State Building nach Interventionen hat spätestens durch die Kriege in Afghanistan und im Irak als Konzept wieder an Bedeutung gewonnen. Der Autor argumentiert, dass dem Polizeiaufbau dabei eine zentrale Rolle zukommt. Des Weiteren wird verdeutlicht, dass die Polizei in eine kohärente Strategie eingebunden sein muss. Dazu gehört sowohl die militärische Sicherung des staatlichen Territoriums während der Transitionsphase, als auch eine sinnvoll strukturierte Sicherheitssektor-Reform.
Anhand des Beispiels Afghanistans wird aufgezeigt, dass die Probleme in der Theorie zwar sowohl in den USA als auch in Deutschland in Grundzügen erkannt sind. Es wird allerdings deutlich, dass in der Umsetzung sowohl organisatorische Fehler als auch ein zu geringer Ressourcen-Ansatz Erfolge beim Aufbau der Afghan National Police verhindern. Zudem macht die Thesis auf Schwierigkeiten aufmerksam, die sich aus der Kultur des betroffenen Landes ergeben.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Failed States
3 State Building
3.1 Funktionen des Staates
3.2 Relevante Externe Akteure
3.3 State Building in „failed states“
4 Polizeiaufbau im Rahmen des State Building
4.1 Aufbau des Sicherheitssektors
4.2 Polizeiaufbau durch externe Akteure
4.3 Zwischenfazit: Die Rolle des Polizeiaufbaus State Building durch externe Akteure
5 Afghanistan
5.1 State Building durch die Internationale Gemeinschaft
5.2 Aufbau der Afghan National Police
5.3 Ergebnisse des Polizeiaufbaus
6 Fazit
7 Literatur
1 Einleitung
Die Thematik des State Building durch externe Akteure ist nicht neu. Das bekannteste historische Beispiel ist der Wiederaufstieg Deutschlands und Japans nach dem 2. Weltkrieg mit Hilfe der USA. Auch heute noch müssen sich Aufbauvorhaben an diesen Staaten messen lassen, Die Chancen, in einem anderen Land ein politisches System erfolgreich aufzubauen, sind jedoch nur dann richtig einzuschätzen, wenn man das Problem abstrakt angeht. Eine schlichte Übertragung des Vorgehens bspw. der USA nach der Kapitulation Deutschlands auf Afghanistan oder den Irak erscheint nicht erfolgversprechend.
Der Aufbau eines Staatswesens durch externe Akteure im unsicheren Umfeld eines failed states stellt eine gro1e Herausforderung dar. Um erfolgreich zu sein, müssen sowohl militärische als auch zivile Kräfte gebündelt werden. Die Aufgabe des ausländischen Militärs besteht vor allem in der Gewährleistung der Sicherheit der Bevölkerung, so lange der neue Staat dazu noch nicht in der Lage ist. Die zivilen Kräfte müssen das politische System, die Administration und damit auch die Polizeikräfte aufbauen und unterstützen. Einheimischen Sicherheitskräften kommt eine Schlüsselrolle im State Building -Prozess zu. Können sie den Schutz der Bevölkerung garantieren, legen sie den Grundstein für das Vertrauen in das neue System. Je eher dieser Punkt erreicht ist, desto geringer werden die Kosten, die der externe Akteur zu tragen hat.
Diese Arbeit wird sich mit der Frage beschäftigen, welche Rolle dem Polizeiaufbau beim heutigen State Building durch externe Akteure zukommt. Hierzu werde ich zunächst auf die Problematik schwacher und zerfallender Staatlichkeit eingehen. Danach werde ich das Konzept des State Building und die Möglichkeiten externer Akteure darstellen. Anschlie1end werde ich die Rolle der Polizei im Gesamtkontext des Prozesses untersuchen. Dabei soll es sowohl um die Aufgaben des Polizeiwesens im neuen Staat gehen, als auch um die Frage, welchen Herausforderungen sich die beteiligten externen Akteure stellen müssen. Damit leite ich über zum empirischen Teil der Arbeit: Ich werde darstellen, wie die Internationale Gemeinschaft den afghanischen Staat und vor allem die neue Polizei aufbauen. Dazu müssen zunächst die spezifischen afghanischen Verhältnisse in Betracht gezogen werden. Im Anschluss folgt eine Analyse zunächst des Staatsaufbaus selbst, und danach der afghanischen Polizei im Speziellen. Hierbei gilt es herauszufinden, ob die Internationale Gemeinschaft die Rolle des Polizeiwesens erkannt hat und ob die Umsetzung erfolgreich war.
2 Failed States
Failed States werden erst seit einigen Jahren als Problem identifiziert. Historisch betrachtet waren Staaten sogar über eine lange Periode meistens „schwach“. Als Hauptaufgabe des Staates wurde die Verteidigung nach au1en (gegen andere Staaten) betrachtet, und weniger die Fähigkeit, bestimmte öffentliche Güter wie Rechtssicherheit oder soziale Sicherheit bereit zu stellen (vgl. Robinson 2007: 4f).
Der Staat wurde mit dem Ende des Kolonialismus zum weltweit flächendeckenden Herrschaftsprinzip. Damit schien die Vorstellung eines globalen, internationalen Systems aus gleichartigen Nationalstaaten verwirklicht. Doch spätestens seit dem Ende des Kalten Krieges zeigte sich, dass viele Länder Asiens und Afrikas nur dem Namen nach Staaten waren. Die schwachen Staaten des Kalten Krieges wurden von den Blockparteien durch äu1ere Unterstützung am Leben gehalten. Der Zusammenbruch eines „Verbündeten“ im Kampf der Ideen erschien beiden Seiten als zu riskant. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts lie1 das Interesse der Gro1mächte nach und schwache Staaten wie Somalia oder Afghanistan glitten in den Bürgerkrieg ab (vgl. Robinson 2007: 4-8).
Unterschieden wird generell zwischen schwachen Staaten, die gewisse öffentliche Güter nicht bereitstellen können, und gescheiterten (failed) Staaten, in denen keine Staatsgewalt mehr auf dem eigentlichen Staatsgebiet herrscht (vgl. Nuscheler 2006: 408). Eine scharfe Unterscheidung beider Typen ist kaum möglich, die Übergänge sind flie1end. Diese fehlenden objektiven Kriterien begünstigen Interventionen durch externe Akteure, wenn diese den Zerfall eines Staates fürchten (vgl. Robinson 2007: 9f). Durch schwache Staatlichkeit entsteht häufig ein komplexes Problemgeflecht. Da bspw. kein funktionierendes Polizei- und Justizwesen vorhanden ist, können kaum Steuern eingetrieben werden, weil sich das Recht nicht durchsetzen lässt. Der Mangel an Staatseinnahmen führt wiederum dazu, dass die Angestellten des öffentlichen Dienstes unterfinanziert sind und ihre Aufgaben nicht ausreichend wahrnehmen können. (vgl. Nuscheler 2006: 408f)
Eine wirklich intensive Auseinandersetzung mit den schwachen und gescheiterten Staaten erfolgte erst, als klar wurde, dass das Problem sicherheitspolitische Relevanz besitzt. Die Folgen können so offensichtlich sein wie bei den Anschlägen vom 11. September 2001. Terror-Organisationen können schwache Staaten als Plattform und Rückzugsgebiet nutzen, um von dort aus aktiv zu werden (vgl. Robinson 2007: 1). Ein anderes Beispiel sind die Balkan-Kriege der 1990er, bei denen unter anderem die Furcht vor Flüchtlingswellen die Europäer zum Handeln veranlasste. Aber die sicherheitspolitischen Folgen können auch subtiler sein. Schwache Staaten sind die geeigneten Räume für unpolitische kriminelle Netzwerke, um sich auszubreiten und zu stabilisieren (vgl. Ghani, Lockhart 2008: 23f). Bekannte Beispiele dafür sind die Drogenwirtschaft in Afghanistan, aber auch das Kosovo als Drehscheibe der Geldwäsche, des Menschen- und Drogenhandels, und in dieser Funktion als ein unrühmliches Bindeglied zwischen Europa und Asien (vgl. Weltoche 2008). Unter dem Eindruck der zunehmenden Sicherheitsrelevanz zerfallender oder fehlender Staatlichkeit sowie dem Ende des Kalten Krieges änderte sich auch die strategische Ausrichtung der USA und ihrer Verbündeten. Die NATO formulierte bspw. schon 1999 eine entsprechende Strategie, der sie als sicherheitspolitische Herausforderung auch den Zerfall von Staaten und dessen Begleiterscheinungen nennt:
„ Ethnic and religious rivalries, territorial disputes, inadequate or failed efforts at reform, the abuse of human rights, and the dissolution of states can lead to local and even regional instability. “ (NATO 1999: II.20).
3 State Building
Im Zuge dieser Arbeit wird der Begriff State Building in deutlicher Abgrenzung zum Nation Building verwendet. Zwar werden beide Begrifflichkeiten in der öffentlichen Debatte häufig synonym gebraucht, doch gibt es in der Wissenschaft schon seit langem eine klare Differenzierung (vgl. Tilly 1975: 70f). Die Nation ist etwas anderes als der Staat. Nation bedeutet vor allem eine gemeinsame Identität der Bevölkerung durch Geschichte, Normen und Werte und ist nicht zwangsläufig an einen Staat gekoppelt. Dies aufzubauen übersteigt sicherlich die Fähigkeiten eines externen Akteurs, zumindest in zeitlich überschaubaren Dimensionen. Der Staat zeichnet sich jedoch vor allem durch seine Institutionen aus. Der Aufbau bspw. einer Verwaltung oder, als Teil dessen, eben einer Polizei bedarf damit nicht zwangsläufig der Schaffung einer historischen Identität (Fukuyama 2005: 134f).
State Building kann in einem sehr weit gefassten Sinne als Aufbau neuer und Stärkung existierender Regierungsinstitutionen verstanden werden (vgl. Fukuyama 2004: 17). Da es keine allgemeingültige Definition des Begriffs gibt, ist unklar, ob er immer den Staatsaufbau durch externe Akteure bezeichnet oder auch die Möglichkeit impliziert, dass Gesellschaften ihre eigenen Staaten (wieder-)aufbauen. Externe Akteure könnten demnach auch schwache Staaten bei diesem Prozess unterstützen, ohne selbst die Hauptlast übernehmen zu müssen. Auch die Trennung zwischen der Förderung guter Regierungsführung (Good Governance) und State Building ist unscharf, da beide Vorgänge ineinander übergehen können (vgl. Fritz; Menocal 2007: 13f).
Zudem muss auch hervorgehoben werden, dass State Building nicht als linearer Prozess verstanden werden darf. Historisch betrachtet war bspw. die Staatenbildung in Europa immer wieder von Phasen der Stagnation oder des Rückgangs geprägt (vgl. Tilly 1975: 34f). Insofern ist der Staatsaufbau für einen externen Akteur ein sehr ambitioniertes Unterfangen, bedenkt man dass es sich dabei quasi um die Beschleunigung und Verstetigung eines sonst langwierigen und wenig planvollen Vorganges handelt. In der Geschichte zeigt sich auch, dass „Staatenbauer“ in der Regel nicht auf einen herrschaftsfreien Raum treffen, sondern müssen die neue Ordnung gegen eine wie auch immer geartetes Machtgefüge durchsetzen. Deswegen zeichnete sich auch die Staatenformation in Europa durch ein hohes Maß an Gewalt und immense Kosten aus (ebd.: 71ff).
In dieser Arbeit soll State Building in Anlehnung an Fukuyamas Definition den Prozess des Aufbaus stabiler staatlicher Institutionen bezeichnen.
3.1 Funktionen des Staates
Über die Grundfunktionen des Staates gibt es viele verschiedene Auffassungen. Von vielen Autoren werden heutzutage zu diesen Funktionen ein institutioneller Rahmen für Marktwirtschaft, eine effektive Verwaltung oder die Ermöglichung eines gewissen Bildungsstandards für die gesamte Bevölkerung dazu gezählt (vgl. Ghani, Lockhart 2008: 124-162). Andere Experten argumentieren wiederum, dass ein Hauptgrund für die Schwäche vieler Entwicklungsländer der sehr breite Fokus ihre Staatlichkeit ist. Dadurch, dass der Staat für alles zuständig und gleichzeitig chronisch unterfinanziert sei, würde er ineffizient und könne seinen Bürgern basale öffentliche Güter nicht mehr zur Verfügung stellen (Fukuyama 2005: 9-27).
Relative Einigkeit herrscht jedoch darüber, dass der Staat sich über das Monopol legitimer physischer Gewaltanwendung auf einem bestimmten Territorium definiert (vgl. Zippelius 2003: 58f; Fukuyama 2005: 8; Ghani, Lockhart 2008: 116f). Diese Bestimmung geht zwar auf Max Weber zurück, doch schon die ersten modernen Staatstheorien definierten politische Herrschaft vor allem über die Monopolisierung der Gewalt in den Händen des Herrschenden. Hobbes' Gesellschaftsvertragstheorie ging davon aus, dass Menschen in ihrem Naturzustand in permanenter Unsicherheit leben. Da jeder gegen jeden Gewalt anwenden könnte, verwenden die Menschen viele Ressourcen auf die Verteidigung ihres Lebens und ihres Besitzes. Nach moderner (spieltheoretischer) Lesart handelt es sich also um ein Sicherheitsdilemma, das nach Hobbes nur ein Leviathan auflösen kann. Dem Herrscher, oder eben „dem Staat“, wird das Monopol auf Gewaltanwendung zugesichert, um die Sicherheit der Untertanen zu garantieren (vgl. Behr 2003: 180). In diesem Ansatz ist jedoch von einer Begrenzung der Macht noch keine Rede, die Legitimität des Staates entsteht schlicht aus dem Machtmonopol als solchem (ebd. 180f).
In moderneren Ansätzen rückt an die Stelle des Leviathans die „Herrschaft des Rechts“, bei der staatliche Macht durch Gesetze beschränkt ist. Diese Kombination aus Macht und Recht ermöglicht den Bürgern ein friedliches Zusammenleben und schützt sie gleichzeitig vor staatlicher Willkür. Gesetze erlangen ihre normative Wirksamkeit vor allem dadurch, dass ein Gesetzesverstoß auch durch die Staatsgewalt sanktioniert wird. Diese Sanktionen müssen auch gegen den Willen des Sanktionierten, also notfalls mit Gewalt, durchgesetzt werden können. Diese latente Gewaltandrohung durch den Staat erhöht die Chancen, dass sich alle Bürger an bestimmte Normen halten (Zippelius 2003: 58ff). Die Garantie des Staates, Recht notfalls auch mit Gewalt, durchzusetzen, erlaubt den Bürgern stabile Erwartungen zu entwickeln. Dabei geht es nicht nur darum, Gewalt in der Gesellschaft zu vermeiden. Die Rechtssicherheit ermöglicht erst effizientes wirtschaftliches Handeln, das wiederum die Grundlage von Entwicklung darstellt. Durch eine funktionierende Staatsgewalt ergeben sich daher auch Vorteile, die man in Europa heute für selbstverständlich hält. Bewegungsfreiheit der Bürger ist ein anschauliches Beispiel: In schwachen Staaten wie Afghanistan ist es heute noch üblich, dass bewaffnete Gruppen Checkpoints an wichtigen Straßen aufstellen und „Binnenzölle“ erheben (vgl. Ghani, Lockart 2008: 128-131).
Die Frage, wie ein Gewaltmonopol legitimiert werden kann ist theoretisch nicht abschließend geklärt. In weiten Teilen der Welt wird sie jedoch für gewöhnlich mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit beantwortet (vgl. Fritz, Menocal 2007: 12f). Die Tatsache, dass sich die überwiegende Zahl der Staaten als demokratisch bezeichnet, um Legitimation nach innen und außen zu erfahren, unterstreicht diese Entwicklung. Entscheidend für den weiteren Verlauf der Arbeit ist daher, dass besonders in westlichen Gesellschaften State Building nur dann als legitim empfunden wird, wenn es dem Aufbau eines demokratischen Rechtsstaat dient (Fukuyama 2005: 34ff). Daher wird der Aufbau autoritärer staatlicher Strukturen keine Rolle spielen. Wie ich später zeigen werde, hat dies auch einen signifikanten Einfluss auf das Verständnis der Aufgaben der Polizei.
Historisch betrachtet versuchten schon im ausgehenden Mittelalter Fürsten in Europa die Gewalt auf einem bestimmten Territorium zu monopolisieren, in dem sie dieses Vorrecht den Ständen oder dem Kaiser abtrotzten (vgl. Zippelius 2003: 62f). Doch zu dieser Zeit gab es noch nicht die heutige Trennung zwischen Militär und Polizei, also den zur Gewaltanwendung legitimierten Organisation nach Außen und Innen (vgl. Reinhard 2002: 364). Das Militär ist in seiner reinen Form beim innerstaatlichen Einsatz auf die Reaktion beschränkt, vor allem wenn kein stehendes Heer zur Verfügung steht, und kann auch wenig gezielt eingesetzt werden, um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten. Im Gegensatz zu einer Armee ist die Polizei ständig vor Ort und kann Konflikte präventiv behandeln. Zudem haben Soldaten in der Regel keine genaue Kenntnis über die Gesetze oder besondere investigative Fähigkeiten. Die ersten Vertreter einer „Policey“ waren daher auch nicht bewaffnete Sicherheitskräfte, sondern viel mehr Ordnungskraft, Streitschlichter und Richter in einer Person (ebd.: 363-369). In Europa entwickelten sich zwischen dem 17. (Frankreich) und 19. Jahrhundert (England, Preußen) die Grundlagen des Polizeiwesens, wie sie unserem modernen Verständnis entsprechen. Im Verlauf der Geschichte zeigten diese Systeme zudem ein hohes Maß an Kontinuität (vgl. Bayley 1975: 342ff). Dabei traf die Etablierung der Polizei als einziger Organisation, die zur Gewaltanwendung legitimiert war, fast durchgehend auf gewalttätigen Widerstand (ebd. 378).
3.2 Relevante Externe Akteure
Es gibt verschiedene externe Akteure, die den State Building -Prozess begleiten oder durchführen können. Dazu zählen zunächst einmal die Staaten. Da für das State Building in schwachen bzw. Postkonflikt-Staaten häufig eine Sicherung des Wiederaufbaus notwendig ist, sind andere Staaten mit ihren Armeen zumeist die wichtigsten externen Akteure.
Internationale Organisationen sind ein weiterer wichtiger externer Akteur (vgl. Dobbins et al. 2007 63f). Im Kosovo richteten die Vereinten Nationen bspw. durch die Sicherheitsrats-Resolution 1244 ein Protektorat ein. Dem Sonderbeauftragen der United Nations Interim Administration Mission in Kosovo (UNMIK) wurden enorme Kompetenzen eingeräumt, so dass er sogar gewählte Volksvertreter aus ihrem Amt entfernen konnte (Hehir 2007: 126ff). In anderen Konstellationen, z.B. in Afghanistan, stellen Organisationen wie die NATO lediglich das Koordinationszentrum für die beteiligten Staaten dar, die ihrerseits jedoch die handelnden Akteure waren (vgl. Rashid 2008: 351-354). Die EU profiliert sich in diesem Zusammenhang mehr und mehr als internationale Institution, die unter Umständen erheblich Ressourcen für den Wiederaufbau von Staaten mobilisieren kann. Dies zeigt sich vor allem bei den Missionen auf dem Balkan, zuletzt bspw. bei der EULEX im Kosovo zur Herstellung von Rechtsstaatlichkeit (vgl. EULEX Kosovo 2009).
Den letzten wichtigen externen Akteur stellen die Non-Governmental Organisations (NGOs) dar. Ihre Rolle hat in den vergangenen Jahrzehnten deutlich zugenommen. NGOs können besonders auf der lokalen Ebene als Mittler zwischen internationalen Geldgebern und der Bevölkerung agieren. Allerdings gibt es auch eine sehr problematische Komponente im Verhältnis der Nichtregierungs-Organisationen zum State Building. Häufig übernehmen NGOs Aufgaben, die eigentlich dem neu geschaffenen Staat zufallen sollten, und untergraben den Aufbau entsprechender Kapazitäten. Gerade Hilfsorganisationen tendieren dazu, die Hilfe selbst direkt an die Bevölkerung vor Ort zu geben, anstatt der neuen Regierung ihre Ressourcen zur Verfügung zu stellen (vgl. Ghani; Lockhart 2008: 107-112). Die gewichtigste Rolle aller NGOs spielen beim Polizeiaufbau private Sicherheitsdienste, die mit Ausbildungsaufgaben beauftragt werden (vgl. Rashid 2008: 205f).
Externe Akteure, die in einem anderen Staat eine neue politische Ordnung aufbauen wollen, müssen, neben einigen anderen Grundfunktionen, ein Gewaltmonopol errichten. Dazu müssen einheimische Sicherheitskräfte trainiert und ausgebildet werden (Fair, Jones 2009: 2f). Der Aufbau der Polizei kann sich dabei als komplexer erweisen, denn die Arbeit der Polizisten ist sehr vielseitig und verlangt mehr als nur den sicheren Umgang mit einer Waffe. Polizisten müssen das Gesetz kennen und Gewalt sehr gezielt und vorsichtig anwenden. Zwar ist der Kern der Polizeiarbeit die Anwendung von Gewalt (vgl. Behr 2003: 185), doch wenn das Polizei- und Justizwesen gut funktionieren, bleibt die Gewaltkomponente für gewöhnlich latent (ebd.: 181). Im Idealfall steht der präventive und vermittelnde Gedanke im Vordergrund.
Wie in allen anderen Bereichen des State Building muss das Ziel des Aufbaus der Sicherheitskräfte sein, dass der neue Staat ohne externe Hilfe funktioniert. Jede Bemühung des externen Akteurs muss also nicht nur daraufhin ausgerichtet sein, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit herzustellen. Sie muss gleichzeitig auch immer auf „local ownership“, den Aufbau der Fähigkeiten und Kapazitäten vor Ort, ausgerichtet sein.
3.3 State Building in „failed states“
Das State Building nach Bürgerkriegen oder Interventionen war für die beteiligten Staaten ein langer und kostspieliger Lernprozess. Seit den 1990er Jahren gab es einige Interventionen, die mit tendenziell steigender Intensität State Building zum Ziel hatten. Die Umsetzung der einzelnen Einsätze unterscheidet sich zum Teil deutlich. Die Führung oblag bei manchen Missionen einem Staat, bei anderen bei einer internationalen Organisation wie der NATO oder der UN. Das Spektrum reichte von Peacekeeping-Einsätzen bis hin zur gewaltsamen Beendigung eines Bürgerkriegs. Die Liste der Fälle reicht von Haiti und Ost-Timor bis Bosnien und Kosovo (vgl. Bellamy, Wheeler 2006: 564ff). Während sich die USA 1994 als Haupttruppensteller der UN-Mission aus Somalia schon nach wenigen Verlusten zurückzogen, statt sich auf ein langfristiges State Building -Projekt einzulassen, richtete sich der Fokus im weiteren Verlauf der 1990er Jahre immer stärker auf den Wiederaufbau von Staaten in Postkonflikt-Situationen (vgl. Dobbins et al. 2007: 4ff).
Mit Afghanistan 2001 und dem Irak 2003 versuchten sich westliche Staaten erstmalig seit dem Vietnamkrieg daran, in größeren Staaten eine neue politische Ordnung durch Intervention zu errichten. Doch die Vorstellungen darüber, wie nach der Beseitigung eines Regimes fortzufahren sei, waren in Europa und den USA sehr unterschiedlich. Der damalige US-Präsident George W. Bush hatte im Wahlkampf 2000 noch versprochen, das „overstretching“ der US-Truppen zu beenden (vgl. Ricks 2006: 24ff). Bekannt geworden ist sein Ausspruch aus einer Fernsehdebatte:
„ And so I don't think our troops ought to be used for what's called nation-building. I think our troops ought to be used to fight and win war.“ (Commission on Presidential Debates 2000).
Nach Ansicht führender Mitglieder der Administration wie Donald Rumsfeld oder Condolezza Rice war Nation-Building ein falsches Konzept, mit dem sich die US-Truppen nicht aufhalten sollten. Gleichzeitig war die US-Regierung skeptisch gegenüber multilateralen Organisation, weshalb die UN oder die NATO in ihrer Planung auch keine große Rolle spielten (vgl. Dobbins 2008: 124-127). Viele europäische Regierungen sprachen sich zwar im Falle Afghanistans von Anfang an für State Building aus und waren willens Verantwortung für den Staatsaufbaus zu übernehmen (vgl. Rashid 2008: 197). Allerdings waren die Europäer ihrerseits nicht bereit, dafür größere Ressourcen aufzuwenden (ebd.: 176ff). Zudem waren die Europäer in den folgenden Jahren nicht in der Lage, annähernd genügend Truppen zur Sicherung des State Buildings zu entsenden. Selbst 2009 stellten die ca. 40 Mitglieder der International Security Assistance Force (ISAF) ohne die USA nur rund 32.000 Soldaten für einen Staat von der Größe Frankreichs bereit (ebd.: 203).
Diese Ausgangssituation begünstigte die Entstehung neuer Machtzentren (bspw. Warlords, Drogenbarone) oder politischer Aufstände in Staaten, deren Regime westliche Truppen beseitigt hatten (vgl. Nagl 2005: 25). Wenn der neue Staat erst aufgebaut werden muss, ist auch er in dieser Situation ein „schwacher Staat“. Er besitzt nicht die administrativen Fähigkeiten, auf der gesamten Fläche für Sicherheit zu sorgen und öffentliche Güter zur Verfügung zu stellen. Das ist zum Teil auch die Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, bis der Staat selbst die Fähigkeitenlücke schließen kann. Die erfolgreiche Prävention oder Bekämpfung ungewollter Machtzentren erfordert eine Präsenz der Sicherheitskräfte in der Fläche (vgl. Nagl; Petraeus et al. 2007: „1-13“). Diese personalintensive Strategie stellt für die westlichen Staaten, vor allem für die Europäer, ein großes Problem dar. Neben der Bereitstellung großer Truppenkontingente ist zudem auch die Nähe zur Bevölkerung ein entscheidender Erfolgsfaktor. Das Leben in kleinen Außenposten und ständige Patrouillen machen die Soldaten jedoch kurzfristig angreifbarer, bevor sich dadurch langfristig die Sicherheitslage verbessert (vgl. Ricks 2006: 416-423). Den fundamentalen Fehler veranschaulicht der Irak-Krieg bis 2006: Sind die internationalen Truppen in großen Basen untergebracht, fehlt ihnen der Kontakt zur Bevölkerung. Durch die mangelnde Präsenz wurde kein Vertrauensverhältnis zu den Menschen aufgebaut und wichtige Informationen wurden nicht an die US-Truppen weitergegeben (vgl. Shachtman 2007). Diese Distanz zwischen dem Volk und den ausländischen Truppen wird von Aufständischen genutzt, um die Bevölkerung zu überzeugen oder einzuschüchtern, ihre Angriffe auf die internationalen Truppen vorzubereiten und die neu geschaffenen Sicherheitskräfte zu attackieren. Damit müssen externe Akteure beim militärischen Teil des State Building den Einsatz zweier Grundkomponenten moderner westlicher Kriegführung minimieren: Selbstschutz und den Einsatz großer Feuerkraft. (vgl. Nagl; Petraeus et al. 2007: „1-26f“).
Um einen Staat aufzubauen muss zunächst ein sicheres Umfeld geschaffen werden. Diese Erkenntnis setzte sich in der US-Armee unter den Schlagworten Counterinsurgency (Aufstandsbekämpfung) und Stability Operations (Stabilisierungsoperationen) durch und wurde durch das „Field Manual Counterinsurgency“ formalisiert. Die Implementierung dieses neuen Denkens war ein wichtiger Schritt, um die Lage im Irak deutlich zu verbessern, wo über viele Jahre eine falsche Strategie für Instabilität sorgte (vgl. Weekly Standard 2008). Unter diesen Bedingungen war ein sinnvolles State Building nicht möglich. Aufbauprojekte wurden von Aufständischen angegriffen, Polizisten und andere „Kollaborateure“ waren Racheakten schutzlos ausgeliefert und der permanente Kriegszustand verhinderte jegliche wirtschaftliche Entwicklung. Daraus folgt, dass in einem ersten Schritt das Gewaltmonopol von externen Akteuren errichtet werden muss, damit unter diesem Schutzschirm ein nachhaltiges State Building durchgeführt werden kann. Die Polizei gilt deswegen in der neuen US-Doktrin als das wichtigste Instrument, um Sicherheit und Vertrauen in die neue Ordnung herzustellen (vgl. Nagl; Petraeus et al. 2007.: „6-19“). Die späte Einsicht in diese Notwendigkeiten nach einer erfolgten Intervention führte dazu, dass die ohnehin komplexen State Building -Vorhaben in Afghanistan und Irak von Beginn an in einem kriegerischen Umfeld stattfanden. Die Entstehung des Aufstands im Irak und das Wiedererstarken der Taliban sind deutlich auf den Fehler zurückzuführen, dass den westlichen Staaten eine klare Strategie fehlte, die Staatsaufbau und militärische Mission miteinander verbunden hätte.
Idealerweise sollte die Hilfe beim State Building in schwachen Staaten erfolgen, damit diese gar nicht erst kollabieren. Es gibt jedoch einige Argumente, die dagegen sprechen. Maßgeblich sind vor allem die begrenzten Ressourcen der westlichen Staaten, in allen schwachen Staaten unterstützend einzugreifen, da die Zahl letzterer von manchen Experten weltweit auf bis zu 60 geschätzt wird (vgl. Ghani; Lockhart 2008: 23). Auf der anderen Seite sind viele schwache Staaten undemokratisch (vgl. Nuscheler 2003: 421425). Undemokratische Regime zu stabilisieren, um einen Staatszusammenbruch zu verhindern, dürfte zumindest umstritten sein. Dies gilt vor allem, wenn man sich an der Reform des Sicherheitsapparates beteiligt, der in solchen Staat vor allem als Mittel der Machterhaltung und Unterdrückung eingesetzt wird.
- Arbeit zitieren
- Benjamin Brast (Autor:in), 2009, Die Rolle des Polizeiaufbaus beim State Building durch externe Akteure am Beispiel Afghanistans 2001 - 2008, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136995
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