Der Orient wurde im christlichen Mittelalter des 12. und 13. Jahrhunderts größtenteils als ein „Reich der Antichristen, bevölkert von hässlichen, deformierten, mit (christlichen) Menschen kaum vergleichbaren Heiden“ angesehen. Diesen Menschen begegnete man, vor allem im Frühmittelalter, feindselig und intolerant. Dies spiegelt auch die Literatur der damaligen Zeit wieder. Exemplarisch kann hierfür das >Rolandslied< des Pfaffen Konrad (um 1170) stehen, in dem ein sehr verachtendes und negativ-eintöniges Bild der Andersgläubigen gezeichnet wird.
Wolframs von Eschenbach >Willehalm< (um 1217/1220), neben dem >Rolandslied< das zweite große epische Werk des Mittelalters, dem die Kreuzzüge als Hauptthematik zu Grunde liegen, erscheint im Vergleich geradezu als Ausnahmeerscheinung – klingen doch hier für diese Zeit bisweilen sehr versöhnliche Töne im Umgang mit Andersgläubigen an: Neben den obligatorischen Schlachtszenen finden sich wertneutrale, teils sogar wohlwollende, ehrwürdige Beschreibungen der Sarazenen. Darüber hinaus wird die Tötung von Heiden als Sünde dargestellt und zur Schonung von Andersgläubigen aufgerufen.
Im Rahmen dieser Arbeit wird das Bild der Andersgläubigen in Wolframs >Willehalm< untersucht. Zentral ist hierbei die Frage, in wie weit die Darstellung des Heidentums als tolerant definieren werden kann: Ist der >Willehalm< ein Toleranzroman des Mittelalters?
Anhand ausgewählter Textstellen wird das Toleranzdenken im Text untersucht, wobei auf die Kreuzzugsmotivation der Christen, auf die Darstellung der Andersgläubigen in der Erzählung und auf die als „Toleranzrede“ betitelte Ansprache der konvertierten Heidin Gyburc, in der sie zur Schonung der Andersgläubigen in der anstehenden Schlacht appelliert, eingegangen wird. Außerdem wird die Figur des auf christlicher Seite kämpfenden Heiden Rennewarts zur Bewertung herangezogen. Mit den Ergebnissen der Textanalysen wird dann in einem vierten Schritt ein Fazit gezogen, ob bzw. in wie weit man den >Willehalm< als Toleranzroman bezeichnen kann. Im Rahmen des ethisch-philosophischen Grundlagenstudiums im Staatsexamenstudiengang (EPG) enthält diese Arbeit einen Exkurs, in welchem auf das >Rolandslied< Bezug genommen wird. Es werden die Heidendarstellungen und die Kreuzzugsmotivation der beiden Romane miteinander verglichen und untersucht, auf welche kulturellen Veränderungen sich vorhandene Unterschiede im Umgang mit den Andersgläubigen im Mittelalter bzw. in ihrer Darstellung zurückführen lassen.
INHALT
Vorwort
1. Zum Begriff der Toleranz
1.1 Definition und Abgrenzung zu Akzeptanz
1.2 Toleranzdenken im Mittelalter des 11./12. Jahrhunderts
2. Der >Willehalm< Wolframs von Eschenbach
2.1 Zur Person Wolframs
2.2 Inhaltsübersicht und Entstehungsgeschichte
2.2.1 Der Prolog
2.2.2 Inhaltsübersicht
2.2.3 Entstehungsgeschichte
3. Das Toleranzdenken im >Willehalm<
3.1 Kreuzzug als Verwandtenkampf
3.2 Das Bild der Andersgläubigen im >Willehalm<
3.2.1 Verwandtschaftliche Verbundenheit
3.2.2 Ebenbürtige Darstellung von Christen und Heiden
3.2.3 Gängige Vorwürfe und Stereotype im >Willehalm<
3.2.4 Die Matribleiz-Szene als Akt der Toleranz?
3.2.5 Keine ebenbürtige Darstellung der Heidenreligion
3.3 Die „Toleranzrede“ Gyburcs
3.4 Die Figur des Rennewart
4. Der >Willehalm< als Toleranzroman?
5. EPG-Exkurs: Kulturelle Veränderungen des Kreuzzuggedankens und das Toleranzdenken im Mittelalter
6. Schlussbetrachtungen
Literatur
Primärquellen
Sekundärquellen
Vorwort
Der Orient wurde im christlichen Mittelalter des 12. und 13. Jahrhunderts größtenteils als ein „Reich der Antichristen, bevölkert von hässlichen, deformierten, mit (christlichen) Menschen kaum vergleichbaren Heiden“ angesehen.[1] Diesen Menschen begegnete man, vor allem im Frühmittelalter, feindselig und intolerant. Dies spiegelt auch die Literatur der damaligen Zeit wieder. Exemplarisch kann hierfür das >Rolandslied< des Pfaffen Konrad (um 1170) stehen, in dem ein sehr verachtendes und negativ-eintöniges Bild der Andersgläubigen gezeichnet wird (vgl. 5.). Wolframs von Eschenbach >Willehalm< (um 1217/1220), neben dem >Rolandslied< das zweite große epische Werk des Mittelalters, dem die Kreuzzüge als Hauptthematik zu Grunde liegen, erscheint im Vergleich geradezu als Ausnahmeerscheinung – klingen doch hier für diese Zeit bisweilen sehr versöhnliche Töne im Umgang mit Andersgläubigen an: Neben den nach wie vor vorhandenen Schlachtszenen finden sich viele wertneutrale, teils sogar wohlwollende und ehrwürdige Beschreibungen der Sarazenen. Darüber hinaus wird die Tötung von Heiden als Sünde dargestellt und zur Schonung von Andersgläubigen aufgerufen. Im Rahmen dieser Arbeit wird daher das Bild der Andersgläubigen in Wolframs >Willehalm< genauer untersucht. Zentral ist hierbei die Frage, in wie weit man die Darstellung des Heidentums als tolerant definieren kann: Kann der >Willehalm< als Toleranzroman des Mittelalters angesehen werden?
Die Klärung dieser Frage erfolgt in vier Schritten: Zu Beginn wird eine Definition des Begriffs Toleranz gegeben und dieser von dem Begriff der Akzeptanz abgegrenzt. Dabei wird in einem begriffsgeschichtlichen Überblick die Wirkung der Toleranz sowohl in der Zeit des Mittelalters als auch in der Neuzeit beleuchtet. Es folgen in einem zweiten Schritt biographische Angaben zur Person Wolframs von Eschenbach, eine kurze Inhaltsübersicht des >Willehalm< und ein Abriss über die Entstehungsgeschichte des Romans. Anhand ausgewählter Textstellen wird dann im dritten Schritt das Toleranzdenken im >Willehalm< untersucht, wobei auf die Kreuzzugsmotivation der Christen, auf die Darstellung der Andersgläubigen in der Erzählung und auf die als „Toleranzrede“[2] betitelte Ansprache der konvertierten Heidin Gyburc, in der sie zur Schonung der andersgläubigen Feinde in der anstehenden Schlacht appelliert, eingegangen wird. Außerdem wird die Figur des auf christlicher Seite kämpfenden Heiden Rennewarts zur Bewertung herangezogen. Mit den Ergebnissen dieser Textanalysen wird dann in einem vierten Schritt ein Fazit gezogen, ob bzw. in wie weit man den >Willehalm< als Toleranzroman bezeichnen kann. Im Rahmen des ethisch-philosophischen Grundlagenstudiums im Staatsexamenstudiengang (EPG) enthält diese Arbeit darüber hinaus einen Exkurs, in welchem auf das >Rolandslied< Bezug genommen wird. In diesem EPG-Exkurs werden die Heidendarstellungen und die Kreuzzugsmotivation der beiden Romane miteinander verglichen und untersucht, auf welche kulturellen Veränderungen sich vorhandene Unterschiede im Umgang mit den Andersgläubigen im Mittelalter bzw. in ihrer Darstellung zurückführen lassen. Die Arbeit schließt mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse.
1. Zum Begriff der Toleranz
1.1 Definition und Abgrenzung zu Akzeptanz
Formal wird unter dem Begriff Toleranz (lat. tolerare: dulden) die „Tugend geduldigen Ertragens abweichender Überzeugungen, die Duldung eines Übels, in engerem Sinne das Gewährenlassen anderer religiöser Bekenntnisse“ verstanden.[3] Eine inhaltliche, auf den Glauben bezogene Definition der „Anerkennung verschiedener echter Möglichkeiten der Begegnung mit dem Heiligen“ gründet auf das christliche Menschenbild der „einzelnen als mit Freiheit, Gewissen und Vernunft von Gott geschaffene[n] Person.“[4] Demnach ist auch in Einklang mit dem Absolutheitsanspruch des Katholizismus eine Gottes- bzw. Christusbeziehung in anderen Religionen nicht ausgeschlossen. Das verbindliche katholische Absolutheitsgebot gilt demnach auch nicht als intolerant, jedoch dessen „unrechtmäßige Verwirklichung“ in der Form, dass andere Glaubensrichtungen unterdrückt werden.[5] Für die Ausbildung von Toleranz ist immer eine identische Wertebasis der beiden Parteien, dem Tolerierenden und dem Tolerierten, notwendig.[6] Sie ist somit ein praktischer und kein theoretischer Begriff und christlich im Gebot der Nächstenliebe verortet.[7] Toleranz kann und muss abgegrenzt werden vom Begriff der Akzeptanz und gilt dabei, ausgehend von obiger Definition, als Vorstufe zu Akzeptanz.[8] Bei dieser wird ein von den eigenen Vorstellungen abweichender Zustand ebenfalls geduldet, zusätzlich jedoch als ebenbürtig angesehen.[9]
Die Toleranz wurde im Laufe der Geschichte immer mehr zu einem vorrangig politischen Thema. Mit dem Zeitalter der Aufklärung kam es schrittweise zu einer politischen Verwirklichung der Toleranzforderung in Form der auf Menschenrechten (wie Meinungs- und Religionsfreiheit und der Freiheit der Person an sich) und auf der Trennung von Staat und Kirche basierenden modernen Demokratie. In unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft ist die Toleranz zu einem Grundwert geworden – „derjenige, der die Wahrheit zu besitzen überzeugt ist, [muss] auch dem auf Grund des eigenen Glaubens als ‚irrend’ Erkannten das Recht […] zugestehen, seiner Ansicht durch Wort und Tat Geltung zu verschaffen.“[10] Toleranz ist so zu einer Grundfrage des menschlichen Zusammenlebens geworden, die immer wieder neu gestellt werden muss[11] und daher in entwickelten Kulturen, zu denen auch das Mittelalter gezählt werden kann, zu erwarten ist.[12] Mehrheitlich findet sich heute zunehmend eine synonyme Verwendung der Begriffe Toleranz und Akzeptanz.[13] Dadurch wird der feine Bedeutungsunterschied, der im Spannungsfeld zwischen gleichmütiger Duldung und ebenbürtiger Anerkennung liegt, undeutlich.
1.2 Toleranzdenken im Mittelalter des 11./12. Jahrhunderts
Das christliche Mittelalter kam „aus sich heraus nicht zu einer Begründung der Toleranz.“[14] Zwar gibt es Beispiele der Duldung, wie die der Juden oder auch vereinzelter Muslime „an den Rändern Europas“, ob es jedoch tatsächlich ein der Toleranz verpflichtetes Denken, ähnlich einem humanistischen und aufgeklärten Denken, gab, ist in der Forschung nach wie vor umstritten und wird in der Forschung größtenteils angezweifelt.[15] Zum Teil wird von einer speziellen höfischen Tolera nz[16] des Mittelalters gesprochen, die aber in keinem Vergleich zum toleranten Denken der Aufklärung und der Neuzeit steht. Dieser höfischen Toleranz wird ein ihr eigener Kulturgedanken zugeschrieben, der sich an den ritterlich-gesellschaftlichen Grundlagen der damaligen Zeit und nicht an einer der Aufklärung eigenen Verstandsgrundlage orientiert.[17] Dieses Toleranzverständnis steht jedoch im Vergleich zur oben zitierten, neuzeitlichen Definition von Toleranz in keiner Analogie und kann demnach nicht verallgemeinert werden – höfische Toleranz galt „allein dem edlen und ritterlichen Menschen, seiner Religion gegenüber war sie intolerant, sowohl inhaltlich als auch formal.“[18]
Der Begriff Toleranz fand im Mittelalter selbst keine Verwendung, er wurde im deutschen Sprachraum erst durch Martin Luther eingeführt. Man sprach von dult oder gedultekeit, was sich im religiösen Sinn eher auf das Ertragen und Dulden von Leid und Qualen gemäß dem Vorbild Christi und nicht ebenfalls primär auf das Dulden anderer religiöser Bekenntnisse bezog.[19] Zu damaliger Zeit unterschied man zwischen Ungläubigen, die Gott leugneten bzw. an andere Götter glaubten und denen die Inquisition und damit auch der Tod drohten, und Häretikern bzw. Ketzern (Christen, die vom „rechten christlichen Glauben“ abgefallen sind).[20] Während man gegen Ketzer und Häretiker gnadenlos zu Felde zog, war man mit Ungläubigen tendenziell nachsichtiger, da der „Zugang zum Glauben […] nur freiwillig“ geschehen und Ungläubige deswegen nicht zum Glauben gezwungen werden durften.[21] In diesem Fall kann man von einer gewissen Toleranz Ungläubigen gegenüber im Mittelalter sprechen. Von den genannten Glaubensgruppen sind die Juden und die Heiden zu unterscheiden. Mit dem Begriff Heiden bezeichnete man im Mittelalter alle Ungetauften mit Ausnahme der Juden, die nicht als Polytheisten galten. Muslime wurden im Mittelalter mit antiken Heiden (Griechen und Römern) gleichgesetzt und ihnen daher analog vorgeworfen, mehrere Götter zu verehren.[22] Heiden wurden deswegen, im Gegensatz zu den Juden, anfänglich als „Feinde des Kreuzes“ angesehen, da sie in wichtigen theologischen Fragen eine Gegenposition zum Christentum einnahmen.[23] Sie wurden als Ungebildete und Götzendiener stilisiert und gemäß des alttestamentarischen Gebots, Gottesfeinde zu vernichten, wurden Heiden, die sich nicht bekehren ließen, entweder der Zwangstaufe unterzogen oder umgebracht.[24] Eingeleitet wurde diese Haltung durch Papst Urban II., der auf dem Konzil von Clermont zum ersten Kreuzzug ins Heilige Land aufrief und dabei ein diffamierendes Bild der Heiden zeichnete.[25] In der geistlichen Literatur dieser Zeit findet sich diese Haltung in der „Methode der Schwarz-Weiß-Zeichnung“ zur Abgrenzung von Gläubigen und Ungläubigen wieder, ein Beispiel hierfür ist das >Rolandslied< des Pfaffen Konrad (1170).[26] Durch den kulturellen Kontakt mit den Andersgläubigen und die Assimilation der Christen im Orient veränderte sich die Einstellung der Christen zu den Heiden langsam (vgl. 5.).
2. Der >Willehalm< Wolframs von Eschenbach
Im Zentrum des >Willehalm<-Romans Wolframs von Eschenbach steht der Konflikt zwischen Christen und Heiden und damit eines der „wichtigsten Themen der Weltgeschichte.“[27] Im Folgenden wird das Bild der Heiden und das Toleranzdenken ihnen gegenüber im >Willehalm< genauer untersucht. Als Grundlage und zur Einbettung des Werks in den geschichtlichen Kontext werden dafür zunächst einige grundlegende Informationen über den Autor und das Werk gegeben.
2.1 Zur Person Wolframs
Über das Leben Wolframs von Eschenbach lässt sich, vergleichbar mit anderen mittelalterlichen Autoren, nicht viel Genaues berichten. Die Erkenntnisse, die über ihn gewonnen wurden, hat man aus seinen literarischen Werken entnommen, so dass eine Gewähr für deren Richtigkeit nicht gegeben ist.[28] Er wurde vermutlich 1170 im fränkischen Eschenbach geboren, hieraus erklärt sich auch sein geographischer Namenszusatz. Über seinen Stand und seine Bildung gibt es ebenfalls keine gesicherten Ergebnisse, zu paradox erscheinen die Angaben, die er selbst dazu in seinen Werken macht: Er nennt sich ungelehrt (ine kann deheinen buochstap >Parzival</Pz. 115,27),[29] seinen eigenen Angaben zufolge war er demnach ein illiteratus (der lateinischen Sprache nicht mächtig) und ein Analphabet; seine literarischen Werke müssten folglich in klerischen Schreibstuben unter seiner Aufsicht verfasst worden sein.[30] Auch seine Französischkenntnisse werden von ihm selbst als niedrig eingestuft (>Willehalm</Wh., 237,3-14[31] ). Im Prolog des >Willehalm< erklärt er demnach, alle künstlerische Einsicht durch Gott zu bekommen:
swaz in den bouchen stet geschriben
des bin ich künstelos beliben.
niht anders ich geleret bin:
wan han ich kunst, die git mir sin.
diu helfe diner güete
sende in min gemüete
unlosen sin so wise,
der in dinem namen geprise
einen riter der din nie vergaz. (Wh. 2,19-27)
Dies spricht dafür, dass Wolfram sich eines Topos der geistlichen Literatur bedient, welcher „dem erlernbaren Wissen und Können eine Absage erteilt zugunsten der (göttlichen) Inspiration.“[32] So kann auch erklärt werden, dass ebenfalls keine gesicherten Ergebnisse über die Standesverhältnisse des Dichters bekannt sind. Er bezeichnet sich zwar im >Parzival< als „ritterbürdig“[33] und wird bisweilen auch als Ministeriale eingestuft, genaue Kenntnisse lassen sich jedoch aus den Schriftzeugnissen nicht ableiten. Die ritterliche Selbstbezichtigung im >Parzival< ist, ähnlich wie die Proklamation als Analphabet, vielfach als „Polemik gegen bildungsbewußte Dichter, die den Damen mit ihren gelehrten Dichtungen imponieren wollen“ ausgelegt worden.[34] Auf diese Weise hat sich Wolfram zum Laiendichter stilisiert, der sich so auf eine Ebene mit seinem Publikum begeben wollte.[35] Dass er trotz seiner widersprüchlichen Eigenangaben über fundierte Kenntnisse in den Bereichen Philosophie, Medizin, Astronomie, der Theologie und auch dem Französischen verfügen musste, zeigen detaillierte Schilderungen von Phänomenen und Problemen dieser Bereiche in seinen dichterischen Werken. Auf welche Weise er sich diese Kenntnisse jedoch erworben hat, bleibt ebenfalls ungeklärt.[36]
Zu Wolframs Hauptwerken zählen der >Parzival< (um 1210/12) und der >Willehalm< (um 1217/20), daneben der unvollendet gebliebene >Titurel<, der parallel zum >Willehalm< verfasst wurde, und einige Minne- und Tagelieder. Aufgrund seiner bildhaften Sprache und einer im Vergleich mit anderen mittelalterlichen Dichtungen sehr großen Anzahl überlieferter Handschriften seiner Werke gilt er als „der mit Abstand wirkungsmächtigste [mittelhochdeutsche] Dichter“, der eine enorme Nachwirkung auch über das Mittelalter hinaus hat. Wichtigster Gönner war der Landgraf Hermann von Thüringen, der ihm unter anderem die Vorlagen für den >Willehalm< und den <Titurel< beschaffte. Wolfram starb ungefähr um das Jahr 1220.[37]
2.2 Inhaltsübersicht und Entstehungsgeschichte
2.2.1 Der Prolog
Der Prolog des Romans wird in der Forschung als „schwer schematisierbar, sperrig gegenüber linearen Deutungen und einfachen Inbezugsetzungen“ charakterisiert.[38] Er beginnt mit einem Gebet an die Trinität, in welchem die Schöpferkraft Gottes gepriesen und vorgestellt wird (Wh. 1,1-2,22). Im Gegensatz zum >Parzival< wird hier deutlich, dass es sich um eine religiöse Erzählung handelt und somit eine Akzentverschiebung Wolframs im Vergleich zum ersten Werk des Autors vorliegt.[39] Dem Eingangsgebet folgt die zum Teil bereits oben zitierte Bitte an Gott, Wolfram bei der Erzählung der Geschichte Willehalms beizustehen und ihm Kraft zu geben (2,23-3,7). Es reiht sich daran die namentliche Nennung seines Mäzens Landgraf Herrmann von Thüringen (3,8f.) und eine Schilderung über den Ursprung des >Willehalm<-Stoffes (ane den keiser Karlen nie / So werder Franzoys wart erborn [3,30f.]) (3,11-4,18) an. Wolfram bezeichnet den Titelhelden dabei als Heiligkeit (4,15) und bittet ihn um Beistand vor Sündenschäden (4,18). Es folgt eine kurze Reminiszenz auf Lob und Tadel, die Wolfram für den >Parzival< erfahren hat (4,19-24). Nach einem weiteren Gebet an Gott (4,25-29) erfolgt eine auffordernde Einladung an das Publikum der Geschichte (unsanfte mac genozen / Diutscher rede deheine / dirre die ich nu meine, / ir letze und ir beginnen. [4,30-5,03]) zu folgen (4,30-5,14). Bemerkenswert am >Willehalm<-Prolog ist die Tatsache, dass sich hier „der mit seiner Laientheorie kühnste Dichter des deutschen Hochmittelalters“[40] an Gott wendet:
Ane valsch du reiner,
du dir unt doch einer,
schepfære über alle geschaft, (1,1-3)
[…]
din kint und din künne
bin ich bescheidenliche,
ich arm und du vil riche.
din mennischeit mir sippe git
diner gotheit mich ane strit
der pater noster nennet
zeinem kinde erkennet.
so git der touf mir einen trost
der mich zwivels hat erlost:
ich han gelouphaften sin
daz ich din gennane bi,
wisheit ob allen kisten,
du bist Christ, so bin ich kristen. (1,16-28)
Dies kann einerseits ein simples Eingeständnis an die Konventionen geistlicher Erzählungen sein. So sind auch Ähnlichkeiten mit dem Prolog des >Rolandslieds< feststellbar – auch hier wird der dreieinige Gott gepriesen und das Verwandtschaftsmotiv gebraucht.[41] Generell überbrücken die ersten vier Dreißiger die „Differenz zwischen Individuum und göttlichem Prinzip.“[42] Bezieht man den Prolog auf den Kontext des weiteren Geschehens, so liest sich die religiöse Thematik auf der anderen Seite als Gegenpol zu dem Verwandtschaftsmotiv, welches von Gyburc in ihren „Toleranzrede“ proklamiert wird (vgl. 3.3). Vor allem die Verse 1,23f. stehen konträr zu Gyburcs Aussagen. Wolfram hebt hier die hohe Stellung der Taufe für die Christen hervor. Nur durch sie werden Gläubige in den Himmel aufgenommen.[43] Die beiden sich gegenüberstehenden Aussagen werden im weiteren Verlauf der Arbeit weiterverfolgt werden und in 3.3 genauer untersucht.
2.2.2 Inhaltsübersicht
Der >Willehalm< ist eingeteilt in neun Bücher, wobei das letzte Buch unvollendet geblieben ist.[44] Im ersten Buch wird nach dem Prolog die Vorgeschichte erzählt: Markgraf Willehalm von Orange verliebt sich auf einer Reise in den Orient in die Heidenkönigin Arabel, die er dort während seiner Gefangenschaft unter König Tybald kennen lernt und die seine Liebe erwidert und sich, von Gott geleitet, dem Christentum anschließt: `ich han den touf genomen / durh den der al die creatiure / geschuof, daz wazzer und daz viure, / dar zuo den luft unt die erden.’ (Wh. 215,10-13). Daraufhin fliehen die beiden und Willehalm besetzt einen Teil von Tybalds Reich in der Provence. Durch ihre Konversion zum Christentum bringt sie ihren Vater Terramer und ihren damaligen Ehemann Tybalt gegen sich auf. Die beiden beschließen den Verlust Arabels, die sich nach ihrer Taufe Gyburc nennt, zu rächen. Diese Ausgangshandlung wird kurz in einem Erzählerkommentar zu Beginn des Romans geschildert (7,27-8,1). Willehalms Zeit im Orient, die „ferne Welt“, bleibt dabei unerzählt und so „für die Rezipienten unerreichbar hinter dem Meer, über das die Heiden kommen.“[45] Mit dem Einfall der Heiden in die Mark Willehalms kommt es zur ersten großen Schlacht auf dem Feld Alischanz, in der sich die Christen den Heiden geschlagen geben und bittere Verluste hinzunehmen haben. Willehalm verliert seinen Neffen Vivianz, den er in der zweiten Schlacht zu rächen sühnt. Aufgrund dieser Ausgangshandlung lässt sich der >Willehalm< auch als „Roman einer erzwungenen Fremdbegegnung“ beschreiben.[46]
Das zweite Buch handelt von der Flucht Willehalms vor den Heiden und seiner Rückkehr nach Orange. Auf dem Weg dorthin tötet er eine Reihe von ehrhaften heidnischen Königen, die in der zweiten Schlacht wiederum von den Heiden gesühnt werden. Von Orange aus reitet Willehalm zu seinen Verwandten nach Frankreich um Unterstützung für die zweite Schlacht zu erbitten. Gyburc bleibt in der von Heiden umstellten Stadt zurück. Im dritten Buch wird Willehalm nach anfänglicher Weigerung von einem Teil seiner Verwandten die benötigte Hilfe zugesichert. Im vierten Buch wiederholt der Markgraf seinen Ersuch um Hilfe auf dem Hoffest, welches König Ludwig der Fromme, der Mann seiner Schwester, abhält. Er erhält daraufhin nicht nur die Hilfe des Königs, sondern bekommt von diesem den überaus starken und riesigen Heiden Rennewart geschenkt, der als Küchenjunge am Hof des Königs lebt und sich aufgrund seiner Stärke als nützliche Waffe für die Christen in der zweiten Schlacht erweisen wird (zur Figur und Motivation des Rennewarts vgl. 3.4). Zum Ende des vierten Buches zieht die christliche Kampfesschar nach Orange, wo sie im fünften Buch ankommt und mit einem Festmahl im Palast der von den nun abgezogenen Heiden schwer verwüsteten Stadt empfangen wird. Im sechsten Buch wird die Abstammung und die geschwisterliche Verwandtschaft Rennewarts mit Gyburc durch einen Erzählerkommentar geklärt, ohne dass dies die Figuren selbst sicher wissen. Es folgt die „Toleranzrede“ Gyburcs (vgl. 3.3), bevor die Schar zur Schlacht auszieht. Im siebten Buch wird der Zug nach Alischanz geschildert, in deren Verlauf Rennewart einige vor dem großen Heidenheer flüchtende Christenfürsten erschlägt. Das achte Buch beschreibt schließlich die zweite Schlacht auf Alischanz im Detail und enthält die bemerkenswerten, zum Teil sehr wohlwollenden Schilderungen der kämpfenden Heidenkönige (vgl. 3.2). Im letzten und neunten Buch endet die Schlacht durch Rennewarts Einsatz trotz anfänglicher Niederlage mit einem Sieg für die Christen und dem Abzug Terramers. Nachdem Willehalm einem überlebenden Heidenkönig den Auftrag gegeben hat, die gefallen Heidenfürsten einzusammeln, damit sie nach heidnischem Ritus bestattet und zu Terramer gesandt werden können (vgl. 3.2.4), bricht die Erzählung ab. Rennewarts Verbleib bleibt ungeklärt.
[...]
[1] Dallapiazza, Michael: Der Orient im Werk Wolframs von Eschenbach, in: Deutsche Kultur und Islam am Mittelmeer. Akten der Tagung Palermo, 13.-15. November 2003, hg. von Laura Auteri und Margherita Cottone, Göppingen 2005 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 725), S. 108.
[2] So u. a. bei Stein, Siegfried: Die Ungläubigen in der mittelhochdeutschen Literatur von 1050 bis 1250, Darmstadt 1933, S. 73.
[3] Lellek, O.: Toleranz, Lexikon des Mittelalters VIII, Sp. 849f.
[4] Schlette, Heinz Robert: Toleranz, in: Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, hg. von Heinrich Lutz, Darmstadt 1977 (Wege der Forschung 246), S.199.
[5] Ebd, S. 201.
[6] Sabel, Barbara: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur, Wiesbaden 2003 (Images medii aevi Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung 14, S. 14.
[7] Müller, Max/Halder, Alois: Philosophisches Wörterbuch, Freiburg 1988, S. 317f.
[8] Brugger, Walter: Toleranz, in: Philosophisches Wörterbuch, 17. Aufl., Freiburg 1976, S. 408: Toleranz ist die „Haltung eines Menschen, der bereit ist, die Überzeugungen anderer […], die er für falsch oder verwerflich hält […], nicht zu unterdrücken. Sie besagt weder Billigung solcher Überzeugungen noch Gleichgültigkeit gegen das Wahre und Gute.“
[9] Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage, Berlin 2002, S. 26: Entlehnt aus dem lateinischen (acceptāre) bedeutet akzeptieren soviel wie „annehmen“.
[10] Schlette: Toleranz, S. 201.
[11] Sabel: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur, S. 2.
[12] Ebd., S. 5.
[13] Ebd. Sabel macht darauf aufmerksam, dass die synonyme Verwendung der beiden Begriffe auch eine existentielle Frage für das Toleranzdenken des Mittelalters ist und oftmals versäumt wird, „die Bedeutungsbreite des Begriffs [Toleranz] festzulegen.“
[14] Ebd, S. 196f.
[15] Ein Überblick dazu bei Sabel: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur, S. 2-5.
[16] Vgl. Naumann, Hans: Der wilde und der edle heide. Versuch über die höfische Toleranz, in: Festgabe für Gustav Ehrismann, Berlin/Leipzig 1925. S. 80-101.
[17] Sabel: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur, S.5.
[18] Schwinges, Rainer Christoph : Kreuzzugsideologie und Toleranz: Studien zu Wilhelm von Tyrus, Stuttgart 1977 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 15). S. 145f. Zur höfischen Toleranz siehe auch 4.
[19] Vgl. dazu Sabel: Toleranzdenken in mittelhochdeutscher Literatur, S. 19-21.
[20] Patschovsky, A.: Häresie, Lexikon des Mittelalters IV, Sp. 1933.
[21] Lellek, O.: Toleranz, Lexikon des Mittelalters VIII, Sp. 849.
[22] Greenfield, John / Miklautsch, Lydia: Der „Willehalm“ Wolframs von Eschenbach. Eine Einführung, Berlin / New York 1998, S. 250.
[23] Hödl, L.: Heiden, -ntum, Lexikon des Mittelalters IV, Sp. 2012: Zu nennen sind die Fragen der Schöpfung, Vorsehung und der Freiheit.
[24] Ebd.
[25] Raucheisen, Alfred: Orient und Abendland. Ethisch-moralische Aspekte in Wolframs Epen Parzival und Willehalm. Frankfurt am Main 1997 (Bremer Beiträge zur Literatur- und Ideengeschichte 17), S. 51.
[26] Stein: Die Ungläubigen in der mittelhochdeutschen Literatur, S. 11.
[27] Greenfield / Miklautsch: Der „Willehalm“. Eine Einführung, S. 1.
[28] Vgl. ebd., S. 5.
[29] Wolfram von Eschenbach: Parzival, Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe v. Karl Lachmann, übers. V. Peter Knecht, Berlin / New York 1998, zitiert nach ebd., S. 9.
[30] Vgl. ebd., S. 9-12.
[31] Zitiert nach Wolfram von Eschenbach: Willehalm. Text der Ausgabe von Werner Schröder, Übersetzung, Vorwort und Register von Dieter Kartoschke. 3., durchges. Aufl., Berlin/New York 2003.
[32] Greenfield / Miklautsch: Der „Willehalm“. Eine Einführung, S. 9.
[33] Ebd., S. 6: schildes ambet ist mîn art (Pz. 115,11).
[34] Ebd. S. 7.
[35] Schwenk, S.: Wolfram v. Eschenbach, Lexikon des Mittelalters IX, Sp. 310.
[36] Greenfield / Miklautsch: Der „Willehalm“. Eine Einführung, S. 11 u. 230f.
[37] Schwenk, S.: Wolfram v. Eschenbach, Lexikon des Mittelalters IX, Sp. 310-313.
[38] Kiening, Christian: Reflexion – Narration. Wege zum ‘Willehalm’ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 1991 (Hermaea Germanistische Forschungen Neue Folge 63), S. 28.
[39] Greenfield / Miklautsch: Der „Willehalm“. Eine Einführung, S. 227.
[40] Wehrli, Max: Geschichte der deutschen Literatur im Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, 3., bibliogr. erneuerte Aufl., Stuttgart 1997. S. 321.
[41] Kiening: Reflexion – Narration, S. 43.
[42] Ebd., S. 56: Dabei werden im Prolog „Aspekte der Vermittlung“ demonstriert: „Die grundsätzliche Erlösung des Menschen durch Christus, das Erkennen Gottes in der Schöpfung [und] der Weg zu Gott über das Vorbild des Heiligen.“
[43] Vgl. Greenfield / Miklautsch: Der „Willehalm“. Eine Einführung, S. 236.
[44] Begründet wird dies mit dem plötzlichen Tod des Landgrafen Hermanns von Thüringen und den darauf eintretenden erschwerten Arbeitsbedingungen. Vgl. ebd., S. 19-24.
[45] Kleppel, Christoph A.: vremder bluomen underscheit. Erzählen von Fremden in Wolframs Willehalm. Frankfurt am Main 1996 (Mikrokosmos Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung 45), S. 46.
[46] Ebd., S. 13.
- Arbeit zitieren
- Henry Mayer (Autor:in), 2008, Der "Willehalm" Wolframs von Eschenbach im Spannungsfeld zwischen Toleranz und Akzeptanz, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138868
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