Unter Berücksichtigung aktueller, teils demagogisch popularisierter Phänomene, die als generelle Strukturprobleme moderner Gesellschaften auftreten, ist es Ziel dieser Arbeit, Zusammenhänge zwischen diesen als Armut, Segregation und Exklusion bezeichneten Erscheinungen und der Struktur bildender Verhältnisse in der Bundesrepublik zu erkunden und zu beschreiben. Die zunehmende neoliberalistische Politik, welche eine postindustrielle und finanzkapitalistische Ökonomisierung fast aller Lebens- und Arbeitsbereiche herausfordert, führt neben den neu entstehenden Freiheiten, die Beck (1986) nicht unbedacht „Riskante Freiheiten“ nannte, auch zu strukturellen Zwängen, die wiederum diese Freiheiten relativieren. „Der sich durchsetzende Industriekapitalismus schafft Proletarisierung und Verelendung, er provoziert neue politische, kämpferische und solidarische Auslegungen und Praxen gegen Verelendung und Entfremdung.“ (Thiersch, 2008: 30). Diese Gegebenheiten konstituieren das „neue Primat ökonomischer, wirtschaftsbedingter Interessen, das Bildung unter das Postulat der Ausbildung zum Humankapital stellt, einhergehend mit einer Dethematisierung sozialer Probleme, einer Privatisierung der Lebens- und Lernschwierigkeiten, die die neuen Verhältnisse erzeugen und […] einer Moralisierung derer, die in ihnen Verlierer sind.“ (Thiersch, 2008: 30). Eine zentrale Frage stellt sich nach der Position der Sozialpädagogik in den Grenzen dieser Gegebenheiten mit exkludierenden Tendenzen. Wenn Bildung in den bestehenden politischen und ökonomischen Verhältnissen dazu dient, mittels Produktion von „Humankapital“ genau diese Gegebenheiten wieder zu reproduzieren, auch wenn sie selbst der Ursprung für die gesellschaftliche Entgrenzung darstellen, dann nimmt die Sozialpädagogik ihren genuinen Auftrag derart wahr, dass sie die Gegenposition bezieht. Gerade dann, wenn Sozialpädagogik als „Hilfe zur Selbsthilfe“ in prekären Lebensverhältnissen oder als Inklusions- bzw. Integrationshilfe für selektierte bzw. segregierte oder für die von dieser Gefährdung betroffenen Personenkreise agiert.
Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es, soziale Ungleichheiten aufzuzeigen, die auf Bildungsangelegenheiten zurückzuführen sind sowie Theorieansätze zu präsentieren, welche die Genese und die Reproduktion dieser Tatsache unter dem Fokus des sozioökonomischen Status der Betroffenen zu erklären versuchen.
INHALTSVERZEICHNIS
1 Einleitung
2 Terminologie und Begriffsabgrenzung
2.1 Zur Erziehung
2.1.1 Das generalisierte gesellschaftsbezogene Erziehungsverständnis
2.1.2 Das humanistische Telos als konträre Auffassung von Erziehung
2.1.3 Kritik am generalisierten pädagogischen Erziehungsverständnis
2.2 Zur Bildung
2.2.1 Bildungshistorischer Abriss
2.2.2 Bildungstheorie nach Humboldt
2.2.3 Zur kontextbezogenen Bildungsbestimmung
2.3 Zur definitorischen Bestimmung sozialer Ungleichheit
2.3.1 Rousseaus Verständnis von Ungleichheit
2.3.2 Zum Phänomen sozialer Ungleichheit in der Gegenwart (nach Hradil)
2.3.4 Primäre und sekundäre soziale Ungleichheit nach Tillmann (2008)
2.4 Zwischenfazit: Terminologie und Begriffsabgrenzung
3 Intelligenz und Begabung: Psychologische Betrachtung von Begabungsunterschieden
3.1 Neurobiologische Hirnforschung
3.2 Pädagogische Folgerung
3.3 Sozialpädagogische Herausforderung
3.4 Zwischenfazit: Intelligenz und Begabung
4 Zur Theorie Pierre Bourdieus
4.1 Praxeologische Erkenntnis
4.2 Geschmack" und Klassenhabitus — Die Habitustheorie
4.3 Ökonomie der Felder t Die Feldtheorie
4.4 Bourdieus Kapitalverständnis
4.4.1 Ökonomisches Kapital
4.4.2 Kulturelles Kapital und dessen Varianten
4.4.2.1 Inkorporiertes Kulturkapital
4.4.2.2 Objektiviertes Kulturkapital
4.4.2.3 Institutionelles Kulturkapital
4.4.2.4 Anwendung kulturellen Kapitals auf den Forschungsgegenstand
4.4.3 Soziales Kapital
4.4.4 Symbolisches Kapital
4.5 Zwischen Konflikttheorie und Rational-Choice-Ansatz
4.6 Empirische Fundierung
4.7 Zwischenfazit: Zur Theorie Pierre Bourdieus
5 Ausmaß und Folgen derzeitiger Bildungspraxis t Empirische Forschungsgegenstände
5.1 Studentische Erhebung
5.1.1 Elterlicher Bildungsgrad und Schulform der Kinder
5.1.2 Ergebnisse der studentischen Erhebung
5.2 Schülerleistungen im internationalen Vergleich - PISA-Ergebnisse
5.2.1 PISA 2000
5.2.2 PISA 2003
5.2.3 PISA 2006
5.3 Barrieren im Schulwesen
5.3.1 Einschulungszurückstellungen, Sitzenbleiben und Sonderschulüber--weisung
5.3.2 Schulformgliederung und Übergangsauslese
5.3.3 Abschulung
5.4 Beispiele alternativer Schulkonzeptionen
5.4.1 Die Laborschule Bielefeld
5.4.2 Die Freie Comenius Schule Darmstadt
5.4.3 Die Dortmunder Grundschule „Kleine Kielstrage
5.4.4 Bedingungen und Ausblick der Institutionalisierung
5.5 Gesellschafts- und sozialpolitische Rahmenbedingungen
5.5.1 Vom Wohlfahrts- zum „Aktivierenden Sozialstaat
5.5.2 Auswirkungen der Workfare-Politik
5.5.3 Einfluss auf den Bildungskontext
5.6 Zwischenfazit: Ausmaß und Folgen derzeitiger Bildungspraxis
6 Resümee
7 Anhang
8 Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Unter Berücksichtigung aktueller, teils demagogisch popularisierter Phänomene, die als generelle Strukturprobleme moderner Gesellschaften auftreten, ist es Ziel dieser Arbeit, Zusammenhänge zwischen diesen als Armut, Segregation und Exklusion bezeichneten Erscheinungen und der Struktur bildender Verhältnisse in der Bundesrepublik zu erkunden und zu beschreiben. Die zunehmende neoliberalistische Politik, welche eine postindustrielle und finanzkapitalistische Ökonomisierung fast aller Lebens- und Arbeitsbereiche herausfordert, führt neben den neu entstehenden Freiheiten, die Beck (1986) nicht unbedacht „Riskante Freiheiten" nannte, auch zu strukturellen Zwängen, die wiederum diese Freiheiten relativieren. „Der sich durchsetzende Industriekapitalismus schafft Proletarisierung und Verelendung, er provoziert neue politische, kämpferische und solidarische Auslegungen und Praxen gegen Verelendung und Entfremdung." (Thiersch, 2008: 30). Aktuelle Beispiele aus den Medien, so die Aufstände der solidarisierten Belegschaft und des Betriebsrats bei OPEL, zeigen, dass in Zeiten volkswirtschaftlicher Notstände durch die weltweite Finanzkrise auch zunehmend Kritik an den bestehenden kapitalistischen Zuständen geäußert wird. Diese konstituieren das „neue Primat ökonomischer, wirtschaftsbedingter Interessen, das Bildung unter das Postulat der Ausbildung zum Humankapital stellt, einhergehend mit einer Dethematisierung sozialer Probleme, einer Privatisierung der Lebens- und Lernschwierigkeiten, die die neuen Verhältnisse erzeugen und [...] einer Moralisierung derer, die in ihnen Verlierer sind." (Thiersch, 2008: 30). Eine zentrale Frage stellt sich nach der Position der Sozialpädagogik in den Grenzen dieser Gegebenheiten mit exkludierenden Tendenzen. Wenn Bildung in den bestehenden politischen und ökonomischen Verhältnissen dazu dient, mittels Produktion von „Humankapital" genau diese Gegebenheiten wieder zu reproduzieren, auch wenn sie selbst der Ursprung für die gesellschaftliche Entgrenzung darstellen, dann nimmt die Sozialpädagogik ihren genuinen Auftrag derart wahr, dass sie die Gegenposition bezieht. Gerade dann, wenn Sozialpädagogik als „Hilfe zur Selbsthilfe" in prekären Lebensverhältnissen oder als Inklusions- bzw. Integrationshilfe für selektierte bzw. segregierte oder für die von dieser Gefährdung betroffenen Personenkreise agiert. Da diese Problematik innerhalb sozialpädagogischer und vor allem sozialpolitischer Diskussionen einen hohen Stellenwert einnehmen sollte, dient die Arbeit vornehmlich dazu, auch in diesen Kreisen sich den Status dieser Rolle stets neu bewusst zu machen. Es werden Stellen und Zeitpunkte in der Lebensbiografie aufgezeigt, an denen sozialpädagogische Handlungserfordernisse entstehen können, die allerdings ggf. durch Strukturveränderungen und einen weniger neoliberalen Einfluss der Politik sowie eine geringere Beeinflussung der Wirtschaft in die Bildungsangelegenheiten vermeidbar oder abgemildert werden. Nach Angaben des Bildungsberichts der Bundesregierung ,,lebte 2006 mehr als jedes zehnte Kind unter 18 Jahren in einer Familie, in der kein Elternteil erwerbstätig war. 13% der Kinder wuchsen in Familien auf, in der niemand einen Abschluss des Sekundarbereichs II hatte. Bei über 3,4 Millionen oder 23% der Kinder lag das Einkommen der Familie unter der Armutsgefährdungsgrenze. Von mindestens einer dieser Risikolagen waren 4,2 Millionen oder 28% der Kinder betroffen." (BMBF, 2008: 10). Anhand dieser Zahlen wird deutlich, welche Ausgrenzungstendenzen bestehen und dass eine Interdependenz zwischen Bildung und Armut nachzuweisen ist. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, soziale Ungleichheiten aufzuzeigen, die auf Bildungsangelegenheiten zurückzuführen sind sowie Theorieansätze zu präsentieren, welche die Genese dieser Tatsache zu erklären versuchen. Dabei wird die vorwiegende Aufmerksamkeit auf dem sozioökonomischen Status der Betroffenen liegen, während soziokulturelle und geschlechtsspezifische Disparitäten in der Forschungsfrage eine Nachrangigkeit einnehmen.
Im anschließenden Kapitel wird sich mit den Grundbegriffen Erziehung, Bildung und sozialer Ungleichheit auseinandergesetzt, die dem Verständnis dieser Arbeit als Fundament dienen. Das darauf folgende 3. Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, ob Intelligenz und Begabung, die dem Bildungssystem als Differenzierungskriterium zugrunde liegen, vorwiegend genetisch bedingt sind oder einen sozialisierten und damit sozial konstruierten Hintergrund besitzen. Sind sie Resultat einer genetischen Prädisposition, so ließe sich schlussfolgern, dass es ungerecht wäre, diese Gegebenheiten nicht auch differenziert zu fördern. Sind sie jedoch auf die familiäre Primärsozialisation zurückzuführen, so wäre es ungerecht, diese sozial konstruierte Ungleichheit im Bildungswesen fortwährend zu unterstützen. Das 4. Kapitel befasst sich mit den Theorieansätzen Pierre Bourdieus, der sich bereits seit den 1970er Jahren mit Bildungsdisparitäten auseinandergesetzt hat und der darin eine Reproduktion gesellschaftlicher Machtverhältnisse erkennt. Im Kapitel 5 werden dann anhand der Pisa- Ergebnisse sowie mittels Auszügen einer eigener studentischen Erhebung empirische Daten herangezogen, welche einen verifizierbaren Aufschluss über den Gehalt der Theorie geben. Im selben Kapitel werden zudem Schulkonzepte vorgestellt, die eine Alternative zur bisherigen Bildungspraxis darstellen. Außerdem folgt ein Diskurs über die gesellschafts- und sozialpolitischen Rahmenbedingungen, welche die aktuelle Bildungspolitik bestimmen. Das Kapitel 6 enthält abschließend ein Resümee zur Arbeit.
In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, stets beide Formen des Geschlechts bei der Bezeichnung von Personen zu verwenden. um eine sexistische Diskriminierung zu vermeiden. An Stellen, bei denen nur eine Form des Ges]chlechts genutzt wurde, dient dieses der leichteren Lesbarkeit des Inhaltes. Dabei wurde mit beiden Formen experimentiert.
2 Terminologie und Begriffsabgrenzung
2.1 Zur Erziehung
Bevor eine Auseinandersetzung mit dem deutschen Erziehungs- Bildungssystem erfolgen kann, bedarf es einer Klärung der Begriffe „Erziehung" und „Bildung". Denn bereits hier treten Fragen und Positionierungen auf, die eine Konkretisierung und Reflexion benötigen. Erziehung ist ein umfassender Begriff, dessen inhaltliche Bestimmung einen breiten Spielraum bereithält. Um das Verständnis zu erfassen, welches hier seine Anwendung findet und welches ebenso in den alternativen Schulkonzepten durchscheint, wird nachstehend ein Diskurs zum Erziehungsbegriff erfolgen. Erst wenn ein Bewusstsein über den erzieherischen Prozess auf der Mikroebene geschaffen wurde, dessen Inhalte und Leitbilder einen größtmöglichen Konsens hervorrufen, kann dieses Bewusstsein auch auf die organisationale und gesamtgesellschaftliche Ebene übertragen und dort institutionalisiert werden. Dazu muss jedoch bereits auf der Handlungsebene ein Begriff von Erziehung konstituiert werden, der eine demokratische Entwicklung der Gesellschaft zulässt. Partizipation, also Mitbestimmung und Mitwirkung am Aufbau und der Rekonstruktion gesellschaftlicher Verhältnisse, lässt sich erst verwirklichen, wenn diese bereits in der Kindheit erlernt und von den älteren Generationen akzeptiert und getragen wird. Dieses setzt, wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, auch eine offene und veränderungsbereite Haltung voraus, bei der sich die älteren Generationen in der Erziehung sowohl als Subjekt, wie auch als Objekt sehen müssen.
2.1.1 Das generalisierte gesellschaftsbezogene Erziehungsverständnis
In der Pädagogik hat sich ein Bild des Erziehungsbegriffs manifestiert, welches sich an der Einpassung des Individuums in die gesellschaftlichen Gegebenheitsstrukturen orientiert. So versteht Bernfeld unter Erziehung „die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache" (Bernfeld, 1973: .51). Erziehung ist demnach das Objekt dessen, was die Gesellschaft, oder partikulare Einheiten wie Familie, stationäre Jugendhilfe, Bildungseinrichtungen usw. als Subjekt an einem Objekt, dem Zögling o.a. Heranwachsenden vollziehen. Nichts anderes also, als „eine Reaktion der Gesellschaft auf die Tatsache Kindheit [...] als ein beachtenswertes Objekt ihrer Bemiihungen." (Bernfeld, 1973: 52). Unter der Entwicklungstatsache wird hier das Faktum verstanden, dass der Mensch eine ontogenetische postnatale Entwicklung durchläuft. Er wird als „unvollkommen", also körperlich, geistig und sozial entwicklungsfähig und -bedürftig geboren. Ohne genauere Erläuterungen wird ersichtlich, dass jedes Kind mit unterschiedlichen genetischen, psychischen und sozialen Bedingungen das Licht der Welt erblickt und das gemäß dem Strukturalismus stets verschiedene Faktoren auf das Individuum einwirken und es verändern. „Eine Kindheit, einsam verlaufend, erzwingt keine Erziehung. [...] Erziehung gibt es nur dort, aber überall dort, wo Kindheit in Gesellschaft abläuft." (Bernfeld, 1973: 49f.). Die Intention scheint beim Erziehenden, wohl aber auch beim Heranwachsenden eine enorme Bedeutung einzunehmen. Genau diese Intentionalität unterscheidet den Erziehungs- vom Sozialisationsbegriff. „Während Sozialisation- (und Enkulturations-) Prozesse als Sozialwerdung beschrieben werden, begreift man Erziehung als Sozialmachung." (Kunert, 2001: 58). Sozialisation wird demnach als Prozess verstanden, den ein Heranwachsender durchläuft, wenn er beginnt, seine Umwelt wahrzunehmen, zu bewerten und die eigenen Handlungen in dieser zu reflektieren. Erziehung beinhaltet für den Zögling dieselben Gegebenheiten, für dessen Umfeld jedoch stellt sie eine absichtsgeleitete Aufgabe dar.
Gesellschaftliche Zusammenhänge nehmen folglich eine zentrale Rolle bei der Erziehung ein. „Es geht darum, der nachwachsenden Generation die in der Gesellschaft vorhandenen und für ihren Bestand und für ihre Weiterentwicklung als wichtig angesehene Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen zu vermitteln." (Kaiser, 1981: 15). Ein ähnliches Verständnis von Erziehung teilt Dietrich (1988: 43; Hervorh. N.B.) indem er eher aus der handlungsgeleiteten Perspektive schreibt: „Erziehung betrifft einen Vorgang, der den Menschen in den Bereich der sittlichen Normen einführt und ihm eine Lebenshilfe anbietet, damit er sein Leben menschlich gestaltet und für das Zusammenleben in der Gesellschaft tauglich wird.". Mit den Worten einer interaktionistischen Ebene definiert Brezinka (1974: 95) sehr allgemein: „Als Erziehung werden Handlungen bezeichnet, durch die Menschen versuchen, die Persönlichkeit anderer Menschen in irgendeiner Hinsicht zu fördern." Die zu Anfang des Kapitels angedeutete Subjekt-Objekt-Beziehung wird hierbei deutlich erkennbar: „Der Förderungsprozeg wird linear gedacht, vom Educator zum Educanden; die Ziele dieser Förderung bleiben unreflektiert und unlegitimiert; der Erziehungsprozess insgesamt wird final gedacht, im Sinne einer Art erzieherischer Kausalmechanik." Kunert (2001: 58). Die Intentionalität mag gradueller und inhaltlicher Art variieren, nicht aber das Prinzip der Kausalkette aufheben.
Erziehung unterliegt also, rein phänomenologisch gesehen, einem variablen und reproduktiven Moment, der von der jeweiligen Zeit und ihren historischen Besonderheiten geprägt ist. Ändern sich die Faktoren und Bedingungen einer Gesellschaft, so kommt es gezwungener Maßen auch zu einem Wandel in dem Zweck, dem der erzieherische Prozess unterliegt und mit großer Wahrscheinlichkeit auch zu einer Veränderung der Art und Weise, wie Erziehung verläuft.
Festzuhalten ist, dass Erziehung im generellen pädagogischen Verständnis immer einem Rhythmus unterliegt. Zum Einen besitzt der Begriff eine konstante Variable, die seine Interdependenz zur Umwelt formuliert, indem kontinuierlich gesellschaftliche Norm und Wertvorstellungen an das Individuum herangetragen werden. Zum Anderen unterliegt sie jedoch auch einem unbeständigen Moment, der die strukturelle Veränderbarkeit der Erziehung und seiner konkreten Inhalte beschreibt. Ähnlich dieser Auffassung bekundet sich nach Kunert (2001: 57) der Erziehungsbegriff als etwas, was sich „als gattungsgeschichtliches Phänomen in seiner Formbestimmung verändern mag, sich dabei aber in seiner Substanz als äugerst beständig erweist.". Erziehung ist „ein bedingter und bedingender Faktor im gesellschaftlich-historischen Entwicklungs-, Auseinandersetzungs- und Entscheidungsprozess, jederzeit und durchgängig verbunden mit Formen und Bedingungen gesellschaftlicher Herrschaft und Macht." (Pfaffenberger, 1997: 282).
2.1.2 Das humanistische Telos als konträre Auffassung von Erziehung
Humanismus in seiner ureigenen Form definiert sich aus seiner Semantik (lat. Humanitas: Menschlichkeit), in der das Ziel verfolgt wird, „ganz dem Menschen und seiner Menschwerdung verpflichtet zu sein." (Huisken, 2001: 13). Die Frage nach dem Sinn und Wert des Lebens nimmt eine zentrale Rolle ein. Die humanistische Perspektive, welche auch im Bereich der Psychologie einen eigenen Part mit ihren Vertretern A. Maslow, C. Rogers u.a. besetzt, konstituiert sich auf einem optimistischen Menschenbild. „Die Grundnatur des frei sich vollziehenden menschlichen Seins ist konstruktiv und vertrauenswurdig." (Hinte Runge, 1999: 301, vgl. Rogers, 1970) „Selbstaktualisierung, Homöostase, Autonomie und organismisches Vertrauen werden als Potential des menschlichen Daseins vorausgesetzt." (Hinte Runge, 1999: 301).
Bereits die hellenistische Tradition im antiken Griechenland geht auf den Begriff der „paideia" zurück. Dieser zielt „auf die Hervorbringung des Schönen und Guten (...), und das heigt auch: des schönen und guten Menschen" (Kunert, 2001: 60), ab. Ein Erziehungsideal, welches auf eine umfassende Bildung und die Autonomie des Menschen angelegt ist (Vgl. Kunert, 2001: 60f.; Wehnes, 2001: 230). In Anlehnung an diese Auffassungen einer positiven Grundnatur des Menschen leitet der aufklärerische Rousseau (1998: 10) seinen Erziehungsroman „Emil oder Über die Erziehung" mit den Worten „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen." ein. Der humanistische Tenor, den Zögling auf dem Weg zu sich selbst zu begleiten, klingt in seinem Werk permanent mit.
„ / n der natiirlichen O rdnung sind alle M enschen gl eich; ihre gemeinsame Berufung ist: Mensch zu sein. Wer daf il r gut erzogen ist, kann jeden Beruf, der damit in Beziehung steht, nicht schlecht versehen. Ob mein Sch il ler Soldat, Priester oder Anwalt wird, ist mir einerlei. Vor der Berufswahl der Eltern bestimmt ihn die Natur zum Menschen. Leben ist ein Beruf, den ich ihn lehren will. Ich gebe zu, dass er, wenn er aus meinen Händen kommt, weder Anwalt noch Soldat noch Priester sein wird, sondern in erster Linie Mensch. Alles, was ein Mensch zu sein hat, wird er genau so sein wie jeder andere auch; und wenn das Schicksal ihn zwingt, seinen Platz zu wechseln , er wird immer an seinen P latz sein ." ( Rousseau , 1998: 14)
Erziehung ist für Rousseau in dem Moment wertvoll, wenn sie das Kind wachsen und sich frei entwickeln lässt. Seine Kritik an der durch den Erziehenden geprägten Intentionalität der Erziehung wird im folgenden Zitat deutlich: „Manche Hebammen behaupten, sie könnten den Kopf eines Neugeborenen in hübschere Formen kneten; und das duldet man! Unsere Köpfe sind also vom Schöpfer schlecht geformt worden; und sie müssen erst durch Hebammen von augen und von Philosophen von innen die rechte Form bekommen!" Viele nachfolgenden Pädagogen orientierten sich an diesem Werteverständnis, so auch der deutsche Pädagoge Fröbel in der Klassisch-idealistischen Epoche, welcher als Begründer des Kindergartens gilt: „Bei der Erziehung muss man etwas aus dem Menschen herausbringen und nicht in ihn hinein." (F. FRÖBEL; vgl. Reble, 2002: 151ff. 231ff.). Die Liste der Protagonisten eines humanistischen Ansatzes ließe sich bis in die Gegenwart beliebig erweitern. Anzumerken ist jedoch, dass sich eine Reinform des Humanismus in der Pädagogik an keinem Ort anfindet, da selbst der Wille des Educatoren, den Zögling, völlig frei von den eigenen Werten, zu sich selbst zu begleiten, einer Wertung unterliegt. Nämlich derer, die eigenen Wert- und Normvorstellungen zu vernachlässigen.
2.1.3 Kritik am generalisierten pädagogischen Erziehungsverständnis
Da bereits verschiedene Zugänge zum Erziehungsbegriff niedergelegt wurden, soll nun in einem kurzen Diskurs Kritik an einzelnen Aspekten dieser Auffassungen ausgeübt und ein konstruktives Bild des hier verwendeten Erziehungsverständnisses dargelegt werden.
Die gesellschaftsbezogene Definition impliziert diverse Beanstandungen. Es handelt sich in diesem Erziehungsverständnis um erwünschte Verhaltensweisen, welche die Gesellschaft vom Individuum einfordert, bspw. die „übernahme der Normen der jeweiligen Kultur" und um die „Anpassung an die gesellschaftliche Umwelt" (Huisken, 2001: 13). Nicht aber um Interessen und Bedürfnisse, die dem Individuum selbst als mündigem Wesen entspringen. „Dem Zögling bzw. Educandus werden keine eigene Vernunft und kein eigener Wille zugestanden" (Kunert, 2001: 58). In der Folge muss sich gefragt werden, ob es legitimierbar ist, den Heranwachsenden an ein Werte- und Normsystem heranzuführen, zu dessen Anerkennung oder Ablehnung er keine Freiheit besitzt und dessen Inhalt er nicht mitbestimmen kann. Gewiss erreicht der Zögling irgendwann ein Alter, mit dem er rechtlich ausgewiesen ist, über sein Leben eigenverantwortlich zu walten. Jedoch lassen sich die bis dahin verlaufenen Prägungen des Charakters nicht mehr revidieren, bestenfalls modifizieren. Eine absolute Ablehnung der Werte und Normen der Eltern ist sicherlich eher unüblich, nicht aber selten oder ausgeschlossen. Spätestens mit der Entwicklungsphase der Pubertät, wenn der Heranwachsende beginnt, die Welt in konstruktivistischer Weise in Frage zu stellen, entstehen zumindest partikular solche Konflikte. „Erziehungsprozesse haben einen tendenziell aufklärerischen und (selbst-)reflexiven Effekt. Anders gesagt: Die jeweils vermittelte Intention wird nicht nur übernommen, unkritisch akzeptiert, sondern vom Zögling wird zugleich über die Sinnhaftigkeit dieser Intention reflektiert; Erziehungsprozesse sind definitorisch Konfliktprozesse." (Kunert, 2001: 58). Diese Subjekt-Objekt-Beziehung weist ein gegenseitiges Lernvermögen der Betroffenen zurück. Gemäß dieser pädagogischen Didaktik werden Erziehungsprozesse stets mit Vorstellungen und Erwartungen des Erziehenden assoziiert, der seine Einstellungen und sein Weltbild als gegeben an den Zögling überträgt. Entgegen dieser Auffassung des Erziehungsbegriffs soll hier eine Subjekt-Subjekt-Beziehung in Kraft treten. Erziehung wird als reproduktiver Augenblick verstanden, bei dem die Beteiligten stets ein Nutzen aus dem gegenüberstehenden Individuum ziehen können. Versucht man nun diese Auffassung von der Mikro-, also der Handlungsebene, auf die Makro- bzw. Systembene zu transportieren, so gelangt man zu einer Definition, die sich antonym an die im Kapitel 2.1 erwähnte Begriffsbestimmung von KAISER anlehnt:
Es geht (bei der Erziehung) darum, mit der nachwachsenden Generation gemeinsam ein Werte- und Normverständnis in der Gesellschaft zu konstituieren, welches Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen beinhaltet, die für ihren Bestand und für ihre Weiterentwicklung als wichtig angesehenen werden.
Partizipative Ansätze, wie sie hier dargelegt werden, sind bekanntlich keine neuen Erkenntnisse, sie müssen jedoch beschrieben werden, da sie als Fundament der weiteren Analysen zum Bildungssystem dienen. Wie sollen nachwachsende Generationen mündig an einem demokratischen System partizipieren bzw. es wenn nötig zu ihren Gunsten verändern und dann verändert reproduzieren, wenn im Fundament der Erziehung und Bildung keine Weichen gelegt werden, die eine solche Entwicklung arrangierend beeinflussen? Beispiele für direktdemokratische Elemente im Erziehungs- und Bildungswesen finden sich im Konzept des Service-Learning, welches freiwilliges, bürgerschaftliches Engagement und die Mitbestimmung und Mitgestaltung im didaktischen Aufbau des schulischen Unterrichts vereint (Vgl. Sliwka et al., 2004) sowie in Schulkonzepten, die die Lernziele gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern festlegen (Siehe Kapitel 5.4).
Neben der Partizipation leitet sich jedoch ein weiterer zentraler Punkt aus der Abwendung vom Subjekt-Objekt-Verständnis ab: die Kausalkette. Wenn Erziehung kausal verläuft, vom Erzieher zum Zögling, so impliziert dieses die Vorstellung, dass der Educator über absolutes Wissen verfügt. Parallel zur Degradierung des Educandus zu Vernunft-, Willens- und Interessenlosigkeit, da Konflikte ein Unvermögen der Lernfähigkeit des Zöglings darstellen, nicht aber einen Ausdruck seiner Reflexivität, entsteht die Intentionalität der Erziehung. Pädagogische Intentionalität in der interaktionalen, also Subjekt-Subjekt-Vorstellung „ist immer schon „gebrochene" /ntentionalität." (Kunert, 2001: 58). Es geht demnach allezeit um ein Arrangement von mindestens zwei Intentionalitäten. Ähnlich dieser Vorstellung wird auch im aktuellen Hessischen Bildungs- und Erziehungsplan für Kinder ein entsprechendes „Bild vom Kind" vermittelt: „Der Mensch kommt als 'kompetenter Säugling" zur Welt [...].
Ausgestattet mit funktionsfähigen Sinnesorganen und grundlegenden Kompetenzen ist er auf Kommunikation, Interaktion und damit auf den Dialog mit Erwachsenen vorbereitet. Bereits unmittelbar nach der Geburt beginnt der Säugling seine Umwelt zu erkunden und mit ihr in Austausch zu treten und damit selbst einen aktiven Beitrag zur Aneignung seiner Umwelt zu leisten." (Hessisches Sozial- und Hessisches Kultusministerium, 2007: 20). Demnach wird Bildung, hier synonym mit Erziehung verwendet als sozialer, ko- konstruktivistischer Prozess angesehen, der „von Kindern und Erwachsenen gemeinsam konstruiert" (Hessisches Sozial- und Hessisches Kultusministerium, 2007: 20) wird. Auch Piaget Inhelder (1996: 154) teilen diese Perspektive, indem sie „Sozialisierung" als eine Strukturierung beschreiben, „zu der das /ndividuum ebensoviel beiträgt, wie es erhält." Sie behaupten, dass „die soziale Aktion sogar im Falle von Übermittlungen, bei denen das Subjekt noch am meisten als aufnehmend erscheint, etwa die Übermittlung in der Schule, unwirksam ohne eine aktive Assimilation des Kindes" (Piaget /nhelder, 1996: 154) ist.
Im herkömmlichen Verständnis erfolgt der erzieherische Verlauf jedoch nicht zum Selbstzweck, zum Dienst am Zögling, sondern zum Fremdzweck. Erziehung unterliegt einer Zweckgerichtetheit (Intentionalität), was sich nicht nur im familialen Rahmen zeigt, wenn das eigene Kind später einmal „Kiinstler" werden soll und auf eine Waldorfschule geschickt wird, oder Naturwissenschaftler und eine Bildung am naturwissenschaftlichen Gymnasium erfährt. Dieses Zeigt sich ebenso auf der Makroebene am Erziehungs- und Bildungssystem an sich, wie in den Kapiteln 4 und 5 erkennbar, wenn „Bildung als funktionale Notwendigkeit", als Ausbildung von Humankapital aufgefasst wird. Pfaffenberger (1997: 282) beschreibt diese gesellschaftliche Absicht, indem er schreibt, dass sich Erziehung „zwischen den Polen von Funktionalität und /ntentionalität" bewegt. Verdeutlicht wird diese Ziel- und Zweckgerichtetheit der Erziehung, wenn man einige zentrale Funktionen von Erziehung betrachtet, die er wie folgt benennt: „lntegration, Legitimation, Sicherung der Massenloyalität; soziale Kontrolle, Konformitätssicherung; Qualifikation; Reproduktion der Arbeitskraft; Allokation und Selektion" (Pfaffenberger, 1997: 283). Erziehung als interaktionaler Prozess (Subjekt-Subjekt-Beziehung) unterliegt stets einem Doppelcharakter: „Einerseits qualifiziert sie das lndividuum für den gesellschaftlichen Verkehr; das macht ihre anpassende, funktionale, abrichtende Seite aus. Andererseits stärkt sie das Individuum in der Entfaltung des eigenen kritischen Vernunftgebrauchs; das ist ihre aufklärerische, emanzipatorische Seite." (Kunert, 2001: 61). Eine ähnliche Definition, allerdings aus der System- oder auch Makroebene betrachtet, formuliert Pfaffenberger (1997: 283): „Erziehung hat (wie Sozialisation) eine Doppelfunktion, nämlich eine gesellschaftliche (Reproduktion der Gesellschaft) und eine personale (Aufbau der individuellen Persönlichkeit) und bewegt sich im Spannungsverhältnis von Reproduktion und Innovation, Systemstabilisierung und Systemveränderung.". Die Frage ist nur, von welchen Instanzen und gesellschaftlichen Gruppen die „Reproduktion der Gesellschaft" bzw. die „Systemstabilisierung" ausgeht und inwieweit dieses zu einer Reproduktion sozialer Ungleichheit beiträgt. Die nachfolgenden Kapitel gehen auf diese Ausführung differenziert ein.
2.2 Zur Bildung
2.2.1 Bildungshistorischer Abriss
Historisch betrachtet kann nicht von einer neuzeitlichen „Erfindung" von Bildung gesprochen werden. Bildung als phänomenologisches Konstrukt, also als Beschreibung einer Erscheinung, besteht seit Menschengedenken. Infolge dessen, dass der Mensch aus sozialanthropologischer Perspektive nicht an eine bestimmte Umwelt gebunden und demnach nicht ohne den Eingriff in diese überlebensfähig ist, benötigt er ein Bewusstsein, welches ihm eine Umweltanpassung ermöglicht. Er entfaltet ein rationales Subjektvermögen, damit die gegebenen Naturmaterialien in Lebens- und Überlebensmittel umgewandelt werden können. Arbeit wird auch nach der hegelianischen Bildungstheorie zu einem wesentlichen Faktor, denn dadurch, dass der Mensch die Natur bearbeitet und sie so in menschliche Kultur umwandelt, erhebt er sich über die Natur und wird sich dadurch seiner selbst — als Nichtnatur, als Geisteswesen — bewusst" (Wehnes, 2001: 183). Diese Arbeit ist kein instinktgesteuerter, determinierter Entwicklungsgang, sondern eine bewusste bzw. bewusstseinskonstruierende gesellschaftliche Tätigkeit. Mit dieser Arbeit wird das eigene Überlebenskapital produziert und zeitgleich zur Reproduktion der Gesellschaft beigetragen. Diese Beschreibung trifft auf frühe Gesellschaftformen vor ca. 2000 Jahren ebenso zu, wie es in derzeitigen kapitalistischen und neoliberalen Industrienationen der Fall ist. Die Bildung eines Bewusstseins, welches den Menschen befähigt, sich an aktuelle Gegebenheiten anzupassen, ist Teil seiner genetischen Disposition. Diese zu übermitteln hilft bei der praktischen Organisation der Lebensverhältnisse und unterliegt einem gemeinschaftlichen Selbstnutzen. Hiermit zeigt sich, dass Bildung im evolutionären Prozess der Gattungsgeschichte stets eine Rolle gespielt hat, selbst wenn diese nicht weiter reflektiert wurde (Vgl. Berhard, 2001: 63). Im Gegensatz zur Bildung als konstitutivem Element, das sich zwar graduell in seiner Ausprägung geändert hat, nicht aber in seinem Fundament zur gesellschaftlichen Reproduktion, zeigt sich historisch eine fortlaufende Veränderung des Bildungsideals oder auch der Bildungstheorien. In diesen Vorstellungen unterliegt der Begriff „Bildung" bei seiner Bestimmung zwei ambivalenten Momenten: einem prozessualem und einem resultativem. Demnach kann Bildung zum einen als Ergebnis eines früher oder später endenden Prozesses, oder auch als Prozess selbst verstanden werden. Dem zweiten, prozessualen Moment wird sich im Kapitel 2.2.3 zugewendet. Im resultativem Moment ist Bildung „die durch Erfahrung und vielseitige Anstrengung erworbene individuelle Prägung im Denken, Fühlen und Handeln, die das Welt- und Selbstverständnis des Menschen bestimmt" (Koch, 1999: 78). Anhand dieser Beschreibung wird deutlich, dass die individuellen Erfahrungen und Anstrengungen höchst unterschiedlich sind und folglich jede Wirklichkeit („Welt- und Selbstverständnis des Menschen") lediglich ein Konstrukt dieser Personen bzw. Personengruppen bleibt. Daraus ergibt sich, dass, je nach Machtkonstellation und individueller Prägung der Hegemonie, die Ziele und Ergebnisse von Bildung bereits zuvor determiniert sind.
In der historischen Betrachtung ist diese resultative Bestimmung des Bildungsideals recht deutlich zu erkennen. Im Mittelalter (in der „Mystik") wurde Bildung bspw. als „Hinfiihrung zur Gottesähnlichkeit" (Schröder, 2001: 45) verstanden. Die Bedeutung des Bildungsbegriffs geht in dieser Epoche auf das biblische Verständnis der jüdisch-christlichen Denktradition „imago dei" zurück, der die „Gottesebenbildlichkeit des Menschen" paradigmatisch veranschaulicht. Der Mensch wurde von allem Kreatürlichen entbunden und sollte in Gott „wiedergebildetwerden", welches eine Formung aus eigener Kraft ausschloss. Bildung wurde hiermit als Wiedervereinigung mit Gott durch dessen göttliche Gnade aufgefasst (Vgl. Ehrenspeck, 2004: 66; Wehnes, 2001: 280f.; Schröder, 2001: 45). Erste, von theologisch-religiösen Kontexten losgelöste, Auffassungen finden sich in der Aufklärung, im Humanismus bzw. Neuhumanismus. Diese säkularisierten Formen beschreiben
- „Bildung als Kritikfähigkeit des Menschen (Aufklärung),
- Bildung als Verwirklichung der reinen Menschlichkeit (homo universale), des allseitig gebildeten freien Menschen (Humanismus),
- Bildung als Entfaltung der Individualität, der im Menschen in eigentümlicher Weise angelegten Fähigkeiten und Fertigkeiten (Neuhumanismus)" (Schroder, 2001: 45, vgl. Wehnes, 2001: 277ff.).
Solche Entwicklungen werden stets in ihrem gesellschaftsgeschichtlichen Gesamtzusammenhang betrachtet. So vollzog sich „in dieser Zeit auch die Emanzipation des Bürgertums, was in der Folge zu einem spezifischen Milieubegriff führte, dem sogenannten „Bildungsbürgertum" (Ehrenspeck, 2004: 66). Mit dieser aufstrebenden Kraft des 18. Jahrhunderts wurde Bildung zu einer aufstrebenden politischen Kraft. Die zuvor bestehende Fixierung der Bildung „auf die Statuszuweisung der Heranwachsenden im Rahmen der traditionellen Strukturen" wurde überwunden und „an ganz spezifische gesellschaftliche, politische und kulturelle Bedingungen geknüpft" (Bernhard, 2001: 63). Nach Kunert (1974: 50) formuliert der Terminus „Bildung" „die padagogische Inkarnation jener breiten gesellschaftlichen Befreiungsbewegung, die mit dem Entstehen des Bürgertums aus dem Feudalismus einsetzt.". Bildung wurde demnach zum zentralen Element, die einstmaligen konstitutiven Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse zu überwinden, um eine gerechte, d.h. alle Bürger betreffende und gleichberechtigte gesellschaftliche Ordnung zu konstruieren. Das ultimative Wissen der herrschenden Schichten wurde erstmals auf dem Prinzip der „Gleichheit unter den Menschen" in Frage gestellt und sollte mithilfe von Allgemeinbildung überwunden werden. „Das Subjekt wird zum alleinigen Motor seiner Geschichte, zum Beweggrund seiner Aktivitäten, zur verursachenden Initiative seiner Handlungen, und Bildung wird zur wichtigsten Potenz, dieses individuelle Subjektvermögen in der realen Praxis herzustellen." (Bernhard, 2001: 64). Diese „Selbstsetzung des Subjekts" (Koneffke, 1987: 133) befreit den Menschen von seinem, von Geburt an bestimmten und lebenslang festgelegten Platz im sozialen Geflecht der Gesellschaft. Ein Ideal, welches sich zwar in seiner Ausprägung maximiert hat, allerdings nie seinen Idealisierungsstatus ablegen konnte, da die Verhältnisse in ihrer historisch-chronologischen Abfolge bis in die heutigen Gesellschaftsformationen nicht vollständig überwunden wurden. Diese Arbeit wird in den folgenden Kapiteln empirische Belege dieser Hypothesen darlegen und versuchen, Ursachen und Theorien für dieses phänomenologische Konstrukt darzustellen.
2.2.2 Bildungstheorie nach Humboldt
Das in der Aufklärung aufkommende Verständnis von Bildung führte zu einem Wandel, welcher „nun der Vernunft und der Einsicht des Menschen dienen sollte" (Kuhlmann, 2008: 303). In Folge dessen entwickelte HUMBOLDT mit seiner neuhumanistisch geprägten Auffassung während der Klassik (gegen Ende des 18, Jahrhunderts) eine ideale Vorstellung von Bildung. Er kam zu dem Entschluss, Bildung sei „die Entfaltung aller Kräfte des Menschen zu einem Ganzen in Auseinandersetzung mit allen Bildungsgütern der Welt" (Kuhlmann, 2008: 303). Humboldt widerstrebte die gesellschaftliche Entwicklung, dass sich Bildung zunehmend instrumentalisierte und spezialisierte und sich resultierend eine Determination der menschlichen Natur vollzog. Die Entfaltung der vollen Menschlichkeit konnte nach Ansicht Humboldts nicht vonstatten gehen, wenn in den frühen Lebensjahren eines Menschen bereits die Weichen mittels spezialisierter Qualifikation für seinen beruflichen Werdegang gelegt werden. „Kritische Auseinandersetzung, nicht bloge Anpassung an Welt und Gesellschaft, Emanzipation zu persönlicher Freiheit und Eigengestaltung, nicht Reaktion und Determination sind das Ziel. Darum wird die frühe berufliche Spezialisierung verworfen, stattdessen möglichst für jeden Menschen eine anfängliche allgemeine Bildung gefordert, die dann Vorbildung für jeden Beruf und Grundlage sowohl für die individuelle Selbstentfaltung, als auch für eine verantwortliche Mitgestaltung der Welt sein kann [...]."
(Wehnes, 2001: 283). Ziel seiner Theorie war somit die „zweckfreie Vervollkommnung des Individuums durch die Aneignung eines spezifischen Besitzes an geistigen Kulturgütern" (Kuhlmann, 2008: 303). Eine allseitige harmonisch geformte Individualität wurde zur vordringlichsten Aufgabe des Bildungsprozesses. Humboldt legte mit diesem Ansatz den Grundstein für die bis heute zeitgemäße Elementar bzw. Grundbildung, die jedem als geistiges Fundament dienen soll, bevor eine berufliche Spezialisierung erfolgt.
Eine Kritik an diesem Modell soll an dieser Stelle anhand zweier Aspekte aufgezeigt werden. Zunachst nimmt er eine Wertung des Wissen vor, indem er darlegt, dass „Wissen über Literatur und Kunst eine hohe Bedeutung" habe, wahrend ein „Mangel an naturwissenschaftlichem Wissen [...] als lassliche Sünde" notiert wurde. Zwischenmenschlich-soziale, empathische Begabungen blieben schier unbeachtet, trotzdessen sich zeigt, dass Teamfähigkeit, Kontaktfreudigkeit und Einfühlungsvermögen wichtige Güter in einer differenzierten Gesellschaft sind. Daran ist zu erkennen, dass Humboldts Idee in ihrer Realisierung nie absolut zweckfrei war. Zudem war seine Bildungsauffassung nur an die Privilegierten des Bürgertums adressiert, die in den Institutionen der höheren Bildung den gesellschaftlich akzeptierten Habitus und die Titel erwarben, welche wiederum ihre Legitimation darstellte, gehobene gesellschaftliche Positionen einzunehmen. Die Elite blieb somit mit derselben Selbstverständlichkeit unter sich, wie Frauen von der Bildungsdiskussion ausgeschlossen wurden. Mit dieser Entwicklung zerfiel gleichsam auch der revolutionäre und emanzipative Charakter des Bildungsbegriffs aus der Aufklärung und glich wieder eher einer idealisierten Utopie, als einer realen Chancengleichheit der Menschen. „In dem Mage, in dem sich das Bürgertum etablierte und seine Hegemonie ausbaute, verfiel jedoch auch der emanzipative Anspruch seiner Bildungsphilosophie. Immer stärker wurde Bildung auf ihre Funktion als Qualifizierung für das von der Gesellschaft benötigte Arbeitsvermögen reduziert. Bildung, in den ursprünglichen bürgerlichen Bildungskonzeptionen für alle Gesellschaftsmitglieder ohne jede Ausnahme gedacht, wurde zunehmend zum Instrument der Selektion und der Allokation der Heranwachsenden." (Bernhard, 2001: 64).
2.2.3 Zur kontextbezogenen Bildungsbestimmung
Während in der Fachliteratur keine einheitliche Bestimmung des Bildungsbegriffes anzufinden ist, eher sogar die Meinungen zu diesem Terminus soweit auseinandergehen, dass die Versuchung besteht, ihn aufzuheben, wird im Folgenden eine kurze Ausführung zur verwendeten Begriffsbestimmung von Bildung stattfinden.
Da im Kapitel 2.1.3 ein idealisiertes Bild des erzieherischen Prozesses dargestellt wurde, stellt sich nun die Frage, welche Inhalte, Ziele und Erwartungen der Bildungsbegriff in Abgrenzung zum Erziehungsbegriff in sich birgt. Eine Trennung der Termini Bildung und Erziehung wurde in der traditionellen pädagogischen Fachliteratur oft angestrebt. Diese zielt jedoch zumeist auf eine Unterscheidung von „Gegenstand und Absicht" (Netzer, 1966: 16) ab. Eine solche Auffassung wird hier nicht geteilt. Wird Erziehung als „fremdbestimmte Ausrüstung des Menschen für vorab gegebene soziale Verhältnisse angesehen" (Bernhard, 2001: 65), dessen Intentionalität zwar nicht einer Subjekt-Objekt-Beziehung gleicht, wohl aber im kommunikativen Austausch der Beteiligten des Erziehungsprozesses zu einem Erschließen der gesellschaftlich gegebenen Horizonte führen soll, so geht Bildung darüber hinaus. Sie mündet „in die bewusste Freisetzung des heranwachsenden Subjekts", in „die geistige Erschliegung von Welt" (Bernhard, 2001: 65). Bildung endet demnach nicht am gegebenen Horizont, sondern versucht bspw. durch Wissenschaft und Forschung immer neue Landschaften zu erschließen. Bildung kann in diesem Zusammenhang nicht resultativ, sondern prozessual verstanden werden, wie im Kapitel 2.2.1 bereits angedeutet wurde. Im Laufe eines Lebens bleibt das „sich bilden" stets ein unaufhörlicher Vollzug von Wissensanreicherung. Bildung als perpetuierender Prozess in der Lebensbiografie wird in aktuellen Diskussionen unter den Stichworten „lebenslanges Lernen", „Bildungs-", „Wissens-oder auch „Fort- bzw. Weiterbildungsgesellschaft" von Seiten der Bundesregierung und der Landesregierungen zunehmend propagiert. Im hessischen Bildungs- und Erziehungsplan, der Ende 2007 publiziert wurde, heigt es exemplarisch: „Bildung und Lernen sind in einer Wissensgesellschaft ein offener, lebenslang andauernder Prozess. Lernen findet bis ins hohe Alter statt." (Hessisches Sozial- und Hessisches Kultusministerium, 2007: 24). Neben der allgemeinen Bildung in Grund- und den Sekundarstufen, der Berufsausbildung, den Weiterbildungsinstitutionen und den Volkshochschulen wird auch das Interesse am Erschließen der Welt und am Hinterfragen von scheinbar unantastbaren Gegebenheiten als Bildung anerkannt. Klafki (1996) sieht einen Menschen dann als gebildet an, wenn dieser in der Lage ist, „die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage zu stellen und er fähig ist, demokratisch zu kommunizieren" (Kuhlmann, 2008: 304). Hierzu wird der „Zusammenhang dreier Grundfähigkeiten" benötigt: „Fähigkeit zur Selbstbestimmung", „Mitbestimmungsfähigkeit" und „Solidaritätsfähigkeit" (Klafki, 1996: 52). Im selben Kontext beschreibt Schröder (2001: 45) Bildung als eine Synthese aus „ Individuation, Enkulturation und Sozialisation". Sie ist also, so wird an dieser Stelle festgehalten, eine Auseinandersetzung mit kulturellen Gehalten ohne den Zwang, sich in ein solches Muster einpassen zu müssen. Es handelt sich um eine Aufhebung der „Fixierung auf unsere unmittelbare Lebens- und Alltagswelt", indem durch „die bewusste Weiterentwicklung der Persönlichkeit" in ein „aktives geistiges Verhältnis zu den uns umgebenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen" (Bernhard, 2001: 65) getreten wird. Die vordringlichste Bestimmung allgemeiner Bildung im Sinne von Vorbildung, vor der berufsspezifischen Ausbildung, denn um diese soll es in dieser Arbeit vornehmlich gehen, wenn eine kritische Auseinandersetzung mit dem Schulbildungssystem erfolgt, ist die Reduktion von Bildungszielen. Wie kann es „selbstbewusste Subjekte", eine „zweckfreie Vervollkommnung" oder eine freie „geistige Erschliegung von Welt" geben, wenn fremdbestimmte Bildungsziele von Politik oder Wirtschaft, die Bildungslandschaft bzw. deren Didaktik und Curricula tangieren und konstruieren oder gar deren Ideale von gleichen Bildungschancen torpedieren? Über die Verflechtungen des Bildungssystems und die Intentionalität institutioneller Bildung wird en den Kapiteln 4 und 5 Bezug genommen.
2.3 Zur definitorischen Bestimmung sozialer Ungleichheit
Da in dieser Arbeit die Ursachen und Folgen sozialer Ungleichheit im und durch das Bildungssystem aufgearbeitet werden sollen und Bezug auf den Zusammenhang von Bildungsarmut und ökonomischem Status genommen werden soll, erfolgt im Anschluss eine Definition „sozialer Ungleichheit".
Soziale Ungleichheit impliziert eine Idealvorstellung von Gleichheit unter den Menschen, die bis auf die athenische Demokratie bei Aristoteles und die Philosophie Platons zurückzuführen ist, auch wenn diese sich inhaltlich aufgrund der gegebenen Machtverhältnisse unterschied (Vgl. Uhle, 2005). Der später daraus abgeleitete Begriff beschreibt die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetzt. Diese Gleichheit bedeutet nicht, dass jedes Individuum gleich ist und auch nicht immer absolut gleich behandelt werden kann oder muss, auch wenn dieses im Grundgesetzt der Bundesrepublik Art. X derart beschrieben wird, sondern dass dort, wo gleiche Interessen und Bedürfnisse bestehen, das universalistische Recht auch eine Gleichbehandlung vollzieht. In diesem Punkt setzen verschiedene idealistische, emanzipative Bewegungen, wie bspw. der Feminismus, der Antirassismus und auch die Tierrechtsbewegung unter dem wissenschaftlichen, von Singer (1996 [1975]) geprägten Begriff des Antispeziesismus an.
2.3.1 Rousseaus Verständnis von Ungleichheit
Das schon in der Antike formulierte Verständnis wurde in der Aufklärung von Rousseau in seinem philosophisch-politischen Werk „Abhandlung über den Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen" (Rousseau, 1998) im Jahr 1755 rezipiert. Unter diesem Titel stellte er die Menschen in der modernen spezialisierten Gesellschaft dar und beschrieb das Wesen des Menschen als „von Natur aus gut" mit der Forderung nach der Wiederherstellung der natürlichen Rechtsgleichheit. Dieser Gedanke wurde von der Französischen Revolution später aufgegriffen und im Grundsatz der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit umgesetzt. Um diese Erkenntnis zu erhalten, musste Rousseau zunächst den Urzustand des Menschen, ein sog. „Paradies" oder ein „goldenes Zeitalter" erkunden und einen „Urvertrag", einen sog. Gesellschaftsvertrag der Menschheit entstehen lassen. Er sieht die Natur als „Quelle der Erkenntnis" und bezeichnet sie als reine Natur, die niemals lügt (Vgl. Engelke, 1998: 58f.). Er stützt sich dabei nicht auf historische Wahrheiten oder Empirie, sondern auf eigene Erkenntnisse als bedingte und hypothetische Vernunftschlüsse. Rousseau erinnert mit seiner Schrift an ursprüngliche Werte, wie menschliche Freiheit und Unschuld, fordert jedoch nicht den Schritt „Zurück zur Natur". Um den Wert der menschlichen Freiheit aufgreifen zu können, bedarf es der Feststellung von menschlicher Ungleichheit. Hier unterscheidet er zwei Arten:
1. „...die eine, die ich natiirlich oder physisch nenne, weil sie durch die Natur begriindet wird, und die im Unterschied des Lebensalters, der Gesundheit, der Kräfte des Körpers und der Eigenschaften de s Geistes oder der Seele besteht..." (Engelke, 1998: 58)
2. „...und die andere, die man moralische oder politische Ungleichheit nennen kann, weil sie von einer Art Konvention abhängt und durch die Zustimmung der Menschen begründet oder zumindest autorisiert wird. Die letztere besteht in den unterschiedlichen Privilegien, die einige zum Nachteil der anderen genießen — wie reicher, geehrter, mächtiger als sie zu sein oder sich sogar Gehorsamkeit bei ihnen zu verschaffen" (Engelke, 1998: 58f.)
Der erste Zustand beschreibt die biologische Ungleichheit, welche objektiv bedingt, naturgegeben und somit determiniert ist. Da dieses irreversible Gegebenheiten sind, wie z.B. das Geschlecht, die Hautfarbe und das Alter, geht Rousseau der zweiten Art von Ungleichheit nach. Diese Form kann auch als soziale Ungleichheit aufgefasst werden, da im konstruktivistischen Sinne auf Wirklichkeitsbeschreibungen zurückzuführen ist, die im Resultat gesellschaftliche Phänomene und Entwicklungen konstituieren, welche wiederum durch Eingriffe steuerbar sind. Rousseau kam zu dem Entschluss, dass die Genese des beschriebenen Übels auf die Vergesellschaftung zurückzuführen ist. Da eine hohe quantitative Vergesellschaftung ohne die „Sesshaftwerdung" nicht möglich ist, sieht er den Ursprung der Ungleichheiten in der Bildung von Besitz, welche die Menschheit in arm und reich aufteilte. Dieses sei die Entstehung des ersten Unheils.
„Der erste, der ein Stiick Land eingez d unt hatte und es sich einfallen liej3 zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wie viel Not und Elend und wie viele Schrecken hätte derjenige dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen oder den Graben zugeschüttet und seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ´Hütet euch, auf diesen Betrüger zu hören; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören und die Erde niemandem.´ " (Engelke, 1998: 59f.)
Die Menschen mit vielen Besitztümern verbündeten sich gegen die Armen und erließen Gesetze, die den Erhalt ihrer Privilegien schützen und unterstreichen sollten. In der Hinnahme dieser rechtlichen Fesseln sah er die zweite Form des Übels, welches er auch die Entstehung von Herrschenden und Beherrschten nannte.
Das dritte und letzte Übel verstand Jean-Jacques Rousseau darin, dass die Herrschaft der Reichen in eine Willkürherrschaft umschwenkte, die von den Armen widerstandslos hingenommen wurde. Er sieht keine Natürlichkeit im materiellen Überfluss der Herrschenden und der absoluten Verarmung der beherrschten Menschen, der Sklaven, und fordert daher eine Rückbesinnung auf die Natur der Dinge (Vgl. Engelke, 1998: 58f.). Rousseau war demnach einer der ersten Vertreter, der sich von einer natürlichen oder auch gottgegebenen sozialen Ungleichheit distanzierte und der die Ansicht vertrat, an diesen sozialstrukturellen Verhältnissen etwas umformen zu müssen.
2.3.2 Zum Phänomen sozialer Ungleichheit in der Gegenwart (nach Hradil)
Nach Hradil (2006: 206ff.) besteht soziale Ungleichheit ebenso lange, wie es das Zusammenleben in der Gemeinschaft gibt. „Wo und wann immer Menschen zusammenlebten und —arbeiteten, waren bestimmte Menschen besser als andere gestellt. (Hradil, 2006: 206)". Wie sich bei Rousseau gezeigt hat, bestand jedoch nicht immer ein Bewusstsein darüber, dass dieses keine natur- oder gottgegebenen, sondern sozial konstruierte Verhältnisse sind. Diese „Idee von der prinzipiellen Gleichheit aller Menschen" hatte „sich erst vom Zeitalter der Aufklärung an verbreitet." (Hradil, 2006: 207). Soziale Ungleichheit ist demnach ein Begriff, der als Resultat gesellschaftlicher Modernisierung entstanden ist.
„Als soziale Ungleichheit bezeichnet man bestimmte vorteilhafte und nachhaltige Lebensbedingungen von Menschen, die ihnen aufgrund ihrer Positionen in gesellschaftlichen Beziehungsgefügen zukommen." (Hradil, 2006: 206). Was jedoch sind vorteilhafte bzw. unvorteilhafte Lebensbedingungen?
1. Die Lebensbedingungen müssen zunächst einen gesellschaftlichen Wert darstellen, der aufgrund seines geringen Bestands als ein eingeschränktes und demnach ersehnenswertes Gut gilt. Solche Güter sind in modernen Gesellschaftsformationen bspw. das Einkommen oder der hohe Status bestimmter Berufsgruppen, welche zumeist korrelieren. Diese definieren sich sowohl über materielle Erscheinungen wie das Kapital, als auch über scheinbar immaterielle Güter wie Bildung, Habitus und Sozialkontakte. Dass dieses jedoch nicht derart scharf zu trennen ist, bzw. dass unübersehbare Relationen zwischen diesen Polen bestehen, zeigt die im Kapitel 4.2 aufgezeigte Habitustheorie Pierre Bourdieus.
2. Wenn diese Güter sehr begehrt sind, so setzt dieses voraus, dass sie nicht für jeden Bürger frei und uneingeschränkt zugänglich sind: sie sind also ungleich verteilt. Die Verteilung spielt so eine weitere entscheidende Rolle bei der Beschreibung gesellschaftlicher Vor- und Nachteile. Demzufolge muss die ungleiche Verteilung des Einkommens trotz gleicher Arbeitsleistung bei Männern und Frauen als soziale Ungleichheit angesehen werden. Weitere Beispiele sind fortbestehenden Lohnunterschiede in den alten und neuen Bundesländern oder auch die ungleiche Einkommensverteilung des volkswirtschaftlich erwirtschafteten Kapitals (siehe Anhang 1). Hingegen besteht ein breiter Konsens in der Gesellschaft darüber, dass es dennoch Verteilungen, z.B. anhand berufsbedingter Verantwortung geben muss, die die unterschiedlichen Tariflohnabstande zwischen einer „Arztina and einer „Krankenschwester" legitimieren. Dieses wird von dem überwiegenden Teil der Gesellschaft als legitim und somit gerecht empfunden.
3. Als letzte Voraussetzung für un-/vorteilhafte Lebensbedingungen eines Positionsträgers ist die Zufälligkeit bzw. dessen Antonym, die Systematik und Reproduktion dieser Bedingungen. Zeigen sich Vorteile oder Nachteile, die objektiv zufälligen Typus (Lottogewinn, Hausbrand) oder individueller sowie natürlicher Art (Erbkrankheiten) sind, so weisen sie keine soziologische Relevanz auf, die Generalisierungen und Kategorisierungen für definierbare Zusammenhänge sozialer Ungleichheit ermöglichen (Vgl. Hradil, 2006: 207).
So kommt Hradil (2006: 207) zu einer spezifizierten Definition sozialer Ungleichheit:
„Als soziale Ungleichheit bezeichnet man (1) wertvolle, (2) nicht absolut gleich und (3) systematisch aufgrund von Positionen in gesellschaftlichen Beziehungsgefügen verteilte, vorteilhafte bzw. nachteilige Lebensbedingungen von Menschen.".
Eine Unterscheidung sozialer Ungleichheit liegt in der Verteilungs- und der Chancenungleichheit. Die Verteilungsungleichheit kann als phänomenologische Ausprägung verstanden werden, bei der auf die Existenz von gesellschaftlichen, vor- oder nachteiligen Gegebenheiten (Verteilung von Bildungsabschlüssen und resultierende Anzahl von Akademikern, Qualifizierten und Ungelernten) verwiesen wird (Vgl. Hradil, 2006: 207). „Als „C hancenungleichheit " wird dagegen die über- oder unterdurchschnittliche Chance bestimmter Bevölkerungsgruppen (z.B. von ausländischen Jugendlichen oder von Mädchen) bezeichnet, Vor- bzw. Nachteile (z.B. höhere Bildungsabschliisse) zu erlangen." (Hradil, 2006: 207f.). Im Folgenden wird sie als prädestinierte Ausprägung des Ungleichheitsbegriffs bezeichnet.
Als letzte Konkretisierung sozialer Ungleichheit sollen nachstehend die verschiedenen Strukturebenen nach Hradil (2006: 208) dargestellt werden:
- Ursachen sozialer Ungleichheit: Sie sind die Wurzeln von Produktion und Reproduktion der Strukturen sozialer Ungleichheit. Auf diese Strukturebene wird im Folgenden besonders stark Bezug genommen, indem das Entstehen und Fortbestehen von Unterschieden in Bildungsprozessen fokussiert wird.
- Determinanten sozialer Ungleichheit: Hierbei handelt es sich um Faktoren, die einen Fortbestand von sozialer Ungleichheit in bestimmten Bevölkerungsgruppen wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen. Mögliche Analysekriterien können Beruf, Alter, Geschlecht oder die regionalen Bezüge sein.
- Dimensionen sozialer Ungleichheit: Diese Strukturebene bezieht sich auf die Typisierung des Begriffs. In der Vergangenheit stellten „Vor- und Nachteile wirtschaftlicher Art, des Ansehens und der Macht" (Hradil, 2006: 208) die klassischen Dimensionen dar. In neuzeitlichen Gesellschaften nimmt „Bildung" jedoch derart zentrale Rolle ein, dass sie als vierte Grunddimension angesehen werden kann.
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- Arbeit zitieren
- Norman Böttcher (Autor:in), 2009, Über die Produktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungswesen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/137121