In vielen Bereichen unserer und anderer Gesellschaften, werden behinderte Menschen als Träger von Defiziten wahrgenommen. So ist es auch in der Bundesrepublik Deutschland erlaubt ein Kind, dessen Behinderung pränatal diagnostiziert wurde, zu einem späteren Zeitpunkt abzutreiben, als das bei einem zu erwartenden gesunden Kind erlaubt ist. Aus dieser Geringschätzung resultiert vermutlich auch, dass eine qualifizierte Behindertenpädagogik lange Zeit in ihrer Qualität und Quantität im Sinne der Bedarfsabdeckung hinter der Pädagogik für nicht-behinderte Kinder zurückblieb. Selten war sie zudem integrativ, sondern behandelte behinderte Menschen als gesonderte Subgruppe in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Weder das Entwicklungspotential behinderter Menschen, noch deren Fähigkeiten und Talente konnten so individuelle Wertschätzung erfahren- sie wurden in den seltensten Fällen entdeckt. Vor diesem Hintergrund erstaunt und bewegt es ganz besonders, wie selbstverständlich behinderte Menschen in Montessori-Einrichtungen angenommen werden und ihnen ein Platz geboten wird, an dem sie, ausgehend von ihrem Sein, werden können, was in ihnen angelegt ist. So werden behinderte Menschen aus ihrer Isolation befreit und als das anerkannt, was sie sind und schon immer waren. Als wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft, die aus sich heraus vieles in diese hinein tragen können. Wie ein solcher Schritt gelungen ist und welche Vorteile der Montessori-Pädagogik, gerade im Bezug auf die Integration von Behinderten hin, innewohnen soll Inhalt dieser Ausarbeitung sein. Dazu möchte ich zunächst Maria Montessori und ihre Pädagogik in den Grundzügen vorstellen und dann deren Anwendung in der Behindertenarbeit aufzeigen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Maria Montessori - Eine Kurzbiographie
3 Zur Anthropologie der Maria Montessori
4 Die Pädagoigik der Maria Montessori
4.1 „Hilf mir es selbst zu tun“- Die Erziehungskonzeption der Maria Montessori
4.2 Die Montessori- Materialien
4.2.1 Ästhetik
4.2.2 Ermöglichung von Aktivität
4.2.3 Fehlerkontrolle
4.2.4 Begrenzung
4.2.5 Isolierung einer einzigen Eigenschaft des Materials
4.2.6 Position auf einen Kreuzpunkt
4.2.7 Schlüsselfunktion
5 Montessori- Pädagogik für behinderte Kinder?
5.1 Ein langer Weg
5.2. Die Wiederentdeckung der Montessori-Pädagogik für behinderte Kinder
6 Kritische Betrachtung
Literatur
1 Einleitung
In vielen Bereichen unserer und anderer Gesellschaften, werden behinderte Menschen als Träger von Defiziten wahrgenommen. So ist es auch in der Bundesrepublik Deutschland erlaubt ein Kind, dessen Behinderung pränatal diagnostiziert wurde, zu einem späteren Zeitpunkt abzutreiben, als das bei einem zu erwartenden gesunden Kind erlaubt ist[1]. Aus dieser Geringschätzung resultiert vermutlich auch, dass eine qualifizierte Behindertenpädagogik lange Zeit in ihrer Qualität und Quantität im Sinne der Bedarfsabdeckung hinter der Pädagogik für nicht-behinderte Kinder zurückblieb. Selten war sie zudem integrativ, sondern behandelte behinderte Menschen als gesonderte Subgruppe in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Weder das Entwicklungspotential behinderter Menschen, noch deren Fähigkeiten und Talente konnten so individuelle Wertschätzung erfahren- sie wurden in den seltensten Fällen entdeckt. Vor diesem Hintergrund erstaunt und bewegt es ganz besonders, wie selbstverständlich behinderte Menschen in Montessori-Einrichtungen angenommen werden und ihnen ein Platz geboten wird, an dem sie, ausgehend von ihrem Sein, werden können, was in ihnen angelegt ist. So werden behinderte Menschen aus ihrer Isolation befreit und als das anerkannt, was sie sind und schon immer waren. Als wertvolle Mitglieder der Gemeinschaft, die aus sich heraus vieles in diese hinein tragen können. Wie ein solcher Schritt gelungen ist und welche Vorteile der Montessori-Pädagogik, gerade im Bezug auf die Integration von Behinderten hin, innewohnen soll Inhalt dieser Ausarbeitung sein. Dazu möchte ich zunächst Maria Montessori und ihre Pädagogik in den Grundzügen vorstellen und dann deren Anwendung in der Behindertenarbeit aufzeigen.
2 Maria Montessori - Eine Kurzbiographie
Schon im ersten Jahr des zwanzigsten Jahrhundert wurde die wegweisende Parole formuliert, die zum Leuchtturm des ganzen Jahrhunderts werden sollte. 1900 formulierte die schwedische Schriftstellerin und Kulturhistorikerin Ellen Key die Schrift „Barnets Arhundrade[2] “, auf deren Titel basierend der italienische König Viktor Emmanuel III. in seiner Thronrede das „Jahrhundert des Kindes“ ausrief.
Zur gleichen Zeit begann ein erstes Wirken Maria Montessoris, wenn auch zunächst an anderer Front. Die junge wissenschaftlich überaus begabte und interessierte Montessori beschloss einen Lebensweg einzuschlagen, der in größtem Maße konträr zu dem stand, den ihre Eltern für sie vorgesehen, bzw. erhofft hatten. Ihr Vater, ein Offizier des Risorgimento und die Mutter, die einer alt-italienischen Gelehrtenfamilie entstammte, hätten es gerne gesehen, wenn Maria sich zur Lehrerin hätte ausbilden lassen. Diesen Vorschlag jedoch lehnte Maria Montessori mit aller Entschiedenheit ab. Sie widersetzte sich dem Willen ihrer Eltern und kämpfte für die Aufnahme in ein Mädchenenlyzium, das als „technische Schule“ galt und dessen Abschluss, zumindest in der Theorie, zum Besuch einer Hochschule berechtigte. Die aber war damals weitgehend den männlichen Studierenden vorbehalten. Lediglich an einzelnen geisteswissenschaftlichen Fakultäten wurden junge Frauen aufgenommen, wenige aber schafften es tatsächlich einen Bildungsweg abzuschließen. Denn selbst das Einschreiben an einer solchen Hochschule erforderte eine ausdrückliche Genehmigung des italienischen Unterrichtsministeriums.
Als erste Frau Italiens studierte sie Medizin und legte alle Prüfungen erfolgreich ab. Im Alter von 25.Jahren wird sie Assistenzärztin der Universitätsklinik in Rom. Dort wird ihr schon schnell eine der undankbarsten Aufgaben zugeteilt. Die Betreuung geistig behinderter Kinder in der Abteilung der örtlichen Nervenklinik.
In diesem „Irrenhaus“[3] kam es schon bald zu einem Schlüsselerlebnis, das gewissermaßen als Initialzündung der Pädagogik der Maria Montessori verstanden werden kann. Dort traf die junge Ärztin auf eine Gruppe schwachsinniger Kinder[4] und bemerkte, dass es den verwahrlosten Kindern nicht nur an Spielzeug, sondern an jeder Art von Gegenständen fehlte, mit denen sie sich hätten beschäftigen können. Lediglich die kargen Mahlzeiten boten aufgrund ihrer formbaren Beschaffenheit einen Anreiz sie zu kneten oder auf unterschiedliche Weisen anzuordnen. Montessori begann sich mit den Kindern zu beschäftigen und beobachtet schnell, dass die Kompetenzen und Handlungsmuster der Kinder mit der Bereitstellung geeigneter Materialien anstieg. Die auf dem Gebiet der Pädagogik weitgehend unerfahrene Ärztin begab sich auf die Suche nach wissenschaftlichen Studien, in deren Rahmen sie sich ebenfalls mit ähnlichen Zusammenhängen und den damit verbundenen Fördermaßnahmen beschäftigte und wurde nach langer Suche tatsächlich fündig. Jean Marc Gaspard Itard (1774- 1838) und Edouard Seguin (1812- 1880) wurden in den kommenden Monaten zu Montessoris Wegweisern. Während Itard versuchte Wildkinder[5] in die Gesellschaft einzugliedern und ihnen beispielsweise das Sprechen beibringen wollte, beschäftigte sich Seguin, wie Montessori, mit der psychologischen Erziehung von geistig behinderten Kindern. Die beiden Wissenschaftler legten gewissermaßen die Wurzeln ihrer Pädagogik. 1899 hält sie auf Basis ihrer eigenen Beobachtungen, aber auch stark durch die Theorien Itards und Seguins beeinflusst, ihren Vortrag „Moralische Erziehung“, der noch heute als grundlegende Idee ihrer Pädagogik gilt. Ihre Forderung, geistig behinderte Kinder als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft in selbiger zu akzeptieren, stellte im Italien des ausgehenden 19. Jahrhundert einen völlig neuen Denkansatz dar. Der damalige Erziehungsminister Dr. Guido Bacelli forderte Maria Montessori dazu auf eine Vortragsreihe auszuarbeiten, die ihre Ideen weiter spezifizieren sollten. Die große Überzeugungskraft, die von dieser Reihe ausging, führte schließlich dazu, dass eine erste so genannte „staatliche Schwachsinningenschule“ gegründet wurde, deren Leitung man Maria Montessori überließ. Schnell fanden sich dort all die Kinder ein, die in den regulären Schulen Roms als unbeschulbar abgetan wurden oder deren man sich dort aufgrund ihrer sozialen Unverträglichkeit entledigen wollte. Es dauerte nicht lange, bis auch viele Kinder der römischen „Irrenanstalten“ diese Einrichtung besuchten. In den folgenden drei Jahren variierte sie die erarbeiteten Methoden immer wieder, glich sie mit Beobachtungen aus der Praxis mit ihren Kindern ab und konnte schließlich einen erstaunlichen, da unerwarteten Erfolg verzeichnen. Vielen ihrer Schützlingen war es nämlich mit Hilfe ihrer Maßnahmen gelungen des Lesens und Schreibens so weit mächtig zu werden, dass sie gemeinsam mit den Kindern, die die öffentlichen Regelschulen besuchten, öffentliche Prüfungen ablegen konnten.
Es lässt sich also beobachten, dass die Pädagogik der Maria Montessori in der Behindertenarbeit ihren Anfang nahm. Leider tat sie sich, wie ich zeigen werde, im Folgenden zunächst schwer, diesen Pfad weiter zu verfolgen. Während sich die Öffentlichkeit nämlich noch über die immensen Lernerfolge der geistig behinderten Kinder wunderte und Montessori mit Lob überhäufte, begann die sich zu fragen, was an den öffentlichen Regelschulen falsch lief, da es den nicht-behinderten Kindern offensichtlich nicht möglich war, ihr Lernpotential voll auszuschöpfen und es ihnen lediglich gelang mit den behinderten Kindern gleichzuziehen, nicht aber sie zu überholen.
3 Zur Anthropologie der Maria Montessori
Die Anthropologie der Maria Montessori setzt gleich an mehreren Polen an, sodass sie den Menschen, und so vor allem das Kind auf vielerlei Ansätze basierend verstanden wissen will. Allen voran begreift sie den Menschen als Geschöpf Gottes. Sie erkennt, dass der Mensch in seinem Handeln und in seinem Intellekt dem Tier überlegen ist. Den Kern des Mensch-Seins glaubt sie in dessen Sozialität ausmachen zu können, da der Mensch nicht nur auf diese angewiesen ist, sondern diese zum Mittelpunkt seines Seins macht. In Anlehnung an Rousseau formuliert sie die These, dass der Mensch von Geburt an gut ist. Alles Schlechte entsteht folglich erst durch Umwelteinflüsse, die negativ auf den Menschen einwirken. Maria Montessori galt als überaus religiöser Mensch. Es verwundert also nicht, dass sie diese Grundhaltung maßgeblich in ihre Anthropologie einfließen lässt. Als (vorerst) letztes Glied der Evolution fallen dem Menschen neue Aufgaben zu, die ihn von der Tierwelt unterscheiden. Daraus erwächst nicht nur eine Verantwortung gegenüber der Schöpfung und deren kosmischen Plan, sondern auch die Notwendigkeit einer klaren Positionierung zu dieser kosmischen Einheit.[6] Da es dem Menschen so, in Abgrenzung zu den Tieren möglich ist angeborene Instinkte in den Hintergrund zu drängen, entsteht daraus die Chance zur Selbstentwicklung, die einen größtmöglichen Anteil des jeweiligen Entwicklungspotentials ermöglicht. Eine wirkliche Entwicklung ist aber nur dann möglich, wenn der Mensch ab einem möglichst frühen Zeitpunkt, am besten bereits ab dem der Geburt, er selbst sein darf und in dieser Haltung Bestätigung findet. Maria Montessori untermauert diese Forderung, indem sie darauf verweist, dass die Individualität, also die Persönlichkeit eines jeden Menschen bereits in einem sehr frühen Zellstadium determiniert ist und von diesem Zeitpunkt an lediglich entwickelt werden muss.[7] Daraus ergibt sich eine weitere Kernthese der Pädagogik und Anthropologie der Maria Montessori. Wenn die Persönlichkeit eines Kindes nämlich bereits tief in ihm verwurzelt liegt, kann diese von der Umwelt des Kindes nicht hervorgebracht, sondern lediglich ent- oder gefesselt werden. In ihrer Schrift Kinder sind anders[8] verweist Montessori in diesem Zusammenhang auf ihre Annahmen sogenannter sensibler Perioden, die sich im Laufe der Entwicklung eines jeden Kindes eröffnen. Es sei „absurd anzunehmen, dass gerade der Mensch[...]keinen seelischen Entwicklungsplan in sich tragen sollte“.[9] Ein jedes Kind wird so zu seinem eigenen „inneren Baumeister“, der seine individuellen Entwicklungszyklen an eben diesen Perioden entfaltet. Diese Entwickelungszyklen wiederum widmen sie jeweils unterschiedlichen Inhalten, die so in jedem einzelnen Menschen in ihren Anlagen bereits verwurzelt sind, dann aber erst zu unterschiedlichen Zeitpunkten durch das Interesse des einzelnen Kindes entfaltet und entsprechend geordnet angelegt werden. Als Beispiele für diese speziellen Lernprozesse seien das Laufen- und Sprechenl-Lernen des Kleinkindes, die Ausbildung der Feinmotorik, wie etwa das Schneiden oder Besteckessen des Vorschulkindes, die Interaktion mit der Umwelt des Schulkindes, so wie die Ausprägung des Gerechtigkeitssinns des Jugendlichen usw.[10] genannt. Jedes dieser Fenster öffnet sich nur ein einziges Mal, so dass eventuelle, umweltbedingte Störungen nur schlecht, in manchen Fällen gar nicht aufgefangen oder nachgearbeitet werden können. Es verwundert demnach nicht, dass Montessori ihr Hauptanliegen in den Aufruf an die Erwachsenenwelt kleidet, das Kind in seinen Anstrengungen nicht zu behindern und seine Umwelt so zu gestalten, dass eine echte Entwicklungsmöglichkeit entsteht. Aus diesem Credo und der Überzeugung, dass das Kind selbst der Protagonist und Agens seines Entwicklungsprozess ist, ergibt sich ein weiteres Grundprinzip der Montessori-Pädagogik, -das der Freiheit. Nur wer Kinder in ihrem eigenständigen Tun achtet und dessen Prozesse würdigt, ermöglicht ihm auch ein freies, auf sich bezogenes Tun. Aus dieser Bitte Montessoris an die Erwachsenenwelt leitet sich der viel-zitierte Satz „Hilf mir es selbst zu tun“[11], ab.
[...]
[1] Vgl. § 218a Abs.2 StGB der Bundesrepublik Deutschland
[2] dt.: Das Jahrhundert des Kindes
[3] Vergleiche: Hellbrügge 1977 S. 60
[4] Vergleiche: Hellbrügge 1977 S. 61f
Anmerkung: Die Bezeichnung „schwachsinning“ ist heute im höchsten Maße inkorrekt, verdeutlicht aber die Exposition der von Hellbrügge entwickelten Montessori-Pädagogik und wird deshalb an dieser Stelle als Zitat übernommen.
[5] Vergleiche: Hellbrügge 1978 S.38
[6] Vgl. Waldschmied 2001 S.36ff
[7] Vgl. Böhm 1969 S. 124
[8] Vgl. Montessori 20.Aufl. 2004 S.40f
[9] Ebd.
[10] Vgl. Waldschmied 2001 S. 46ff
[11] In der schwedische Übersetzung noch trefflicher: „Hilf es mir selbst zu finden“ Vgl. Waldschmied 2001 S.41
- Quote paper
- Kerstin Hartwich (Author), 2004, Die Methodik der Maria Montessori und deren Rolle in der Behindertenpädagogik, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139432
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