dennoch etablierte sich zuerst außerhalb, dann jedoch auch innerhalb der germanistischen Institute das lebhafte Interesse an einer neuen, den Faschismus nicht einfach ausblendenden, sondern kritisch überwindenden Methodenlehre, damit die Germanistik endlich eine politisch und gesellschaftlich vorwärtsweisende Ausrichtung wiedererhalten würde.
Das schriftliche Referat zum Seminar Deutsche Literatur 1945 – 68
Seminarleitung: Prof. PhDr. Jiří Stromšík, CSc.
Bearbeitet von Anežka Mišoňová, Prag, 23. Januar 2008
Thema: Ende einer zwanzigjährigen Vertuschungsphase
Der Deutsche Germanistentag 1966
In der Zeit des Nationalsozialismus forderten die staatlichen Machthaber von der Germanistik ideologische Unterstützung und machten sich ihre Tendenz zum Pangermanismus, die noch aus der Zeit der Kleinstaaterei stammte, zu Nutze. Die Lösung von ideologischer Voreingenommenheit nach dem Zweiten Weltkrieg geschah zähflüssig. In den 1950er Jahren wurde die werkimmanente Interpretationsmethode beliebt, die eine streng am Wortlaut der Dichtung orientierte, Motive und Metaphern beleuchtende Interpretation zum Paradigma erhob und jede Deutung im Hinblick auf äußere Einflussfaktoren und Zeitumstände ausschloss. Bisweilen fanden auch psychoanalytische Methoden Verwendung, die die hinter der Dichtung stehende „Persönlichkeit“ des Autors zu erklären versuchten.
Eine neue Phase in der Geschichte der Bundesrepublik setzte im Jahr 1961 ein. Sie wurde ausgelöst durch einige Ereignisse in der Politik und im öffentlichen Leben. Erstens verlor in den Wahlen im August CDU/CSU ihre absolute Mehrheit, der ehemalige Exilant Willi Brandt trat als Kanzlerkandidat für SPD auf. Die immer unabweislich werdende Forderung nach einer durchgreifenden „Vergangenheitsbewältigung“ zeigte sowohl der Jerusalemer Eichmann-Prozess als auch die darauf folgende Spiegel -Affäre im Jahre 1962.
Diese Ereignisse bewirkten eine deutliche Abwendung jüngerer Intellektuellengruppen vom konformistischen Nonkonformismus der fünfziger Jahre und führten zu einer merklichen Polarisierung der gesamten kulturpolitischen Szene. Und im Gefolge dieser Entwicklung spaltete sich auch die westdeutsche Germanistik in drei Richtungen: konservative, reformbetonte und rebellische bis umstürzlerische.
Die Konservativen unter den Germanistikprofessoren, die nach Jahren des Vertuschens und dann eines neugewonnenen Selbstvertrauens plötzlich besorgt waren, dass auch in ihrer NS-Vergangenheit herumgewühlt würde, hatten das Gefühl, dass man einer möglichen Kritik der Liberalen mit einer neuen Strategie entgegentreten müsse. Aus diesem Grund sprachen sich führende Vertreter dieser Schichten für eine „Rückkehr zum Philologischen“ – als dem eigentlichen Handwerk der Germanistik – aus, worunter sie vor allem Editionsfragen, gattungspoetische Gesichtspunkte sowie ästhetische Wertfragen verstanden. Daher galt ihr vielberufener „Dienst am Wort“ weiterhin den klassischen und romantischen Meisterwerken, während sie der „Moderne“ nach wie vor möglichst dem Wege gingen, um sich nicht auf ideologische Entscheidungsfragen einlassen zu müssen.
Doch die zum liberalen Reformkurs neigenden Intellektuellen und Wissenschaftler empfanden solche Stimmen als unzeitgemäß und ausgesprochen hochmütig. Ihr Ideal war vor allem Umgestaltung des westdeutschen Bildungssystems im Sinne großzügiger Schul- und Hochschulreformen, um endlich jene im Grundgesetz dieses Staates anvisierte Demokratisierung im Erziehungswesen durchzuführen. Denn in den fünfziger Jahren war dies immer zugunsten elitärer Gesichtspunkte zurückgedrängt worden. Der Anteil der Abiturienten wuchs sehr langsam und es waren immer nur Kinder aus finanziell bessergestellten Familien. Den Reformen ging es nicht nur um soziale Gerechtigkeit, sondern auch um eine wesentlich zeitgemäßere Bildung, die sich nicht in die frühbürgerlichen Reservate des „Klassischen“ zurückzieht und sich satt dessen an dem orientiert, was ihnen als die westliche „Moderne“ erschien.
Diese Stimmen blieben jedoch in den frühen sechziger Jahren weitgehend unerhört. Weder für die akademische Nachwuchsförderung noch die germanistische Forschung wurde staatlicherseits viel getan. Anträge zur Errichtung von Forschungsinstituten oder Akademien fand der westdeutsche Wissenschaftsrat, der eindeutig naturwissenschaftlich und technologisch verwertbare Fächer favorisierte, im Hinblick auf die Geisteswissenschaften vor 1965 nicht dringlich genug. Bis zum Jahr 1966 gab es daher in der Germanistik, was die der Lehrstühle betraf, nur geringe Veränderungen. Die meisten germanistischen Seminare, 26 an der Zahl, hatten vier Professoren und jeweils zwei bis drei Assistenten, während die Zahl der Studierenden, die sich diesem Fach zuwandten, zwischen 1956 und 1966 immerhin von 8240 auf 13540 anstieg. Trotz dieser Verhältnisse blieben die germanistischen Reformkonzepte bis zur Mitte der sechziger Jahre bloße Theorien und führen lediglich zu innerfachlichen Diskussionen. Einer der stärksten Befürworter der Hochschulreform war Jürgen Habermas, der sich energisch für den Abbau konservativer Wertsysteme und die Errichtung einer kritischen Öffentlichkeit plädierte.[1] Aufgrund der Vorherrschaft vieler politisch vorbelasteter Altordinarien verharrte die Germanistik weiterhin im Abseits. Hier wurde noch nicht alles kritisch hinterfragt, wie das bereits in anderen humanistischen Disziplinen wie Soziologie, Politologie und Geschichtswissenschaft üblich wurde, die unter dem Einfluss der Frankfurter Schule und Wolfgang Abendroths standen.
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[1] Vgl. Strukturwandel der Öffentlichkeit (1962)
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- Anezka Misonová (Author), 2008, Ende einer zwanzigjährigen Vertuschungsphase, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139610