Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung wurde 1795-96 in der Zeitschrift HOREN veröffentlicht. In seiner Abhandlung setzte Schiller zwei Menschencharaktere einander entgegen; nämlich naive und sentimentalische Dichter. Beide sind als ästhetisch vorgestellt. Das naive sucht Schiller in der antiken, das sentimentalische in der modernen Dichtung. In diesem Sinne gehört Schiller selbst zu modernen, bzw.sentimentalischen Dichtern, und Goethe zu den alten, bzw. naiven.
Der, natürlich empfindende, mit der Natur eins seiende Dichter ist der naive, der, das Natürliche empfindende, dieses aus der Distanz des Verlustes betrachtende und suchende der sentimentalische Dichter.
Inhalt
1. Einleitung
2. Ursprung des Begriffs modern
3. Unterscheidung der Begriffe naiv und sentimentalisch
3.1. Erhabenes und pathetische Satire
3.2. Vergnügen am Erhabenen bei sentimentalischen Dichtern
4. Schlussbemerkungen
Bibliographien
1. Einleitung
Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung wurde zuerst in den Jahrgängen 1795 und 96 der Horen veröffentlicht. In seiner Abhandlung setzte Schiller zwei Menschencharaktere einander entgegen; nämlich naive und sentimentalische Dichter. Beide sind hier gleichermaßen als vollkommen ästhetisch[1] vorgestellt. Im Ästhetischen handelt es sich um das Schöne und das Erhabene. Das naive suchen wir in den antiken, und das sentimentalische in der modernen Dichtung. In diesem Sinne gehört Schiller selbst zu den modernen bzw. sentimentalischen Dichtern, und Goethe zu den alten[2] vor allem griechischen (bzw. naiven).
In dieser Arbeit betrachte ich zuerst den Begriff modern im Hinblick auf den Ursprung seiner heutigen Bedeutung und versuche, die Begriffe des Schönen und des Erhabenen in Schillers Unterscheidung der Naiven von sentimentalischen zu erklären. Die Schillerschen Kategorien von naiv und sentimentalisch dürfen keine dogmatische Gültigkeit beanspruchen. Sie sind eine Fackel, mit deren Hilfe die immer dunkler werdende Zeit die Werte beleuchtete, die ihr bislang die eigentlichen Anliegen des Lebens gewesen waren.
2. Ursprung des Begriffs modern
Der Begriff der Modernität bezeichnet eine Konstellation in der Zeit. Wo der Begriff der Modernität gebraucht wird, kann folglich nicht jede Zeit oder Zeit schlechthin gemeint sein, sondern nur eine bestimmte Zeit. Diese bestimmte Zeit steht der Gegenwart näher als der Vergangenheit. Aber auch die Vergangenheit war einmal Gegenwart. Es besteht deswegen kein Grund, die Bedeutung der Modernität nur in einer unserer Gegenwart zu suchen. Die eigene Zeit, von der durchaus nicht gilt, dass sie mir in allen Hinsichten wirklich zu eigen ist, kann als Gegenwart oder Jetztzeit aufgefasst werden, mithin auch als die derzeitige Zeit (vgl. Japp 1987). Dies ist zugleich die Bedeutung, die dem Wort modern bzw. modernus am Anfang seiner Geschichte zugesprochen wurde.
Der Begriff modern (lat. modo, nur, erst, eben, gleich, jetzt, neu) ist als Adjektiv modernus (derzeitig, jetzt, neu) literarisch zuerst am Ende des 15.Jhs (Gelasius) gebraucht. Im Französischen ist das Wort modern als neu, frisch zuerst im 15.Jh. literarisch belegt. Im Englischen ist nach 1500 als Bezeichnung des jetztexistierenden verwendet (vgl. Reallexikon). Offiziell kann der Begriff modern in der Sitzung der Academie Francaise vom 27. Februar 1687 datiert werden.
Die Antithese antik und modern bekam rasch einen beständig sich erweiternden Inhalt. Die französische Diskussion über die Antithese wurde sehr rasch in Deutschland bekannt und blieb durch das ganze Jahrhundert hindurch Kulturbewusstsein, Ästhetik und Kritik überaus einflussreich. Das Datum, das Curtius nannte, ist das Jahr 675, womit die moderne Welt angefangen hat. Diese moderne Welt sei zwar von der antiken tief geschieden, zugleich aber unbewusster historischer Erinnerung und Kontinuität mit ihr verwachsen.
Der Begriff der Modernität kann grundsätzlich zwei Bedeutungen haben. Diese Bedeutungen sind zwar nicht in jeder Hinsicht verschieden, wohl aber in methodischer Absicht zu unterscheiden. Die eine Bedeutung betrifft die Geschichte der Literatur, die andere eine bestimmte Epoche. Wir unterscheiden also zwischen historischer und epochaler Modernität. Inwiefern die Dichtung Schillers Zeit von der griechischen sich unterscheidet und sich unterscheiden muss. Dann wird die Verschiedenheit der beiden als der Unterschied von Intuition (Goethe) und Spekulation (Schiller) begriffen. Goethes Geist gehe von der Mannigfaltigkeit aus und suche, intuitiv, das Notwendige der Natur, indem er von der einfachen Organisation (...), Schritt vor Schritt, zu den mehr verwickelten hinauf(steigt), um endlich die verwickeltste von allen, den Menschen, genetisch aus den Materialien des ganzen Naturgebäudes zu erbauen, während der spekulative Geist, als den sich Schiller versteht, mit selbständiger freier Denkkraft das Gesetz sucht (vgl. Szondi 1974).
3. Unterscheidung der Begriffe naiv und sentimentalisch
Schillers Abhandlung beginnt mit einer Schilderung jenes von Liebe und rührender Achtung bestimmten Interesse an der Natur[3], das er später als das sentimentalische bezeichnen wird. Bei der Nennung der beiden Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit dieses Interesse zustande komme, fällt das Wort naiv zum ersten Mal. Es heißt hier: Für erste ist es durchaus nötig, dass der Gegenstand, der uns dasselbe einflößt, Natur sei oder doch von uns dafür gehalten werde; Zweitens, dass er (in weitester Bedeutung des Wortes) naiv sei, d.h., dass die Natur mit der Kunst im Kontraste stehe und sie beschäme. Sobald das letzte zu dem ersten hinzukommt, und nicht eher, wird die Natur zum Naiven.
An diesen Sätzen fällt zweierlei auf. Erstens, dass das Naive eingeführt wird als der Gegenstand des sentimentalischen Interesses, zweitens, dass dieser Bezug auf das Nicht-Naive in die Bestimmung des Naiven selber eingeht, indem Natur, Schiller zufolge, erst dann naiv zu nennen ist, wenn sie mit der Kunst im Kontraste steht und sie beschämt.
Das Naive ist für Schiller indessen nicht, wie man oft gemeint hat, eine natürliche Gegebenheit, sondern ein sentimentalischer Befund. Es ist nicht einfach ursprüngliche Natur, sondern diese nur, insofern sie mit der Kunst d.h. der Künstlichkeit der -Kultur. Zum Naiven wird erfordert, dass die Natur über die Kunst den Sieg davontrage; es ist eine Kindlichkeit, wo sie nicht mehr erwartet wird. Unsere Kindheit ist die einzige unverstümmelte Natur, die wir in der kultivierten Menschheit antreffen. Das Naive kann niemals eine Eigenschaft verdorbener Menschen behandeln, sondern nur Kindern und kindlich gesinnten Menschen zukommen.
Wenn ein Vater seinem Kinde erzählt, dass dieser oder jener Mann für Armut verschmachte, und das Kind hingeht und dem armen Mann Geldbörse seines Vaters zuträgt, so ist die Handlung naiv; denn die gesunde Natur handelte aus dem Kinde.
Denkt man zurück an die Frage, ob naiv und sentimentalisch Epochenbegriffe seien (also klassisch und romantisch entsprechen), so wäre zu antworten, dass naiv und sentimentalisch nicht zwei verschiedene Epochen bezeichnen, sondern zwei Dichtungsweisen, zwei dichterische Existenzweisen in einer und der selben Epoche. Wiederum liegt es nahe, naiv nicht mit klassisc h, sondern mit klassizistisch gleichzusetzen, naiv gleichsam die Klassizität zu nennen, wo sie nicht mehr erwartet wird, die Treue zur Antike, während sentimentalisch der romantische Dichter wäre, der sich nicht den Besitz eines verlorenen vorgaukelt, sondern das Eigene gerade in der Subjektivität, entdeckt. Beide Stilbegriffe (naiv und sentimentalisch) behalten einen historischen Rückbezug: Wie das Klassische auf die Antike bezogen wird, so das Romantische auf das Mittelalter als die Wiege der Moderne -die Begriffe romantisch und modern werden vielfach synonym verwendet (Borchmeyer 1980). So ist die bedeutsame Unterscheidung zwischen dem Klassischen und dem Romantischen nichts anderes als eine modifizierte Neuformulierung der Schillerschen Theorie vom Naiven und Sentimentalischen.
Vor Schiller -ja vielfach auch noch bei ihm selber- wird der Begriff sentimentalisch im Sinne von sentimental (eng.) = empfindsam verwendet (vgl. Borchmeyer 1980). Zeichnet sich die naive Dichtung durch entschiedene Gegenständlichkeit aus, so die sentimentalische durch die Beziehung des Gegenstandes auf eine Idee (darin gründet ihre Rührung). Demgemäß ist die naive Dichtung Nachahmung des Wirklichen, die sentimentalische hingegen, Darstellung des Ideals[4]. Für Schiller ist das Ideal eine Aufgabe, die niemals vollkommen, sondern immer nur annäherungsweise erfüllt werden kann. Wie geht aber das Ideal hervor?
In unserem Leben widmen wir der Natur eine Art von Liebe und rührender Achtung. Jeder Mensch erfährt dieses, wenn er im Freien wandert, wenn er auf dem Lande lebt oder sich bei den Denkmälern der alten Zeiten verweilt. Was hätte eine unscheinbare Blume, eine Quelle, eine bemooster Stein, das Geschwitzer der Vögel, das Summen der Bienen usw. für sich selbst so Gefälliges für uns? Es sind nicht diese Gegenstände, es ist eine durch sie dargestellte Idee, was wir in ihnen lieben. Sie sind, was wir waren; sie sind was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur wie sie und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freiheit, zur Natur zurückführen. Sie sind also zugleich Darstellung unserer verlorenen Kindheit. Sie sind Darstellung unserer höchsten Vollendung im Ideale, daher sie uns in eine erhabene Rührung versetzen. Was uns von ihnen unterscheidet, ist gerade das, was ihnen selbst zur Göttlichkeit fehlt, Wir sind frei, und sie sind notwendig; Wir wechseln, sie bleiben eins. Aber nur, wenn beides sich miteinander verbindet, geht das Göttliche oder das Ideal hervor. Die Natur als das Aufgegebene (als Darstellung unserer höchsten Vollendung) bezeichnet Schiller als das Ideal. Ihm können wir uns in einem unendlichen Fortschritte nähern.
Schiller sagt : der Mensch sollte den Stand der Unschuld, den er jetzt verlor, wieder aufsuchen lernen durch seine Vernunft und als freier vernünftiger Geist dahin zurückkommen, wovon er als eine Kreatur des Instinkts ausgegangen war. Das ist der Keim der Schillerschen Theorie des Sentimentalischen. Die sentimentalischen Dichter werden als die Zeugen und als die Rächer der Natur auftreten. Zeugen der Natur sind sie, wenn sie die bereits verlorene Natur durch ihr Zeugnis erneut beschwören, z.B. in der Elegie (später wird erklärt). Rächer sind sie, wenn sie der verklagten oder beleidigten Natur wiederum zu ihrem Recht verhelfen, z.B. in der Satire. Die Dichter werden entweder Natur sein oder sie werden die verlorene suchen. In diesem Sinne werden alle Dichter entweder zu den naiven oder zu den sentimentalischen gehören. Der naive Dichter ist, wie Schiller sagt, Natur, der sentimentalische sucht die verlorene Natur. Schiller bezeichnet hier sich selbst als sentimentalischen, Goethe[5] als naiven Dichter. Naive Dichter rühren uns durch Natur, durch sinnliche Wahrheit, durch lebendige Gegenwart; sentimentalische rühren uns dagegen durch Ideen. Dieser Weg, den die neueren (bzw. modernen, sentimentalischen) Dichter gehen, ist übrigens derselbe, den der Mensch überhaupt im Einzelnen als im ganzen einschlagen muss. Der sentimentalische Dichter will nicht das Wirkliche, sondern die Idee der Menschheit nachahmen und das Ideal darstellen. Er ist der durch die Wirklichkeit bereits Bestimmte, der, weil er das Unendliche[6] nicht mehr ist, es auf dem Wege der Reflexion wiederherstellen will und muss. Zum naiven Dichter, der die Natur ist, gehört das Unbewusste; das Unendliche wird ihm nicht selber Gegenstand, weil er es bereits in sich selbst und durch sich selbst realisiert.
In dem Aufsatz Szondis Das Naive ist das Sentimentalische wird betont, dass der sentimentalische Dichter als jemand erscheint, der einem Unendlichen zustrebt und die sentimentalische Dichtung nur als nach dem Ideale strebend vorgestellt wird. Jost Hermand zitiert in seinem Aufsatz Schillers Abhandlung über naive und sentimentalische Dichtung im Lichte der deutschen Popularphilosophie des 18.Jhs, dass Mendelssohn die Folge von Naiv-Sinnlich und Erhaben-Idealisch vertritt. Mendelssohn hebt den Begriff des Naiven, indem er ihn versittlicht, und rückt ihn damit in die Nähe des Erhabenen.
Solange wir bloße Naturkinder waren, waren wir glücklich und vollkommen; wir sind frei geworden und haben beides verloren. Daraus entspringt eine doppelte und sehr ungleiche Sehnsucht nach der Natur, eine Sehnsucht nach ihrer Glückseligkeit, eine Sehnsucht nach ihrer Vollkommenheit. Den Verlust der ersten beklagt nur der sinnliche Mensch; um den Verlust der andern kann nur der moralische trauern.
Der naive Dichter folgt bloß der einfachen Natur und Empfindung und beschränkt sich bloß auf Nachahmung der Wirklichkeit. So kann er zu seinem Gegenstand auch nur ein einziges Verhältnis haben. Die Form der naiven Dichtung sei lyrisch oder episch, dramatisch oder beschreibend: Wir können wohl schwächer oder stärker, aber nie verschiedenartig gerührt werden. Aber auch der dramatischen und epischen Dichter können uns auf elegische Weise bewegen.
[...]
[1] Ästhetisch bedeutet soviel wie idealisch, klassisch. Bei Wilhelm von Humboldt werden die Begriffe ästhetisch und klassisch austauschbar verwandt.
[2] Nach Hermand (1964) seien die Alten beschreibend, malend, realistisch gewesen, während sich die modernen Dichter auf die Welt der Ideen und ihre eigene Imagination angewiesen sähen.
[3] Schiller meint mit dem Begriff Natur hier die völlige Übereinstimmung des Menschen und der Dinge mit sich selbst. Die Natur des Menschen oder, wie Schiller sagt, seine Menschheit, ist so eine Vollkommenheit, eine Übereinstimmung zwischen seinem Empfinden und Denken. Schiller weiß, dass dieser Begriff (Naturbegriff) eine Idee ist, die das moderne Bewusstsein vom zunehmenden Verlust der Natur in der historischen Wirklichkeit zu ihrer Voraussetzung hat.
[4] Unter dem Terminus Ideal versteht Schiller die dargestellte Synthese von empirischem Gegenstand und Idee. Diese Darstellung kann nur durch die ästhetische Reflexion geleistet werden, die den empirischen Gegenstand als einen unendlichen und die Idee als einen empirischen Gegenstand erscheinen lässt (vgl. Homann 1977).
[5] Goethe als naiver Dichter behandelt schon rein sentimentalische Stoffe: Werther, Faust, Tasso, Wilhelm Meister. Schiller wendet sich aber naiven Stoffen zu.
[6] Das Unendliche wird hier von Schiller als das Ideal bezeichnet.
- Arbeit zitieren
- Dr. phil. Muzaffer Malkoc (Autor:in), 1992, Die Unterscheidung des Schönen und des Erhabenen in Schillers Unterscheidung des Naiven vom Sentimentalischen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/138808
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