Migration und Integration nehmen einen immer höheren Stellenwert in den modernen Einwanderungsgesellschaften ein. Die vorliegende Arbeit beleuchtet die Integration von Migranten in Deutschland und Großbritannien, wobei vor allem das Bildungswesen näher betrachtet wird. Verschiedene Programme und Initiativen speziell für junge Migranten werden vorgestellt. Abschließend wird eine Analyse ausgewählter Pressetexte aus beiden Ländern zur Unterlegung der bislang gewonnenen Erkenntnisse herangezogen.
Inhaltsverzeichnis
I. THEORETISCHER TEIL
1. Integration als europäische Aufgabe
1.1 Was ist Integration?
1.1.1 Integration in multikulturellen Kontexten
1.1.2 Kulturelle Integration
1.1.3 Die Bedeutung der Sprache für Integrationsprozesse
1.1.4 Integration und Bildung
1.2 Migration
1.3 Alltagsrassismus und institutionelle Diskriminierung
1.4 Die Migrations- und Integrationspolitik der EU
1.4.1 Ursachen und Gründe für eine gemeinschaftliche Politik
1.4.2 Die Migrationspolitik der EU
1.4.3 Aufgaben einer zukünftigen europäischen Migrationspolitik
1.5 Europäische Integrationspolitiken im Vergleich
1.5.1 Frankreich: Alle sind gleich verschieden
1.5.2 Die Niederlande: Ein multikulturelles Drama?
1.5.3 Schweden: Jämlikhet, valfrihet och samverkan
1.6 Transatlantic Trends: Immigration
1.6.1 Was denken die Deutschen?
1.6.2 Die Briten - die größten Skeptiker
2. Deutschland
2.1 Migration in Deutschland - ein historischer Abriss
2.2 Die deutsche Migrations- und (Nicht-)Integrationspolitik
2.3 Zur kulturellen und sprachlichen Integration der Migranten in Deutschland
2.3.1 Die sprachliche Integration
2.3.2 Die sozialräumliche Integration
2.3.3 Zur Integration anderer Religionen
2.3.4 Integration durch Sport
2.4 Junge Migranten im deutschen Bildungswesen
2.4.1 Der Einfluss des deutschen Bildungssystems auf die Integration
2.4.2 Die Integration in das Bildungswesen
2.5 Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt
2.6 Akzeptanz und Identifikationsgefühle von Migranten
2.7 Ausblick: Anforderungen an eine effektive Integrationspolitik
3. Großbritannien
3.1 Die Migrantenbevölkerung
3.2 Migration im 19. und 20. Jahrhundert
3.3 Großbritanniens große Herausforderung: Der Multikulturalismus
3.4 Britische Migrations- und Integrationspolitik
3.5 Die Integration junger Migranten
3.5.1 Zur sprachlichen Integration
3.5.2 Die kulturelle und politische Integration
3.5.3 Die sozialräumliche Integration
3.5.4 Integration verschiedener Religionen
3.6 Migranten im britischen Bildungswesen
3.6.1 Besonderheiten des Bildungssystems in Großbritannien
3.6.2 Lage und Integration von Migranten im Bildungswesen
3.7 Migranten auf dem britischen Arbeitsmarkt
3.8 Identifikation mit der neuen Heimat?
3.9 Ausblick
4. Zwischenfazit
II. PRAKTISCHER TEIL
5. Integrationsmaßnahmen in Deutschland
5.1 Staatliche Integrationsmaßnahmen
5.2 START: Schülerstipendienprogramm für begabte Zuwanderer
5.3 Die Robert Bosch Stiftung
5.3.1 Integration junger Migranten
5.3.2 Lokale Initiativen zur Integration junger Migranten in Ausbildung und Beruf
6. Britische Integrationsmaßnahmen
6.1 Excellence in Cities
6.2 Windsor Fellowship
6.3 SEO London: Sponsors for Educational Opportunity
6.4 HAAYA: Hounslow Asian and African Youth Association
7. Inhaltliche Analyse von Pressestimmen
7.1 Zur Methodik: die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring
7.2 Vorgehensweise
7.2.1 Textkorpusanalyse
7.2.2 Ablauf der Analyse
7.3 Durchführung der Analyse
7.3.1 „Sie vertrauen mir, weil ich Türke bin“ (SZ vom 04.09.2008)
7.3.2 „Migranten wollen aufsteigen“(Welt am Sonntag vom 14.12.2008)
7.3.3 "Schools made up of only ethnic minorities" (Daily Telegraph vom 04.05.2008)
7.3.4 "British citizenship lessons for young Muslims" (The Times vom 18.07.2008)
7.4 Auswertung der Presseanalyse
8. Fazit und Ausblick
9. Abbildungsverzeichnis
10. Abkürzungsverzeichnis
11. Quellenverzeichnis
12. Anhang
0. Einleitung
“ We are in the midst of a new era of migration, and international migration today is indeed a global phenomenon. ”
(Kofi Annan1 )
Migration ist ein vielfältiges und allgegenwärtiges Phänomen. Es gibt kein Land, das keine Zu- oder Abwanderungen verzeichnet. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen sind 190 Millionen Menschen unentwegt „in der Migration“ - mit steigender Tendenz. Viele Länder erkennen, dass die mit Migration einhergehenden Chancen und Herausforderungen nur durch eine intensivere internationale Zusammenarbeit dauerhaft bewältigt werden können. Auch die europäischen Staaten wurden durch die Wanderungsbewegungen tief greifend verändert und erfreuen sich ]weiterhin großer Beliebtheit unter den Migranten2. Brüssel schätzt, dass in den vergangenen Jahren mehr Menschen in die EU eingewandert sind als nach Kanada und in die USA zusammen (vgl. Bolzen 2008).
In öffentlichen Diskursen wird zwar einerseits die Wichtigkeit der Integrationsförderung hervorgehoben und die wirtschaftliche und kulturelle Bereicherung durch die Migranten betont. Andererseits werden seit den Attentaten vom 11. September 2001, den Anschlägen in Madrid und London im März 2004 und Juli 2005 sowie durch die radikalen Ausschreitungen Jugendlicher in Frankreich im Herbst 2005 vor allem die Probleme und Defizite Zugewanderter fokussiert. Oft wird sogar von gescheiterter Integration gesprochen, wenn Frauen muslimischer Zugehörigkeit überzeugt ein Kopftuch tragen oder ein Teil der Eingewanderten noch immer nicht die Landessprache beherrscht. Ein Großteil der Diskurse betont verstärkt den (angeblich) mangelnden Willen der Migranten zur Integration, ohne dabei die Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft zu erwähnen.
Das Bildungswesen steht vor neuen Herausforderungen: Um Millionen junger Menschen, die in zwei oder mehr kulturellen Kontexten leben, zukunftsfähig zu machen, müssen die Qualität der Bildung verbessert und die Lehrpläne reformiert werden. Im Zuge der Globalisierung und europäischen Integration ist eine Internationalisierung von schulischen Qualifikationsanforderungen unumgänglich.
Die Sprache ist zunächst nur ein Aspekt der sozialen Integration von Migranten, hat aber eine weit darüber hinausgehende Bedeutung. Der Zusammenhang zwischen Sprache und Integration, vor allem durch die Vermittlung von Bildung, war schon immer ein zentrales Thema der Migrations- und Integrationsforschung. Allerdings gibt es noch deutliche Defizite im Wissen über das Zusammenspiel der mit Sprache und Integration verbundenen Prozesse und Bedingungen. Speziell zu den deutschen Verhältnissen gibt es leider nur wenige brauchbare Studien.
Hinsichtlich der aktuellen Lage sowie der Entwicklungen der letzten Jahre ist eine funktionierende Migrations- und Integrationspolitik wichtiger denn je. Die Finanzkrise und die Situation auf den Arbeitsmärkten haben das Thema Einwanderung hochbrisant werden lassen. So sagte der britische Einwanderungsminister Phil Woolas im Oktober 2008, kurz nachdem das ganze Ausmaß der globalen Finanzkrise ersichtlich wurde, in einem Interview mit der Times: “Clearly if people are being made unemployed, then the question of immigration becomes extremely thorny”(Sylvester/ Thomson 2008). Er empfahl den Arbeitgebern in seinem Land, bevorzugt Briten einzustellen, um keinen Rassismus zu schüren - und löste damit heftige Diskussionen aus.
Bei all den vielfältigen gegenwärtigen Entwicklungen und Diskursen soll diese Magisterarbeit einen Überblick über die Integration junger Migranten in den Einwanderungsländern Deutschland und Großbritannien gewähren und dabei das Bildungswesen genauer beleuchten. Vor welchen Problemen stehen die Migranten? Mit welchen Maßnahmen versucht das jeweilige Aufnahmeland die Integration zu erleichtern? Wo gibt es noch Handlungsbedarf? Diese und andere Fragen sollen im Folgenden beantwortet werden.
Im ersten Kapitel werden zunächst die theoretischen Grundlagen zu den Begriffen Integration und Migration geschaffen. Zudem soll Integration als Aufgabe im europäischen Kontext aufgezeigt werden. Welche Migrationspolitik verfolgt die Europäische Union? Vor welchen Herausforderungen steht die EU in Zukunft - und wie muss sich das in gemeinsamen Richtlinien widerspiegeln?
Kapitel 2 und 3 beschäftigen sich mit der aktuellen Situation von Migranten in Deutschland und Großbritannien. Neben einem allgemeinen Überblick über die Lebensverhältnisse der Zugewanderten wird speziell auf ihre Lage im Bildungswesen eingegangen. Es soll aufgezeigt werden, vor welchen Problemen viele junge Menschen mit Migrationshintergrund in der Schule oder auf dem Arbeitsmarkt stehen.
Im praktischen Teil ab Kapitel 5 werden Initiativen in Deutschland vorgestellt, die sich gezielt an junge Migranten richten und ihnen bei der Integration in das Bildungssystem sowie beim Ausbau ihrer Fähigkeiten helfen. Programme wie das START-Projekt der Hertie-Stiftung haben schon einen großen Beitrag dazu geleistet, dass Einwanderer sich besser integrieren konnten, und sollen daher in dieser Arbeit nicht unerwähnt bleiben. Anschließend werden britische Projekte präsentiert.
Im siebten Kapitel werden mit Hilfe der qualitativen Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring deutsche und britische Zeitungsartikel untersucht. Ziel ist es, anhand vier exemplarischer Pressestimmen aufzuzeigen, wie die aktuelle Situation in den Ländern in der Presse dargestellt wird und ob sich die Inhalte der Texte mit den vorher aufgezeigten Erkenntnissen, Situationen sowie Stimmungen decken.
Abschließend werden im Fazit Parallelen und Unterschiede in der Integrationsarbeit beider Länder zusammengefasst und Anregungen für eine zukünftige Migrations- und Integrationspolitik gegeben. Da ein Ende des Zustroms an Einwanderern vorerst nicht in Sicht ist, ist es für Deutschland, Großbritannien und ganz Europa wichtig, aus bisherigen und aktuellen Problemen zu lernen, um solche in Zukunft besser lösen zu können.
I. THEORETISCHER TEIL
1. Integration als europäische Aufgabe
„ Wenn man wirklich möchte, dass sich Ausländer integrieren, müsste man aufhören, sie als Ausländer zu betrachten, sondern sie als Menschen sehen. “
(ARiC3, 2001)
Migration und Integration werden zunehmend als europäische Herausforderungen verstanden, die eine Betrachtung über die Ländergrenzen hinaus unverzichtbar machen. Als Folge der stark differierenden Lebensstandards in den reichen Industrienationen und armen Ländern, steigender Internationalisierung sowie zunehmenden innerstaatlichen Konflikten nehmen die Migrationsbewegungen weltweit zu (vgl. Bade 2002: 11ff.). Die westeuropäischen Länder haben sich mittlerweile alle zu Einwanderungsländern entwickelt (vgl. Birsl et al. 2003: 17). Die öffentlichen Diskurse über Migration und Integration in diesen Ländern zeichnen sich dabei durch eine „auffällige Ambivalenz“ (Schramkowski 2007: 32) aus: Einerseits fordert und fördert man zwischenstaatliche Mobilität, vor allem innerhalb der EU, andererseits machen sich Verunsicherung und Ablehnung gegenüber Immigration unter der Mehrheitsbevölkerung breit (vgl. GMF-Studie in Kapitel 1.6). Klaus Bade sprach von einer „negativen Hochkultur“ des Themas (Bade 2002: 11). Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich der Fokus der europäischen Migrationspolitiken vermehrt auf die Kontingentierung von Immigration verschiebt. Auch hier wird eine Zwiespältigkeit offensichtlich: Während man sich gegen unerwünschte Gruppen wie Flüchtlinge abzuschotten versucht, ist man an der so genannten Elitenmigration (ebd.: 451), also der Einwanderung von für die Gesellschaft „nützlichen“ Gruppen, weiterhin stark interessiert. Die Integration im Inneren Europas bei gleichzeitiger Abgrenzung nach außen führte zur Bezeichnung der EU als „Festung Europa“ (vgl. Koser/ Lutz 1998).
Bevor auf weitere europäische Aspekte und Herausforderungen eingegangen wird, werden die theoretischen Grundlagen der Integration, Migration, institutionellen Diskriminierung sowie des Zusammenhangs zwischen Spracherwerb und Integration näher erläutert.
1.1 Was ist Integration?
Obwohl der Begriff Integration seit einigen Jahren in aller Munde ist, herrscht noch immer Unklarheit über dessen exakte Bedeutung. Er wird verwendet, um vielfältigste Perspektiven und Positionen zu beschreiben und ist kontextabhängig mit unterschiedlichsten Vorstellungen darüber verbunden, wie sich das Zusammenleben zwischen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft und den eingewanderten Gruppen gestalten sollte. Das Antirassistisch-Interkulturelle Informationszentrum Berlin e.V. hat eine Definition formuliert, die alle im Rahmen dieser Magisterarbeit relevanten Aspekte der Integration umfasst:
„ Unter Integration verstehen wir einen wechselseitigen Prozess, an dem einzelne Personen oder Gruppen und die so genannte Mehrheitsgesellschaft aktiv beteiligt ist. Er umfasst politische, rechtliche, wirtschaftliche, soziale, kulturelle und kommunikative Aspekte. Sein Ziel ist die bestmögliche Gestaltung der Lebensverhältnisse von Zuwanderern unter den gesellschaftlichen Gegebenheiten [...]. Dabei soll die nationale, kulturelle und religiöse Identität der Zuwanderer gewahrt bleiben. “
(ARiC 2001: 4)
Somit beschreibt Integration einen dynamischen und stark differenzierten Vorgang des Zusammenwachsens, der mitunter mehrere Generationen umfassen kann. Begleitet und gefördert werden soll er durch eine angemessene Integrationspolitik.
Der britische Soziologe David Lockwood unterscheidet zwischen der Integration einzelner Menschen und Gruppen in die Gesellschaft und der Integration einzelner gesellschaftlicher Subsysteme. Den Zusammenhalt gesellschaftlicher Systeme als kollektive Einheit bezeichnet Lockwood als Systemintegration. Die Integration einzelner Menschen in die Gesellschaft nennt er Sozialintegration (vgl. Lockwood 1969: 124ff.).
Integration wird häufig als vierstufiger Prozess beschrieben. Dieser besteht aus den folgenden, inhaltlich verschiedenen Dimensionen (vgl. Esser 2006: 26):
1. Funktionale Assimilation: Die Migranten erwerben Sprachkenntnisse der Landessprache sowie das nötige Orientierungswissen über soziale Regeln des Aufnahmelandes. Ein selbstständiges Leben sowie das Erlangen von Positionen in der Mehrheitsgesellschaft sind nun möglich.
2. Strukturelle Integration: Den Zugewanderten wird ein gleichberechtigter Zugang zu gesellschaftlichen Institutionen wie dem Arbeitsmarkt ermöglicht. Das ist die Voraussetzung für eine politische Partizipation und rechtliche Gleichstellung.
3. Soziale Integration: Es kommt zur Eingliederung in private Sphären der aufnehmenden Gesellschaft über soziale Beziehungen. Gleichzeitig akzeptieren die Migranten Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft in ihrem privaten Bereich.
4. Identifikatorische Integration: Die Migranten entwickeln Zugehörigkeitsgefühle zur Aufnahmegesellschaft. Das können Identifikationsgefühle mit ethnisch-nationalen, regionalen und/ oder lokalen Strukturen sein. Diese Form der Integration setzt allerdings voraus, dass die Migranten als Gesellschaftsmitglieder akzeptiert werden.
1.1.1 Integration in multikulturellen Kontexten
Unter Kultur versteht man
„ ein im Zuge der Sozialisation erlerntes und gesellschaftlich (re-)produziertes Orientierungssystem, das gemeinsame Lebensweisen und Deutungsmuster einer Gruppe vereint, den Angehörigen Handlungsmuster und durch die Gruppenzugehörigkeit ein Gefühl von Sicherheit gibt. “
(Schramkowski 2007: 58)
Kultur ermöglicht es uns, angemessen mit anderen Menschen zu interagieren und am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Oft ist den Angehörigen eines Kulturkreises der kulturelle Einfluss auf die Lebensweise und den mit ihr einhergehenden Deutungsmustern gar nicht bewusst. Erst durch die Begegnung mit Angehörigen anderer Kulturkreise werden sie auf Unterschiedlichkeiten und somit die Relativität und Begrenztheit kultureller Orientierungssysteme aufmerksam.
Kulturen sind keine statischen Gebilde, sondern verändern sich ununterbrochen. Daher sind die Grenzen zwischen ihnen nicht eindeutig, sondern verschwommen. Dies ist vor allem in Einwanderungsgesellschaften der Fall, in denen Angehörige unterschiedlicher kultureller Herkunft interagieren. In welche Richtung sich die kulturellen Orientierungssysteme dabei verändern und welche Werte oder Einstellungen festgesetzt werden oder bestehen bleiben, hängt von gesellschaftlichen Machtverhältnissen ab. Diese werden stärker von den Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft als von Eingewanderten bestimmt (vgl. Leiprecht 2004; Losche 2000: 15ff.).
Integrationsprozesse in multikulturellen Gesellschaften können in verschiedenen Formen auftreten (vgl. Yildiz 2001). Bei der Mehrfachintegration erfolgt die Integration in beide Gesellschaften oder Milieus. Die Integration in ein binnenethnisches Milieu bei gleichzeitigem Ausschluss aus der Aufnahmegesellschaft wird als ethnische Segmentation bezeichnet. Die Assimilation beschreibt die Integration in die Aufnahmegesellschaft unter Aufgabe der Integration in die eigenen ethnischen Bezüge, wohingegen unter Marginalität der Ausschluss aus beiden Bereichen zu verstehen ist.
1.1.2 Kulturelle Integration
Die kulturelle Integration, auch Akkulturation genannt, ist eine Teildimension der Integration. Heckmann definiert sie wie folgt:
„ Kulturelle Integration ... wird verstanden als durch Kulturkontakte und Sozialisation hervorgerufene Veränderungen von Werten, Normen und Einstellungen, als Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten und Qualifikationen, sowie als Veränderungen von Verhaltensweisen und Lebensstilen bei den Migranten. Akkulturation ist jedoch auch ein wechselseitiger Prozess, in welchem Kulturkontakte mit der Minderheit auch die Mehrheit verändern. “
Diese Form der Integration richtet sich zwar hauptsächlich an die Migrantenbevölkerung, aber wie aus der Definition deutlich wird, beinhaltet sie ebenfalls Interaktionsprozesse sowie notwendige Anpassungen auf Seiten der Aufnahmegesellschaft. Es werden zwei entgegengesetzte Positionen unterschieden: die kulturelle Assimilation und der Kulturpluralismus (Multikulturalismus). Die Soziologin Annette Treibel beschreibt die kulturelle Assimilation als eine Angleichung von kulturellen Traditionen, die Persönlichkeitsveränderungen sowie Modifikationen des kulturellen Erbes mit sich bringen (vgl. Treibel 1999: 59). Im Oktober 2000 löste der damalige CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz mit seiner Ablehnung des Multikulturalismus und der Forderung, die Einwanderer sollten sich der „deutschen Leitkultur“ anpassen, breite öffentliche Diskussionen aus. Der Begriff der „deutschen Leitkultur“ stieß in der Öffentlichkeit sogar teilweise auf Ablehnung. Jürgen Habermas urteilte: „In einem demokratischen Verfassungsstaat darf auch die Mehrheit den Minderheiten die eigene kulturelle Lebensform - soweit diese von der gemeinsamen politischen Kultur des Landes abweicht - nicht als so genannte Leitkultur vorschreiben“ (Habermas 2002: 13). In einem Interview mit dem Spiegel (2004) fügte Klaus Bade hinzu: „Das Niveau dieser Debatte ist auf Fußhöhe - man muss aufpassen, dass man nicht drauftritt.“
Die Verfechter des Multikulturalismus halten die Forderung nach kultureller Anpassung der Migranten für einen Schritt in die falsche Richtung. Sie treten für den Erhalt der ethnischen Vielfalt ein. Kulturelle Differenzen werden dabei einseitig als Bereicherung empfunden, was zu einer Verleugnung von Schwierigkeiten führen kann, die überall an Orten der interkulturellen Begegnung auftreten. Dass diese Auffassung der kulturellen Integration auch nicht die ideale Lösung ist, beweist die jüngere Integrationsgeschichte in den Niederlanden und in Großbritannien.
Alles in allem lässt sich feststellen, dass dieses Thema meist polarisiert - entweder wird Zuwanderung als reine Bereicherung oder aber als Gefahr für die nationale Identität wahrgenommen. Bislang haben Deutschland, Großbritannien und die meisten anderen europäischen Staaten große Schwierigkeiten, ein ganzheitliches Konzept zur kulturellen Integration zu entwickeln, das zwischen diesen beiden Extremen liegt.
1.1.3 Die Bedeutung der Sprache für Integrationsprozesse
Sprache bildet einen zentralen Aspekt der Integration von Migranten, womöglich sogar den wichtigsten. Sie ist sowohl Teil als auch Bedingung und Folge anderer Integrationsprozesse. Die Kenntnis der Landessprache ist eine wichtige Voraussetzung für die Partizipation am öffentlichen Leben und daher Grundlage der Integration. Es wird als selbstverständlich angesehen, dass die Migranten die Sprache des Aufnahmelandes erlernen. Erfolgt der Spracherwerb nicht, wird das fast immer kritisiert. Ein mangelnder Wille zur Aneignung von Sprachkenntnissen wird analog als mangelnder Wille zur Integration betrachtet.
Schramkowski (2007: 243) stellte in einer Reihe von Interviews fest, dass in Deutschland viele der jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund der Auffassung sind, die Relevanz der Sprache werde teilweiseüberbewertet4. Ihrer Meinung nach trägt die einseitige Betonung der Tatsache, dass das Beherrschen der Landessprache für die Integration unbedingt notwendig sei, dazu bei, dass der für sie relevante Aspekt des Themas nicht erwähnt wird: die fehlende Anerkennung und Akzeptanz der Zugewanderten seitens der Mehrheitsbevölkerung. Letztendlich führen auch perfekte Sprachkenntnisse nicht automatisch zur vollständigen Eingliederung in die Gesellschaft und Anerkennung als gleichberechtigtem Mitglied.
Zwischen sprachlichen Fertigkeiten und dem Arbeitsmarkt bestehen deutliche Zusammenhänge. Sprachkenntnisse sind eine unverzichtbare Voraussetzung für viele Tätigkeiten. Viele Migranten machen die Erfahrung, dass mit dem Wechsel des sprachlichen Kontextes die Wertschätzung ihres sonstigen Humankapitals, etwa Bildung oder Betriebserfahrung, leidet. Gerade in institutionellen Einrichtungen wie der Schule oder in den kommunikativen Bereichen der Arbeitsmärkte sind kleine Abweichungen in Varietäten von großer Bedeutung. Die erwartete korrekte Beherrschung der Schriftsprache sowie die akzentfreie Aussprache sind besonders wichtig (vgl. Esser 2006: 61). Akzente „definieren“und „etikettieren“ unbewusst Personen und Situationen - und können somit ungewollt Stereotypen und diskriminierende Handlungen auslösen, die negative Konsequenzen mit sich bringen, etwa bei Vorstellungsgesprächen.
Esser (2006: 103ff.) identifiziert eine Reihe von Faktoren, die den Erwerb der Landessprache beeinflussen: Neben dem Einreisealter und der Bildung des Migranten üben auch der Herkunfts- und der Aufnahmekontext sowie Sprachkurse einen starken Einfluss aus. Gerade der empirisch bestätigte Zusammenhang zwischen dem Einreisealter und dem Spracherwerb (vgl. u.a. Rumbaut 2004: 1170) ist für die Abschätzung der Effizienz der Sprachkurse, die in vielen Ländern von staatlicher Seite angeboten werden, von großer Bedeutung. Für eingewanderte Kinder ist das Alter die wichtigste Determinante der Integration und ihrer späteren Bildungslaufbahn: Je höher das Einreisealter ist und je später der Besuch einer Bildungseinrichtung erfolgt, desto niedrigere Chancen haben Migrantenkinder auf eine höhere Schulbildung (Kristen 2003). Daher müssen ein möglichst früher Kontakt zum Bildungssystem hergestellt und die Bedeutung der vorschulischen Sprachförderprogramme für Kinder mit Migrationshintergrund stärker hervorgehoben werden.
1.1.4 Integration und Bildung
Die Integration ins Bildungssystem und die gesellschaftliche Integration durch Bildung hängen für junge Migranten eng zusammen. Hinsichtlich der Entwicklung in der Beschäftigtenstruktur - der Rückgang von einfachen Arbeiten für unqualifizierte Kräfte bei gleichzeitiger Bedarfszunahme an wissensintensiven Tätigkeiten - sind die beruflichen Entfaltungschancen mehr denn je vom Erwerb von Qualifikationen im Bildungsbereich abhängig. Migranten der meisten Herkunftsnationen verfügen aber häufig nur über niedrige Schulabschlüsse oder bleiben ohne Berufsausbildung. Dadurch werden die gesellschaftlichen Partizipationsmöglichkeiten stark eingeschränkt und die Gefahr besteht, dass die Integration auf den Arbeitsmarkt ganz misslingt und Resignation bei den Migranten einsetzt (vgl. Dettling/ Gerometta 2007: 147). Auf diese Weise geht ein Potenzial an Arbeitskräften verloren, das - besonders in Deutschland - angesichts der demographischen Entwicklung bald auf dem Arbeitsmarkt fehlen könnte. Oberste Priorität für den langfristigen Erfolg der Integration müssen daher die gleichberechtigte Ermöglichung von Bildungserfolgen durch die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen sowie das Erlangen qualifizierender Schulabschlüsse und somit der Zugang zu höherer Bildung sein.
Der Bildungserfolg von Migranten und ihre Positionierung auf dem Arbeitsmarkt werden maßgeblich von Sprachkenntnissen der Landessprache beeinflusst (vgl. Esser 2006: 67). Daher wird in fast allen Einwanderungsländern die Sprachförderung besonders hervorgehoben, wie in den Niederlanden, Schweden und seit ein paar Jahren verstärkt auch in Deutschland. Die Benachteiligung im Beschäftigungssystem ist meist auf das Zusammenwirken von mehreren ungünstigen Umständen zurückzuführen, etwa auf ein niedriges Bildungsniveau der Eltern. Wichtig ist vor allem, dass die Förderung der Einwanderer frühzeitig beginnt, da es sich äußerst schwierig gestaltet, Benachteiligungen, die aus einem verspäteten Start in der neuen Heimat resultieren, wieder aufzuholen. Die Schuld für die zum Teil missliche Lage der Migranten kann dennoch nicht allein bei den Bildungsinstitutionen gesucht werden. Diese sind ohne Zweifel zentrale Orte der Integration, allerdings müssen die Ursachen für Probleme bei der Eingliederung einem viel größeren sozialen und kulturellen Rahmen zugeordnet werden.
1.2 Migration
Weder im Bereich der Politik noch in den Sozialwissenschaften gibt es eine eindeutige Definition von Migration (vgl. Birsl 2003: 30f.). Das Verständnis dieses Begriffes variiert in den verschiedenen Wissenschaften zum Teil stark, was vor allem am unterschiedlichen Zugang zum oder Interesse am Phänomen liegt (vgl. ebd.: 22). Migration leitet sich vom lateinischen Wort migrare bzw. migratio ab und bedeutet wandern, wegziehen bzw. Wanderung (vgl. Han 2000: 7). Es bezeichnet allgemein die schon immer präsenten Bewegungen von einzelnen Personen oder Gruppen über weite geographische Gebiete in andere Gesellschaften und/ oder andere Regionen. Sie erfolgten aus unterschiedlichen Gründen aufgrund einer Kombination aus Zwang, freiwilliger Entscheidung und individueller Motivation für einen zeitlich begrenzten oder dauerhaften Zeitraum (vgl. Rommelspacher 2002: 176f.; Han 2000: 209; Treibel 1999: 21). Man unterscheidet zwischen internationaler und intranationaler Migration (vgl. Geis 2005: 8). Während die intranationale Migration einen Ortswechsel innerhalb der gegebenen Landesgrenzen darstellt und somit der Kulturkreis sowie die nationale Identität erhalten bleiben, bezeichnet die internationale Migration eine Wanderung über die Landesgrenzen hinaus. Dabei siedelt der Migrant oft in einen neuen Kulturkreis mit einer anderen Sprache um. Die internationale Migration ist somit bei Weitem die radikalere Form, da meist eine neue Sprache erlernt werden muss und Familie und Freunde zurückgelassen werden. Auch wenn die intranationale Migration häufiger vorkommt, soll in dieser Arbeit nur die internationale Migration betrachtet werden.
Anzumerken sei an dieser Stelle, dass im Zusammenhang mit der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff Migrant eine Person gelten soll, die in einem anderen Land geboren wurde und später nach Deutschland bzw. Großbritannien einreiste (Migrant der ersten Generation), oder jemand, der zwar in dem betrachteten Land geboren wurde, aber ein Kind eines Migranten der ersten Generation ist (Migrant der zweiten Generation).
1.3 Alltagsrassismus und institutionelle Diskriminierung
Unter Alltagsrassismus versteht man die „oft alltägliche Erfahrung von Personen mit Migrationshintergrund, infolge der attribuierten ‚Andersartigkeit’ mit bestimmten (Negativ-) Zuschreibungen sowie (strukturellen oder institutionellen) Ausgrenzungen konfrontiert zu werden“ (Schramkowski 2007: 26). Der Begriff Rassismus wird bewusst nicht verwendet, da hiermit offene, gewalttätige Handlungen gegenüber Migranten bezeichnet werden. Alltagsrassismus hingegen tritt zumeist subtil auf. Laut Schramkowski beruhen alltagsrassistische Denkmuster der Mehrheitsgesellschaft auf „undifferenzierten, mit ethnischen Zugehörigkeiten verknüpften Darstellungen darüber, wer als ‚deutsch’ und somit als Gesellschaftsmitglied anerkannt wird“(ebd.). In der Fachliteratur mehren sich die Hinweise darauf, dass in fast allen europäischen Ländern Erfahrungen dieser Art einen nicht unerheblichen Teil des Lebens von Migranten ausmachen. Alltagsrassistische Denk- und Handlungsmuster erschweren folglich Integrationsprozesse, indem sie eine größere soziale Distanz zwischen Migranten und der autochthonen Bevölkerung schaffen.
Auch das Phänomen der institutionellen Diskriminierung ist in Europa weit verbreitet. Es bezeichnet „die durch gesellschaftliche Institutionen vorgenommene Benachteiligung und Ausgrenzung von einzelnen Personen und/ oder Gruppen infolge der mit ihrer ‚fremden’ ethnischen Zugehörigkeit einhergehenden (Negativ-)Zuschreibungen“ (Schramkowski 2007: 72). Zu finden sind diese Ausgrenzungsprozesse vor allem im (Aus-)Bildungsbereich, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt sowie in behördlichen Institutionen. Über diskriminierende Strukturen als Grund für ethnische Differenzierungen und Benachteiligungen wird allerdings in den meisten Ländern nicht diskutiert:
„ Statistisch gemessene Ungleichheit beim Schulerfolg, der Beschäftigung, der Bezahlung wird hingenommen oder einvernehmlich ‚ weg-erklärt’. Wo nicht individuelles Versagen der Migranten konstatiert wird, mangelnde Integrationsbereitschaft gar, wird ihre soziale Lage oder aber ‚ kulturelle Fremdheit’als Ursache benannt, oder bestenfalls darauf gesetzt, dass sich das Problem nach drei, vier Generationen wie von selbst auswachsen werde. “
(Gomolla/ Radtke 2002: 9)
Integration darf nicht weiterhin thematisiert werden, ohne Alltagsrassismen oder institutionelle Diskriminierungsstrukturen zu berücksichtigen. Diese Aspekte müssen unbedingt Bestandteil der Diskurse werden, so dass auch bislang vernachlässigte Ursachen aktueller Integrationsschwierigkeiten aufgezeigt und bewältigt werden können.
1.4 Die Migrations- und Integrationspolitik der EU
1.4.1 Ursachen und Gründe für eine gemeinschaftliche Politik
Bei ihrer Gründung im Jahr 1957 hatte die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) nicht geplant, die Asyl- und Flüchtlingspolitik gemeinsam zu beschließen. Zwar entwickelten sich die westeuropäischen Länder seit der Nachkriegszeit sukzessive zu Einwanderungsländern, dennoch verstand man damals Themen wie Migration oder Asyl als nationale Aufgaben (vgl. Bendel 2008a). Wie schnell offensichtlich wurde, lässt sich Immigration nur schwer auf rein staatlicher Ebene steuern. Sie wird längst aus einem transnationalen Blickwinkel betrachtet, welcher die europäische Dimension hervorhebt (vgl. Bade 2001: 10). Integration hat in allen Ländern Europas längst den Rang eines zentralen politischen Themas erreicht.
Der Zuwanderungsdruck wird immer stärker, vor allem in den westeuropäischen Ländern. Die Länder sehen sich nicht selbst im Stande, die legale und illegale Immigration anhand nationalstaatlicher Regelungen zu kontrollieren. Zudem fielen im Zuge der Europäischen Integration5 die Grenzen zwischen den Mitgliedsstaaten. Nun kann sich zwar die EU- Bevölkerung frei zwischen den Ländern bewegen (Freizügigkeit), allerdings gilt das Gleiche auch für Angehörige von Drittstaaten. Um die Europäische Union im Inneren zu schützen, sind EU-weite, einheitliche Richtlinien erforderlich. Die demographische Entwicklung verdeutlicht die Notwendigkeit von Migration. EUROSTAT6 gibt an, dass bereits 2050 ein Drittel der Bürger der EU älter als 65 Jahre sein wird (vgl. BPB 2008a). Um einen Mangel an erwerbsfähiger Bevölkerung in den meisten europäischen Staaten zumindest abzuschwächen, ist Migration erforderlich. So besteht schon seit Jahren in vielen Ländern ein Mangel an qualifizierten Fachkräften im IT-Bereich und die Anwerbung entsprechend ausgebildeter Arbeitnehmer wird immer wieder thematisiert. Mittlerweile befindet sich die EU mit den USA in einem Wettbewerb um die „klügsten Köpfe“ (vgl. Bendel 2008a). Um diesen Wettstreit zu gewinnen, kann eine gemeinsame Erarbeitung europaweit abgestimmter Zugangsmöglichkeiten zu den Ländern dazu verhelfen, die Europäische Union interessanter für die begehrten (Arbeits-)Migranten zu machen.
Nach einem teilweise kontroversen Aushandlungsprozess, der sich über mehrere Dekaden hinzog, entschied man sich zu kooperieren (vgl. Birsl 2003: 11). Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1999 wurde die Migrations- und Asylpolitik zur gemeinschaftlichen Aufgabe erhoben. Gemeinsame Gesetze in diesem Bereich werden vom Rat der Europäischen Union in Brüssel verabschiedet und müssen in fast allen EU-Staaten umgesetzt werden (vgl. Bendel 2008b). Die Regierungen einiger Staaten, etwa Großbritannien und Dänemark, bestimmen ihre Einwanderungspolitik weiterhin souverän. Die Asyl- und Flüchtlingspolitik sowie Bereiche der Migrations- und Integrationspolitik wären mittlerweile ohne eine gemeinsame Regelung fast undenkbar.
1.4.2 Die Migrationspolitik der EU
Befürworter einer europäischen Migrationspolitik betonen immer wieder die Notwendigkeit eines EU-weiten Ansatzes. Man hofft, mit Hilfe einer angemessenen Politik die Akzeptanz von Migranten zu steigern und Integrationsprobleme zu beheben. Die Inhalte einer gemeinsamen Integrationspolitik wurden bis heute in mehreren Rechtsakten konkretisiert. Die soziokulturelle, politische sowie wirtschaftliche Teilnahmemöglichkeit der Einwanderer soll ebenso garantiert werden wie die Beibehaltung der Identität und Werte der Aufnahmegesellschaft (vgl. Bendel 2008).
Im Jahr 2004 verabschiedete der Europäische Rat das Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union7. Zentrale Themen waren neben einem gemeinsamen Asylsystem, das bis 2010 realisiert werden soll, die verbesserte Steuerung und Kontrolle der Wanderungsbewegungen, die Vertiefung der Partnerschaft mit Drittstaaten in Migrationsfragen, Schritte zur Regelung der legalen Einwanderung sowie die Integration von Drittstaatenangehörigen (vgl. Schäuble 2006). Eine zentrale Regelung der Asyl- und Flüchtlingspolitik ist angemessen, da es sich in einem Gebiet ohne Binnengrenzen anbietet, eine gemeinsame Politik zu haben - um somit beispielsweise auch die Sekundärmigration innerhalb der EU besser bekämpfen zu können.
Die EU besitzt in der Integrationspolitik nur begrenzte Kompetenzen, die Hauptkompetenz liegt jeweils bei den Mitgliedsstaaten. Der Schwerpunkt der europäischen Politik bestand bisher in der Gewährung nahezu gleicher Rechte und Pflichten für Angehörige aus Nicht-EU- Ländern: Wenn diese sich über einen längeren Zeitraum in einem Mitgliedsstaat aufhalten, haben sie Anspruch auf Zugang zu Bildung und Beschäftigung, soziale Sicherheit sowie das Recht auf Familienzusammenführung (vgl. Bendel 2008). Die vier zentralen Punkte der Integrationspolitik der Europäischen Union sind Antidiskriminierung, Familien- zusammenführung, Rechte langfristig Aufenthaltsberechtigter und Zugang zum Arbeitsmarkt. Die Kompetenzen für den Bereich „Zugang zum Arbeitsmarkt“ hat weiterhin das jeweilige Aufnahmeland. Da die Arbeitsmärkte je nach Land unterschiedlichen nationalen Besonderheiten und Regelungen unterliegen, würde eine Übertragung der Verantwortung auf die EU vorhandene Probleme womöglich nicht lösen, sondern „unseren Politikern nur eine bessere Ausrede geben, nämlich die der Unzuständigkeit. (...) Hier ist Benchmarking besser als europäische Zentralisierung“ (Schäuble 2006).
Im November 2004 formulierte der Rat Justiz und Inneres elf Gemeinsame Grundprinzipien zur Integration von Einwanderern. Hauptmerkmal der Maximen ist die Forderung, Migranten fair zu behandeln und vor Diskriminierung jeglicher Art zu schützen. Außerdem beinhaltet das Dokument auch den Appell an Drittstaatenangehörige, die Grundwerte und Rechte der EU zu respektieren und zu achten. Diese Prinzipien stellen den „kleinsten gemeinsamen Nenner der europäischen Integrationspolitik“(Bendel 2008) dar. Die damalige niederländische Integrationsministerin Rita Verdonk sprach von einem „historischen Schritt zu einem gemeinsamen europäischen Ansatz zur Integration“ (Daniel 2004).
Aufgrund der verschiedenen Rechtstraditionen in den Mitgliedsstaaten ist die EU noch weit von einem kohärenten Integrationskonzept entfernt. Der Nutzen eines solchen ist ohnehin fraglich, da die effektivste Integrationsarbeit vor Ort geleistet werden kann - und nicht zentral durch einen Rat von 27 Staaten.
1.4.3 Aufgaben einer zukünftigen europäischen Migrationspolitik
Was dringend benötigt wird, ist eine klare Migrationspolitik. Da es kein „Mittel gegen den Zustrom nach Europa“ (Bolzen 2008) gibt, wird die Immigration in die Europäische Union auch in Zukunft weiter steigen. Die Anforderungen an eine angemessene Politik sind bekannt, wurden aber bislang kaum konsequent umgesetzt: Der Schlüssel ist eine weitestgehende Steuerung der Zuwanderung einerseits, eine Integration der bereits Eingewanderten andererseits. Der bevorstehende wirtschaftliche und demographische Bedarf an Immigration muss vorweggenommen und die Zuwanderung sozialverträglich ausgeführt werden (vgl. Angenendt 2004). Erste Schritte für ein Übereinkommen im Bereich der Visavorschriften und Asylbestimmungen gab es bereits mit dem Schengener8 und dem Dubliner Abkommen9. Die Erfahrungen der Staaten aus diesem Harmonisierungsprozess sollten zur Koordinierung der nationalen Zuwanderungspolitik genutzt werden. Von besonderer Bedeutung ist mittlerweile ein Verfahren zur Einigung auf die von den EU-Ländern aufgestellten Einwanderungsquoten, da die EU-weite Freizügigkeit für Drittstaatenangehörige in den nächsten Jahren umgesetzt werden soll. Somit betreffen die nationalen Zuwanderungsquoten direkt die anderen EU- Staaten.
Hinsichtlich der Integration von Migranten gibt es durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs klare Tendenzen zur Schaffung eines einheitlichen Rechtsraumes. Allgemeine Grundsätze zur Integrationspolitik sowie zur Finanzierung der entsprechenden Maßnahmen sollten gemeinschaftlich ausgearbeitet werden, um eine EU-weite Gleichbehandlung der Migranten sicherzustellen. Grundsätzlich sollte im Punkt Integration das Subsidaritätsprinzip gelten: Es darf nur das gemeinschaftlich geregelt werden, was nicht auf staatlicher oder regionaler/ lokaler Ebene effektiver ausgeführt werden kann.
Für die bereits in den Mitgliedsstaaten lebenden Migranten müssen umfangreiche Programme zur schulischen und beruflichen Qualifizierung angeboten werden, da in allen europäischen Ländern beträchtliche Mängel bestehen. Die Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist überall in Europa anzutreffen. So berichtete u.a. das UNRIC Magazine (2007: 6): “Immigrants and ethnic minorities still experience discrimination in housing, education and employment in the EU.” Zu den Integrationsmaßnahmen sollten auch Aktionen zählen, die die Aufnahmebereitschaft der einheimischen Bevölkerung steigern.
1.5 Europäische Integrationspolitiken im Vergleich
Trotz einheitlicher Richtlinien sind die Integrationspolitiken innerhalb der EU-Staaten alles andere als gleich - man folgt vielmehr nationalen Traditionen. Jedes Land besitzt ein eigenes Integrationsverständnis, erwachsen aus der jeweiligen Kolonial- und Einwanderungs- geschichte, dem Staatsmodell sowie dem Staatsbürgerverständnis. Beeinflusst durch Faktoren wie der wirtschaftlichen Lage, der Situation auf dem Arbeitsmarkt, aber auch der Zusammensetzung der Migrantenbevölkerung, entwickelte sich ein spezifisches Integrationskonzept. Daher können Modelle aus anderen Ländern, die dort problemlos funktionieren, nur beschränkt übernommen werden. Da die Bedingungen in jedem EU-Staat unterschiedlich sind, kann nicht für alle die gleiche Lösung gelten. Die folgenden Kapitel stellen die unterschiedlichen Ansätze der Integrationspolitik in Frankreich, den Niederlanden und in Schweden kurz vor. Jedes dieser Länder geht anders mit Migration und Integration um - dennoch stehen alle vor ähnlichen Problemen.
1.5.1 Frankreich: Alle sind gleich verschieden
Immigration galt - zumindest aus wirtschaftlicher Perspektive - in Frankreich, dem Land mit der größten Einwanderungstradition Europas, lange als positiv. Doch während der letzten dreißig Jahre wird sie immer mehr als Ursache sozialer Probleme angesehen. Als Leitbild der Integrationspolitik dient die republikanische Gleichheit aller, verbunden mit der Idee des Universalismus, also der gleichen Rechte und Chancen für alle (vgl. Thränhardt 2005).
« Nous entendons par nation une société matériellement et moralement intégrée, à pouvoir central stable, permanent, a frontières déterminées, à relative unité morale, mentale et culturelle des habitants qui adhèrent consciemment à l’Etat et à ses lois10. »
Migranten sollen in Frankreich traditionsgemäß assimiliert werden. Das republikanische Modell erwartet von den Zuwanderern die Übernahme der französischen Sprache, Kultur und Werte (Currle 2004: 83). Kulturelle Eigenheiten sind auf den privaten Bereich zu beschränken. Einen Höhepunkt der Ablehnung stellte das Verbot des Kopftuchs und anderer religiöser Zeichen an französischen Schulen im Jahr 2004 dar. Zudem lässt die zentral geführte Schule auch in sprachlicher Hinsicht den Immigranten keinen Raum: Es wird nur in einer Sprache unterrichtet. Der Anspruch, die Einwanderer und besonders ihre im Land geborenen Kinder in französische Bürger „umzuformen“, dominiert die Integrationspolitik (vgl. ebd.: 81). Daher existiert keine gezielte Minderheitenpolitik.
„ In Frankreich basiert die Ideologie der Migrationspolitik auf dem Integrationsbegriff, wie er während der Französischen Revolution entwickelt wurde. Das damalige Ziel, alle Bevölkerungsgruppen aus verschiedenen Regionen und Ländern zu einem Zentralfrankreich zu vereinen, führte zu einer Ignoranz gegenüber regionalen, kulturellen und sprachlichen Eigenarten. Integration wurde - eher im Sinne von Assimilation - als Einbindung in einen ‚ französischen Schmelztiegel’verstanden. [...]
Die egalitäre und universalistische republikanische Ideologie Frankreichs hat somit eine Integrationsform hervorgebracht, die sich einerseits durch eine besonders liberale Einbürgerungsgesetzgebung auszeichnet, andererseits jedoch die Immigranten einem Assimilationszwang aussetzt. “
(Jouteux 2000: 81f.)
Früher hoffte man, dass sich die Zugewanderten durch eine allgemeine Sozialpolitik „von selbst“ integrieren würden (vgl. Kabis 2006). Eine differenzierte Integrationspolitik, die auch eine gezielte Sprachförderung für neu Eingewanderte umfasst, wurde erst ab dem Jahr 2002 eingeführt. Als damals die konservative Regierung unter Jean-Pierre Raffarin11 die Geschäfte übernahm, begann die Entwicklung in Richtung einer restriktiveren Einwanderungspolitik. Im Juni 2006 wurde das neue Einwanderungsgesetz (loi relative à l‘immigration et à l‘intégration) verabschiedet und stellt eine weit reichende Reform der Einwanderungs- und Integrationspolitik dar. Neuerungen beinhalten härtere Auflagen für Familien- zusammenführungen, die Förderung der Immigration von besonders qualifizierten Arbeitnehmern sowie einen verpflichtenden Aufnahme- und Integrationsvertrag (contrat d’accueil et d’intégration, CAI) für Migranten, die auf Dauer in Frankreich bleiben wollen. Zudem schreibt dieser Integrationsvertrag den obligatorischen Besuch von Sprachkursen und die Teilnahme an Kursen zur gesellschaftlichen Bildung mit einem Gesamtumfang von 200 bis 300 Stunden vor. Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf Maßnahmen der beruflichen und sozialen Förderung. Zudem wurde eine unabhängige Behörde zur Bekämpfung von Diskriminierung eingerichtet (vgl. Currle 2004: 85).
Tendenzen zur Segregation spiegeln sich vor allem in der Wohn- und Sozialraumpolitik wider, die Migranten in die Vorstädte drängt. Dort kam es im Herbst 2005 zu Unruhen, an denen überwiegend Jugendliche mit Migrationshintergrund beteiligt waren. Das daraufhin verabschiedete Loi pour l’égalitédes chances, das Gesetz für die Chancengleichheit vom 31. März 2006, stellt einen wichtigen Schritt in der Entwicklung der französischen Integrationspolitik dar. Zentrale Maßnahmen dieses Gesetzes sind Programme zur Bildungs- und Arbeitsmarktförderung für Jugendliche aus sozial schwierigen Verhältnissen - aus gutem Grund: Die Grande Nation zeichnet sich im europäischen Vergleich durch eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeit aus, wobei Migranten überproportional häufig betroffen sind. Dass Frankreich trotz einiger Probleme bei der Integration der Migranten, auch im Bildungssystem, nicht allzu schlecht bei der PISA12 -Studie abschnitt, kann mit dem frühen Eintreten in die École maternelle erklärt werden. So können mögliche Defizite der Migranten, die aus der unterschiedlichen sozialen oder ethnischen Herkunft resultieren, wie etwa mangelnde Sprachkenntnisse, viel früher und effektiver als in Deutschland ausgeglichen werden.
1.5.2 Die Niederlande: Ein multikulturelles Drama?
Da die Niederländer großen Wert auf Toleranz gegenüber anderen Kulturen legen, waren sie lange stolz auf ihre zahlreichen Einwanderer. Man wollte mit einem korporatistischen Staatsmodell eine multikulturelle Gesellschaft schaffen, in der Gleichstellung garantiert und Einbürgerung erleichtert werden sollte (vgl. Ersanili 2007). Die Integrationspolitik zielt darauf ab, den rechtlichen Status der Einwanderer dem der Niederländer anzugleichen. In Zusammenhang damit fällt oft der Begriff Inburgering, was im Ausland häufig für Verwirrung sorgt, da er sich nicht auf die Einbürgerung im Sinne der Annahme der neuen Staatsangehörigkeit bezieht, sondern auf die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben in den Niederlanden.13
Lange Zeit wurde das Selbstverständnis der Einwanderer als „Minderheiten mit starker Verwurzelung in ihrer Herkunftskultur“ (Kabis 2006) gefördert und kaum Integrationsdruck ausgeübt. Bis in die 1970er Jahre gab es keine klare Integrationspolitik, da man davon ausging, dass die meisten Migranten wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Bald zeigte sich jedoch, dass viele Einwanderer benachteiligt waren: Arbeitslosigkeit und Isolation von der Aufnahmegesellschaft waren die schwerwiegendsten Probleme. Daher wurden in den folgenden Jahren erste Integrationsmaßnahmen entwickelt und in den frühen 1980ern eine Politik des Multikulturalismus eingeführt, die im wahrsten Sinne des Wortes eine Minderheitenpolitik war. Vorrangiges Ziel war es „die Integration zu gewährleisten und gleichzeitig die Identität der Immigranten zu bewahren“ (Ersanili 2007). Dieses Konzept funktionierte allerdings nur bei einer guten wirtschaftlichen Lage. Durch Probleme bei der Integration auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich die soziale und kulturelle Integration der Migranten, die Identifikation der Einwanderer mit den Niederlanden schwand zusehends. Statt Minderheiten wurden nun hauptsächlich Benachteiligte gefördert, ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft (vgl. Currle 2004: 165). Seit 1998 wurden verschiedene neue Zuwanderungs- und Integrationsgesetze verabschiedet, die allesamt eine Verschärfung der damals bestehenden Gesetzeslage darstellten. Die bedeutendste Änderung war das Inkrafttreten des neuen Ausländergesetzes im Jahr 2001. Es bewirkte tief greifende Einschnitte im Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden sowie eine deutliche Restriktion der Heiratsmigration. Die Erteilung von Visa für Arbeitsmigranten oder nachziehenden Familienangehörigen wurde von Sprachkenntnissen und Integrationsprognosen abhängig gemacht, was heftige Diskussionen auslöste. Die neuen Gesetze konzentrierten sich auf die Einschränkung der Einwanderung einerseits und eine Forcierung der Integration der bereits in den Niederlanden lebenden Migranten andererseits.
Inzwischen herrscht Einigkeit, dass die Zugewanderten dazu verpflichtet werden können, die Landessprache zu erlernen und die Grundwerte zu respektieren. Die Teilnahme an einem Orientierungskurs ist für neu Zugewanderte zwar seit 2007 nicht mehr verpflichtend, allerdings müssen sie weiterhin einen Integrationstest bestehen, um eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhalten zu können. Das Erstintegrationspaket umfasst 600 Stunden Sprachkurs und Gesellschaftskunde - und stand übrigens Pate für das deutsche Modell. Die niederländische Version ist allerdings stärker berufsorientiert und enthält von Anfang an berufsbezogene Sprachkurse, was hinsichtlich einer benachteiligten Lage der Migranten auf dem Arbeitsmarkt eine zweckdienliche Maßnahme ist.
Die Ermordung Theo van Goghs durch einen islamistischen Fundamentalisten im Jahr 2004 und Pim Fortuyn14 haben ihre Spuren hinterlassen. Die Regierung muss sich bemühen, Migranten, besonders die der zweiten Generation, und die Mehrheitsgesellschaft einander wieder näher zu bringen. Eine Spaltung der niederländischen Bevölkerung hinsichtlich des Umgangs mit Migration und Ausländern wird sichtbar und eine Zunahme rassistischer Gewalt wird überall im Land beobachtet (vgl. Wielenga 2004: 349f.). Bestehende Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt oder auch innerhalb der Polizei müssen bekämpft werden.
Das niederländische Bildungswesen ist den Vorstellungen der Migrationsgesellschaft gegenüber erheblich aufgeschlossener als das deutsche (vgl. Nell/ Yeshurun 2008: 106). Eine Bilanz unter migrationspolitischen Aspekten zeigt „zwiespältige, aber auch erfolgreiche Resultate“ (ebd.: 107). Kinder mit Migrationshintergrund kommen mit den schulischen Anforderungen immer besser zurecht, weshalb ihr Anteil an weiterführenden Schulen steigt - allerdings nicht so stark wie der Anteil der einheimischen Bevölkerung. Es ist ebenfalls eine Korrelation zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg zu verzeichnen, welche aber - im PISA-Vergleich15 - schwächer ausgeprägt ist als in Deutschland. Trotz aller Probleme und Herausforderungen bleiben ethnische Zugehörigkeit und kulturelle Vielfalt zwei wichtige Grundlagen der niederländischen Integrationspolitik und des politischen Diskurses - mehr noch als in den meisten anderen Ländern Europas: „Das niederländische Beispiel überzeugt jedoch insgesamt durch Depolitisierung, Realismus und Ausprobieren. Elastisch verbindet es pluralistische und assimilatorische Elemente“ (Berndt 2001).
1.5.3 Schweden: Jämlikhet, valfrihet och samverkan
In Skandinavien gab es lange keine effiziente Integrationspolitik. Mittlerweile ist dort die einstige Nicht-Beachtung vor allem im Bereich der Sprachförderung sowie der Integration auf den Arbeitsmarkt einer stark durchorganisierten Politik gewichen. Vor allem im Bereich der Bildungspolitik sind die skandinavischen Länder sehr erfolgreich: Hier erzielen Migrantenkinder so gute Ergebnisse wie in keinem anderen Gebiet Europas. Zwar schnitten die Schüler schlechter ab als Kinder ohne Migrationshintergrund, dennoch waren die Werte weitaus besser als in allen anderen untersuchten OECD-Staaten.16
Obwohl Schweden ein vergleichsweise junges Einwanderungsland ist, bekannte es sich schon früh zu seiner Multikulturalität (vgl. Nell/ Yeshurun 2008: 205). Die Integrationspolitik war vor den 1970ern stark auf Assimilation ausgerichtet, doch das änderte sich ab Mitte der siebziger Jahre deutlich. Seitdem verfolgt die schwedische Regierung ein pluralistisch- multikulturelles Konzept, in der kulturelle und ethnische Differenzen als gesellschaftliche Ressource angesehen werden. Der liberalen Politik gegenüber den Migranten und die Bemühungen, diese einzugliedern, steht jedoch eine strikte Ablehnung weiterer Einwanderung gegenüber (vgl. ebd.: 203). Schon in den frühen siebziger Jahren beschäftigte sich die schwedische Regierung intensiv mit den Herausforderungen der Immigration:
„ Dass die Schweden zudem ein starkes republikanisches Bewusstsein haben, wird dadurch deutlich, dass sie bei der Erarbeitung einer Einwanderungspolitik in den 70er Jahren ihre Ziele an dem Wahlspruch der französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ausrichteten. [...] In einem Konzept zur Integrationspolitik von 1974 werden die drei Prinzipien konstatiert: ‚ jämlikhet’, ‚ valfrihet’und ‚ samverkan’(Gleichheit, Wahlfreiheit, Partnerschaft). Das Ziel der Gleichheit strebt die soziale undökonomische Gleichheit der Immigranten mit der schwedischen Bevölkerung an “ (Jouteux 2000: 70).
1975 verabschiedete Schweden als erstes europäisches Land ein Einwanderungsgesetz. Bereits in den achtziger Jahren wurde ein effektives Antidiskriminierungsgesetz beschlossen. Eine weitere Besonderheit der schwedischen Integrationspolitik ist die Einrichtung des Amts des Ombudsmannes gegen ethnische Diskriminierung. Neben der Vermeidung von Benachteiligungen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt setzt man sich stark für eine Gleichberechtigung ethnischer Minderheiten im Schul- und Ausbildungsbereich ein. Eines der Ergebnisse der deklarierten kulturellen Wahlfreiheit war die Einführung des muttersprachlichen Unterrichts in das Schulsystem, der Kindern eingewanderter Eltern mehrere Stunden pro Woche in der im Elternhaus gesprochenen Sprache zugesteht. Somit werden nicht weniger als 126 Sprachen im Land gelehrt (ebd.: 207). Allen Neueinwanderern, deren Muttersprache weder Schwedisch, Norwegisch noch Dänisch ist, werden kostenloser Sprachunterricht und ein Gesellschaftskundekurs angeboten (vgl. Currle 2004: 199). Außerdem haben Migranten in Schweden - als eines von wenigen Ländern weltweit - ein aktives und passives Wahlrecht auf kommunaler und regionaler Ebene.
Die schwedische Integrationspolitik wird in internationalen Vergleichen immer sehr positiv beurteilt. So belegt Schweden beim Migrant Policy Index (MIPEX)17 , welcher misst, wie gut Einwanderer in die Gesellschaft integriert sind, mit einem Ergebnis von 89 - bei 100 möglichen Punkten - den ersten Platz. Der Abstand zum Zweitplatzierten Portugal beträgt dabei beträchtliche 10 Prozentpunkte. Allerdings kann die Integrationspolitik hinsichtlich der praktischen Umsetzung nicht unbedingt als Erfolg bezeichnet werden. In Bezug auf Arbeitslosigkeit und Beschäftigungsniveau bestehen signifikante Unterschiede zwischen in Schweden und im Ausland geborenen Personen (vgl. Nell/ Yeshurun 2008: 208). Ursachen hierfür werden mit Ineffizienzen bei der Umsetzung der Integrationspolitik sowie Diskriminierungen begründet. Zur Bekämpfung der hohen Arbeitslosigkeit unter nicht- europäischen Immigranten wurden bereits diverse Programme in die Wege geleitet, z.B. eine 2001 begonnene Kampagne der schwedischen Integrationsbehörde, die Arbeitgeber überzeugen soll, zunehmend Arbeitskräfte mit Migrationshintergrund einzustellen.
Das schwedische Schulsystem scheint stärker bemüht zu sein, alle Kinder in die allgemeine Schule zu integrieren. Während es in Frankreich und Deutschland gesonderten Unterricht für Kinder mit Lernschwierigkeiten oder Verhaltensauffälligkeiten gibt, werden in Schweden alle Kinder integrativ in den allgemeinen Schulen unterrichtet. Neben dem Angebot muttersprachlichen Unterrichts für Migrantenkinder ist das ausgebaute System der Kinderbetreuung18 ein Erfolgsfaktor des Bildungssystems (vgl. ebd.: 212). In der Vorschule können vorhandene Sprachdefizite ausgeglichen werden, zudem wird bereits in diesem Stadium die Zweisprachigkeit aktiv unterstützt. Die frühe Förderung der Sprachkompetenz dient als Erklärungsgrundlage für das gute Abschneiden der Migranten in Schweden bei der PISA-Studie.
1.6 Transatlantic Trends: Immigration
Die Ereignisse der letzten Monate beunruhigen viele EU-Bürger. Ständig berichten die Medien von neuen Einwandererwellen. Im November 2008 meldete die griechische Regierung, dass allein auf der Insel Lesbos seit Januar 2008 11.000 illegale Flüchtlinge eintrafen. Ähnliches hörte man aus Malta oder von den Kanaren. Die Zahl der Flüchtlinge in Athen wuchs letztes Jahr binnen acht Monaten um 220% an. Immer stärker müssen wir wahrnehmen, dass es überall in Europa Defizite in der Integration gibt. Selbst in den Niederlanden, die noch vor wenigen Jahren als das Musterland der Integration galten.
Angesichts der aktuellen Migrationssituation stehen die Bürger der EU vor großen Herausforderungen. Die Umfrage Transatlantic Trends: Immigration des German Marshall Funds19 (GMF), die in sieben Ländern der EU und in den Vereinigten Staaten durchgeführt und im November 2008 vorgestellt wurde, beweist, dass sich viele EU-Bürger den damit verbundenen Chancen bewusst sind, aber durchaus nicht nur positive Gefühlen gegenüber den Immigranten hegen. So meinen 65% der Europäer und 68% der US-Amerikaner: “Immigration will improve their culture with new ideas and customs” (German Marshall Fund 2008: 10). Gegensätzliche Tendenzen kamen ans Licht, als es um die Frage ging, ob Einwanderung “more of a problem” oder “more of an opportunity” sei. Die Briten sind dabei die größten Skeptiker - 62% der Befragten halten Immigration eher für ein Problem, nur 24% für eine Chance. Deutschland liegt im europäischen Mittel: 49% sehen Einwanderung als Problem an, 38% als Chance. Die teilweise paradoxen Angaben der insgesamt über 7000 Befragten lassen sich recht simpel erklären: Zwar ist man bereit, Immigranten gegenüber aufgeschlossen und hilfsbereit zu sein, allerdings macht sich langsam Unsicherheit und Angst breit, welche Folgen die wachsende Zahl der Migranten für die eigene Gesellschaft haben wird (vgl. Bolzen 2008).
1.6.1 Was denken die Deutschen?
Auch wenn man in Deutschland der Migration insgesamt mit einiger Skepsis gegenübersteht, herrscht doch die mehrheitliche Auffassung (65%), dass die legale Zuwanderung für Migranten, die hier studieren oder arbeiten wollen, erleichtert werden soll. Außerdem spricht sich, wie in allen anderen Ländern auch, das Gros der Befragten dafür aus, dass legale Einwanderer dauerhaft im Zielland bleiben dürfen - was genau dem widerspricht, was sich Innenminister Schäuble und Nicolas Sarkozy überlegt hatten. Sie plädierten für eine „zirkuläre Migration“, bei der Saisonarbeiter ins Land geholt und nach einem bestimmten Zeitraum wieder in ihre Heimat geschickt werden. Diese oder Genehmigungen wie die temporäre Green Card wären keine dauerhaften Lösungen. Allerdings sind sich die Bundesbürger einig, dass sich diejenigen, die dauerhaft bleiben dürfen, auch integrieren müssen. Und das unterscheidet die deutsche Ansicht von denen der anderen Ländern: Es geht nicht darum, einen deutschen Pass zu besitzen oder die meiste Zeit seines Lebens hier verbracht zu haben. Es geht den Deutschen mehrheitlich darum, dass ihre Gesetze respektiert und befolgt werden sowie die Landessprache gesprochen wird. 62% der Deutschen plädieren übrigens dafür, dass Einwanderungspolitik nicht mehr nationalstaatlich in Berlin, sondern auf europäischer Ebene gemacht wird.
1.6.2 Die Briten - die größten Skeptiker
Gerade die Einwohner eines der bedeutendsten postkolonialen Einwanderungsländer sehen der Immigration mit einiger Skepsis entgegen. 62% der Briten sehen Einwanderung „eher als Problem“ als „als Chance“ an und erreichen so den Höchstwert aller betrachteten Länder. Zudem machen die Briten die Immigranten hauptsächlich für einen Anstieg der Kriminalität sowie Steuererhöhungen verantwortlich - durch deren massive Beanspruchung von Sozialleistungen. Neben den USA war das Vereinigte Königreich das einzige Land, in denen sich die Mehrheit gegen eine Förderung der Arbeitsmigration aussprach. Nicht verwunderlich, schließlich sind ohnehin 52% der Briten der Meinung, Immigranten würden ihnen die Jobs wegnehmen - im Vergleich zum europäischen Mittel von 34%. Auch eine EU-weite Migrationspolitik wird kaum befürwortet (28%) - 54% sprechen sich weiterhin für eine nationale Steuerung aus. Außerdem erreichen die Briten die höchsten Werte bei der Ablehnung der Gleichstellung von Migranten bei der politischen Partizipation (22%) oder bei der Gleichberechtigung hinsichtlich sozialer Leistungen (26%). Diese insgesamt sehr ablehnende Haltung erklärt auch, warum 65% der Briten es als wichtig für die nationale Identität ansehen, im Vereinigten Königreich geboren worden zu sein.
2. Deutschland
„ Integration ist nicht die Addition aller Dönerbuden in den Fußgängerzonen, sie ergibt sich nicht aus dem wachsenden Interesse an Bauchtanzkursen. (...) Sie findet statt an der Schule, in den Curricula, den Schulbüchern, sie zeigt sich auf den Spielplänen der Bühnen. Und wenn
mal der Name Ügüzlük für einen deutschen Lehrer, Polizisten, Richter, Manager oder Journalisten so selbstverständlich ist wie Huber oder Konietzky,
dann ist die Gesellschaft da, wo sie hin muss. “
(Heribert Prantl, 2003)
Ende 2007 lebten nach Angaben des Statistischen Bundesamtes über 6,7 Millionen Ausländer in Deutschland sowie weitere acht Millionen Menschen mit Migrationshintergrund: 4,5 Millionen Spätaussiedler, über 1,6 Millionen Eingebürgerte sowie 1,5 Millionen Kinder aus binationalen Ehen. Dazu kommen 300.000 bis 400.000 temporäre Arbeitnehmer jährlich. Die Bundesrepublik ist in den letzten Jahrzehnten ethnisch, sprachlich, kulturell und religiös vielfältiger geworden. Jeder dritte Jugendliche in den alten Bundesländern stammt aus einer anderen Kultur, jedes vierte Neugeborene hat mindestens ein ausländisches Elternteil (BMI 2008: 189f.). Ohne Zweifel hat die Migration die deutsche Gesellschaft in den letzten fünfzig Jahren grundlegend verändert. Auch die Migrantenbevölkerung selbst ist diversifizierter geworden (vgl. Abb. 1). Rita Süssmuth beschreibt sie folgendermaßen (2006: 202) „Migranten in Deutschland, das sind heute Einwandererkinder der zweiten und dritten Generation, alte und neue EU-Bürger, ausländische Senioren ebenso wie junge Akademiker, Selbstständige und abhängig Beschäftigte.“
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 1
Bis zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Deutschland ein Auswanderungsland, doch Mitte der 1950er Jahre etablierte sich die Bundesrepublik zu einem der wichtigsten europäischen Zielländer (vgl. Abb. 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung 2
Zudem variieren die Migrantenanteile zwischen den Altersgruppen stark. In der besonders für Bildungsprozesse bedeutsamen Gruppe der unter 25-Jährigen repräsentieren Migranten ein Viertel (27,5%). Die höchsten Anteile sind bei den jüngsten Bevölkerungsgruppen zu finden: Ein Drittel aller Kinder unter sechs Jahren besitzt einen Migrationshintergrund (Statistisches Bundesamt 2006a: 79). Diese Zahlen verdeutlichen die Wichtigkeit effektiver frühzeitiger Integrationsmaßnahmen auf allen Bildungsstufen. Vor allem im frühkindlichen Bildungsbereich bestanden in Deutschland lange Zeit große Defizite. Dem soll jetzt mit einer Reihe von Maßnahmen entgegengewirkt werden.
Doch bevor tiefer auf die aktuelle Situation und Herausforderungen der deutschen Integrationspolitik eingegangen wird, soll ein Blick auf die Migration in der Vergangenheit der Bundesrepublik helfen, die heutigen Problemfelder besser zu verstehen.
2.1 Migration in Deutschland - ein historischer Abriss
Wie viele westeuropäische Staaten folgte Deutschland mit seiner Politik lange der Auffassung, kein Einwanderungsland zu sein. Selbst historische Migrationsbewegungen wurden ausgeblendet, um die Vorstellung von einer rein deutschen, im Germanentum verwurzelten Identität aufrechtzuerhalten. Dabei setzte sich das „deutsche“ Volk ursprünglich aus verschiedenen Ethnien zusammen (vgl. Sauer 2007: 31). Die europäischen Handelsbeziehungen führten in Deutschland aufgrund dessen zentraler Lage zu vielfältiger Einwanderung. Trotzdem geht man in der Bundesrepublik von Sesshaftigkeit als Normalität aus - und Migration wird als Abweichung betrachtet.
„ Migration hat, wieüberall auf der Welt, auch in Deutschland eine lange Geschichte. Die Gründe dafür sind seit Jahrhunderten im Kern die gleichen - das Streben nach politischer, ethnischer oder religiös motivierter Verfolgung oder die gewaltsame Vertreibung. “ (BMI 2005)
Erst 1998 konnte sich das größte Zielland von Migranten und Flüchtlingen in Westeuropa dazu entschließen, sich als Einwanderungsland zu verstehen (vgl. Birsl 2003:17) - lange nachdem Immigranten einen festen Platz in der Gesellschaft eingenommen hatten.
Die bedeutende Epoche in der Migrationsgeschichte des Landes und der Wandel vom Auszum Einwanderungsland begann erst nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer
Bis Anfang der fünfziger Jahre kamen als Folge von Flucht in der Endphase des Zweiten Weltkriegs sowie durch Vertreibungen und Deportationen nach Kriegsende etwa acht Millionen Flüchtlinge und Kriegsvertriebene in die westlichen Besatzungszonen und rund 3,6 Millionen in das sowjetisch besetzte Ostdeutschland. Nach der Gründung der BRD und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) im Jahre 1949 begann eine Massenübersiedlung von Ost- nach Westdeutschland. Bis August 1961 überquerten ca. 3,5 Millionen Menschen die deutsch-deutsche Grenze auf Dauer (vgl. Münz 1997: 37). Durch das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre stieg in Westdeutschland der Bedarf an Arbeitskräften. Daher wurde 1955 ein erstes Abkommen zwischen der Bundesrepublik und Italien geschlossen. Erst mit dem Bau der innerdeutschen Mauer zeigte der Vertrag seine wahre Wirkung: Bis dato deckten Flüchtlinge aus der DDR einen großen Teil des Bedarfs. Der Zuzug von qualifizierten Arbeitskräften aus Ostdeutschland fiel nun weg. Als sich in Westdeutschland nahezu Vollbeschäftigung eingestellt hatte, es allerdings immer noch an Arbeitnehmern mangelte, wurden weitere Abkommen mit Spanien und Griechenland (1960), der Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) und dem ehemaligen Jugoslawien (1968) geschlossen (vgl. BMI 2008b: 14). In diesem Zeitraum reistenüber fünf Millionen Menschen legal zur Arbeitsaufnahme nach Deutschland ein. Die Arbeiter wurden damals größtenteils in fabriknahen Lagern untergebracht, was Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft sowie den Erwerb der deutschen Sprache fast vollständig verhinderte und ein isoliertes Zusammenleben der jeweiligen Landsleute förderte (vgl. Terkessidis 2000: 16ff.). Eine dauerhafte Integration der Arbeitsmigranten war von deutscher Seite unerwünscht (vgl. Han 2000: 300f.). Schon in dieser Phase war die Zunahme einer negativ geprägten Grundstimmung gegenüber den Migranten zu beobachten. Diese konzentrierte sich vor allem auf die türkische Bevölkerung, die seit 1971 die größte Einwanderergruppe bildet.
In der DDR wurden ab Mitte der 1960er Jahre ebenfalls, allerdings in viel geringerem Maß, „ausländische Werktätige“ auf der Basis zwischenstaatlicher Verträge für mehrjährige Arbeitsaufenthalte rekrutiert. Die Arbeitsmigranten stammten zunächst überwiegend aus dem europäischen RGW-Bereich20, später auch aus Algerien, Kuba, Mosambik, Vietnam, Angola, der Mongolei und China21.
Die Phase des Familiennachzugs und (Nicht-)Integrationspolitik
Die Phase der aktiven Anwerbepolitik endete mit dem Verhängen des Anwerbestopps am 23. November 1973. Da nun für die Gastarbeiter keine Rückkehrmöglichkeit in die Bundesrepublik bestand, blieben diejenigen, die bereits da waren, auf Dauer. Durch den bis heute anhaltenden Nachzug von Familienmitgliedern avancierten die Gastarbeiter zur größten Einwanderergruppe. Als in den 70er und 80er Jahren offensichtlich wurde, dass viele Arbeitsmigranten und ihre Familien bleiben würden, wurde in öffentlichen Debatten erstmalig das Thema „Integration“erwähnt (vgl. Blahusch 1999: 79). Der grundsätzliche Wandel politischen Handelns hin zu einer dauerhaften Integration wurde erstmalig am 1. Mai 1979 von Heinz Kühn im Rahmen seines neu eingerichteten Amts als Bundesbeauftragter für die Integration der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer Familien gefordert: Der Staat habe für die Gleichstellung der zweiten Generation in den Bereichen (Aus-)Bildung, Arbeit und Wohnung zu sorgen und den Eingewanderten zumindest das kommunale Wahlrecht einzugestehen (vgl. Meinhardt 2005: 37). Sein Anliegen fand jedoch wenig Resonanz. In den relevanten Bereichen wurden auch in den folgenden Jahren keine Entscheidungen getroffen - im Gegenteil: Es kam verstärkt zur Rückkehrförderung, zur Erschwerung des Nachzugs von Familienangehörigen durch Zuzugsbegrenzungen von Nicht-EU-Ausländern und erschwerten Einbürgerungsbedingungen. Zudem wurde Integration immer wieder als einseitige Assimilationsforderung und Bringschuld der Eingewanderten thematisiert (vgl. Blahusch 1999: 96ff.). Bis zur Reform des Staatsbürgerrechts im Jahr 2000 und den Diskussionen um das Zuwanderungsgesetz herrschte auf politischer Ebene in Integrationsfragen der Arbeitsmigranten Stillstand. Somit blieb ihre Situation und die ihrer Familien lange Zeit in der Schwebe „zwischen Zuzugsbegrenzung, Rückkehrforderung und Integration“ (Blahusch 1999: 49f.).
Die Entwicklung der Migration seit 1989
Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung sowie dem endgültigen Zusammenbrechen des „Eisernen Vorhangs“ begann eine neue Ära: Nun stand vielen Menschen aus Osteuropa der Weg in den Westen wieder offen. Zum Ende der 1980er Jahre wurden die (Spät-)Aussiedler22 zur größten Einwanderergruppe. Seit 1950 sind über vier Millionen (Spät-)Aussiedler eingewandert, von denen bis 1989 der größte Teil aus Polen kam, während seit einigen Jahren die meisten Spätaussiedler aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion, vor allem aus Russland und Kasachstan kommen (vgl. Bade 2002: 414f.; Blahusch 1999: 112; Dietz/ Roll 1998: 19). Sie wurden in einer Art „Aufnahme- Euphorie“ (Blahusch 1999: 139) willkommen geheißen und ihre Integration zur nationalen Aufgabe erklärt. Sie sind die einzige Migrantengruppe, für die es eine gezielte Integrationspolitik gibt und gelten als privilegiert (vgl. ebd.: 49): Mit der Anerkennung des Status als (Spät-)Aussiedler erhalten sie die deutsche Staatsbürgerschaft und haben Anspruch auf die im Bundesvertriebenengesetz (BVFG) geregelten Eingliederungshilfen wie die Anerkennung von Rentenansprüchen, Sprachförderung oder finanzielle Hilfen.
Neben der Zahl von (Spät-)Aussiedlern stieg im Jahr 1992 auch die Zahl der Flüchtlinge mit 438.191 Personen auf den geschichtlichen Höchststand in der Bundesrepublik (vgl. Herbert 2001: 263). Der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien (1991-1995) setzte eine neue Fluchtbewegung in Gang. Mit viel zitierten Aussagen von politisch Verantwortlichen, die Belastungsgrenze sei überschritten, erreichten vor allem um Asylbewerber kreisende Negativdiskurse Anfang der 1990er Jahre ihren Höhepunkt. Dies führte zur Novellierung des Asylverfahrensrechts am 1. Juli 1993, was gravierende Veränderungen mit sich brachte. Parallel dazu nahmen alltagsrassistische Denkmuster innerhalb der Mehrheitsgesellschaft zu und es kam zu einem dramatischen Anwachsen von Gewalt gegenüber Eingewanderten (vgl. Terkessidis 2000: 30; Blahusch 1999: 148). Die rassistischen Anschläge von Hoyerswerda23, Rostock24, Mölln und Solingen25 zwischen 1991 und 1993 wurden zu Synonymen für offenen Rassismus (vgl. Meinhardt 2005: 44; Terkessidis 2000: 34ff.). Als Reaktion auf die Anschläge formierte sich bundesweiter Widerstand. Während in dieser Zeit verschiedene Initiativen gegen Rassismus gegründet wurden, waren auf politischer Ebene auch nach den schweren rassistischen Ausschreitungen keine Bemühungen um die Etablierung einer konstruktiven Migrations- und Integrationspolitik erkennbar. Die Debatten steckten weiterhin zwischen der Forderung, Deutschland als Einwanderungsland anzuerkennen, einerseits und der Angst vor Überfremdung andererseits fest (vgl. Morgenstern 2001: 20). Seit 1993 rückte die Kontingentierung der Zuzugszahlen vor allem von Asylbewerbern, aber auch von Aussiedlern, in den Handlungsfokus. Es folgte eine Beschränkung der Anzahl der Neuzuwanderer auf 250.000 pro Jahr. Diese Zahl wurde im Jahr 2000 auf 100.000 Personen gesenkt, wobei momentan jährlich weniger als 100.000 (Spät-)Aussiedler einwandern und die Zahl der Neuzuwanderer kontinuierlich abnimmt (vgl. BMI 2002; Unabhängige Kommission ‚Zuwanderung’ 2001: 15).
Seit Anfang der 1990er Jahren kommen - entsprechend der Nachfrage der Wirtschaft - erneut ausländische Arbeitskräfte im Rahmen zeitlich begrenzter Saison-, Gastarbeiter- oder Werkverträgen nach Deutschland. Diese Migranten stammen hauptsächlich aus Mittel- und Osteuropa (vgl. Nell/ Yeshurun 2008: 146). Zudem war eine Reaktion auf den wachsenden Bedarf an Pflegekräften notwendig. Hinsichtlich irregulärer Zuwanderung geht die Unabhängige Kommission ‚Zuwanderung’ davon aus, dass sich 100.000 bis 1 Million Menschen ohne Aufenthaltserlaubnis in Deutschland befinden.
Bedauerlicherweise wird nach einer über 50-jährigen Einwanderungsgeschichte und trotz wachsender internationaler Verflechtungen das Zusammenleben von Personen unterschiedlicher ethnischer Herkunft und somit die Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, bis heute nicht als Selbstverständlichkeit anerkannt.
[...]
1 Zitat aus der Rede des ehemaligen UN-Generalsekretärs anlässlich der Präsentation des Berichts über Migration und Entwicklung am 6. Juni 2006
2 Im Folgenden wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit die maskuline Form verwendet, sofern nicht ausdrücklich zwischen den Geschlechtern unterschieden wird.
3 Das Antirassistisch-Interkulturelle Informationszentrum Berlin e.V. (ARiC) wurde im September 1993 gegründet und ist ein landesweit arbeitendes Informationszentrum, das in den Bereichen interkultureller Dialog, gesellschaftliche Integration von Migranten sowie Bekämpfung von Vorurteilen und Rassismus tätig ist.
4 Es wurden 16 junge Erwachsene türkischer Herkunft sowie mit (Spät-)Aussiedlerhintergrund, deren Integration von Migrationsexperten als erfolgreich und vorbildlich eingestuft wurde, nach ihrer subjektiven Wahrnehmung von Integration befragt.
5 Der Begriff Europäische Integration beschreibt die vertraglich abgesicherte Zusammenarbeit der europäischen Staaten auf politischer, wirtschaftlicher, rechtlicher sowie militärischer Ebene. Die Europäische Union gilt hierbei als wichtigste Institution.
6 EUROSTAT (kurz für: Statistisches Amt der Europäischen Gemeinschaften) ist das Statistische Amt der EU mit Sitz in Luxemburg (<ec.europa.eu/eurostat>).
7 Das Haager Programm ist ein Fünf-Jahres-Programm (2005-2010) für eine engere Zusammenarbeit auf EU-Ebene im Bereich Justiz und Inneres. Der Schwerpunkt liegt auf der Einwanderungs- und Asylpolitik der Mitgliedsstaaten.
8 Durch das Schengener Abkommen von 1985 (auch: Übereinkommen von Schengen), einer Vereinbarung von mittlerweile 28 europäischen Staaten, entfallen die Kontrollen des Personenverkehrs an ihren gemeinsamen Grenzen und werden an die Außengrenzen des „Schengenraums“ verlagert.
9 Das Dubliner Abkommen (auch: Dubliner Übereinkommen) regelt die Bestimmung des zuständigen Landes für die Prüfung eines in einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft gestellten Asylantrages.
10 „ Unter dem Begriff der Nation verstehen wir eine materiell und moralisch integrierte Gesellschaft, mit einer stabilen, zentralen Regierung, innerhalb klar definierter Grenzen, deren Bewohnerinnen und Bewohner im Hinblick auf die Werte, das Denken und die Kultur eine Einheit bilden und dem Staat und seinen Gesetzen bewusstzustimmen. “ (Übersetzung nach Thränhardt 2005)
11 Raffarin wurde nach einem verlorenen Referendum im Juni 2005 von Dominique de Villepin abgelöst.
12 Das Programme for International Student Assessment (PISA) wird seit 2000 alle drei Jahre in den meisten OECD-Ländern durchgeführt. Ziel ist es, die Fähigkeiten und Kenntnisse von 15-jährigen Schülern zu messen und so international vergleichen zu können. Der Bericht der Studie von 2000 steht unter <http://www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/> kostenlos zum Download bereit.
13 Ein multikulturelles Drama ist der Titel eines Essays des sozialdemokratischen Journalisten Paul Scheffer, der 2000 erschien und der Regierung nachlässiges Handeln, getarnt als Toleranz, vorwarf.
14 Pim Fortuyn war ein niederländischer rechtspopulistischer Politiker, der u.a. durch Aussagen wie „ Ich hasse den Islam nicht. [...] Ich finde, es ist eine zurückgebliebene Kultur... Ü berall wo der Islam das Sagen hat, ist es einfach nur schrecklich “ polarisierte. Er wurde im Mai 2002 von einem militanten Tier- und Umweltschützer ermordet. Sein politisches Vermächtnis wirkte noch lange nach seinem Tod auf die Politik der Niederlande.
15 Die niederländischen PISA-Daten gelten aufgrund der geringen Beteiligungsquoten nicht als repräsentativ.
16 Gleichheit, Wahlfreiheit und Partnerschaft 17 Alle zwei Jahren wird von einer Gruppe von 25 Institutionen und Organisationen die Integrationspolitik in der EU, Norwegen, der Schweiz und Kanada anhand 140 Indikatoren bewertet. MIPEX umfasst sechs Bereiche, u.a. Zugang zum Arbeitsmarkt, Antidiskiminierung, politische Partizipation sowie Einbürgerungsregeln. Es wird gemessen, die nah die jeweilige Integrationspolitik der „Best Practice“ kommt und ermöglicht so einen objektiven Vergleich.
17 Alle zwei Jahren wird von einer Gruppe von 25 Institutionen und Organisationen die Integrationspolitik in der EU, Norwegen, der Schweiz und Kanada anhand 140 Indikatoren bewertet. MIPEX umfasst sechs Bereiche, u.a. Zugang zum Arbeitsmarkt, Antidiskiminierung, politische Partizipation sowie Einbürgerungsregeln. Es wird gemessen, die nah die jeweilige Integrationspolitik der „Best Practice“ kommt und ermöglicht so einen objektiven Vergleich.
18 In Schweden besuchen 75% aller Kinder im Alter von 1 bis 5 Jahren die Vorschule.
19 Der German Marshall Fund ist eine unabhängige US-amerikanische Stiftung, die die Beziehungen und die Zusammenarbeit zwischen Europäern und Amerikanern im gesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Bereich fördert.
20 Der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) wurde 1949 gegründet und war der wirtschaftliche Zusammenschluss der sozialistischen Staaten. Mitglieder waren neben der Sowjetunion, die die Führung im RGW übernahm, u.a. Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, die Tschechoslowakei und die DDR.
21Für ausführlichere Informationen über die Situation der Gastarbeiter in der DDR vgl. Gruner-Domic 1999; Kuck 2003
22 (Spät-)Aussiedler sind Personen deutscher Staats- oder Volkszugehörigkeit, die seit über 200 Jahren in Ländern Ost- oder Südeuropas lebten, dort aufgrund ihrer deutschen Volkszugehörigkeit während und nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund der Taten des NS-Regimes Benachteiligungen ausgesetzt waren und daher nach Deutschland aussiedeln. Wer vor dem 1. Januar 1993 nach Deutschland einwanderte, wird als Aussiedler bezeichnet, alle danach Zugewanderten als Spätaussiedler.
23 Am 20. September 1991 greifen Rechtsextremisten ein Asylbewerberheim in Hoyerswerda an, wobei 30 Menschen verletzt werden.
24 In Rostock zünden rechtsextreme Jugendliche in der Nacht des 24. August 1992 einen Wohnblock an, in dem vor allem Vietnamesen leben, wofür sie von umstehenden Personen sogar Beifall erhalten. Nur knapp entrinnen 150 Vietnamesen und einige wenige deutsche Unterstützer dem Tod, was weltweites Entsetzen auslöst.
25 Am 23. November 1992 werden in Mölln drei, am 29. Mai 1993 in Solingen fünf Frauen und Mädchen türkischer Herkunft durch Brandanschläge getötet.
- Quote paper
- Susanne Meyer (Author), 2009, Die kulturelle und sprachliche Integration junger Migranten in Deutschland und Großbritannien , Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/139248
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