Faktisch präziser psychatrischer Zwangsneurosen-Fallbericht, Spießbürgersatire, sprachlich vermittelte Psychose, Parabel über den Kampf des Einzelnen gegen die Natur. Alfred Döblins Novelle „Die Ermordung einer Butterblume“ vereint zahlreiche Wesenszüge in sich.
Die hier vorliegende Arbeit zielt drauf ab, die Generierung und das Fortschreiten des Wahnsinns der Hauptfigur, Michael Fischer, anhand des Verhältnisses von Erzählinstanz und erzählter Wirklichkeit zu untersuchen. Wie gelingt es Alfred Döblin durch seinen Erzählduktus die Grenzen zwischen Subjektivität und Objektivität aufzulösen, und welche Auswirkungen hat dies sowohl auf den Fortgang der Erzählung als auch auf den Leser? Dies sind die zentralen Fragen, denen hier nachgegangen werden soll. Die Kategorien des Erzählens werden dabei auf der Grundlage des gleichnamigen Aufsatzes von Jürgen H. Petersen analysiert. Petersen unterteilt die Erzählform grundsätzlich in „Ich“ (als Person) und „Er“ (als Medium). Zur näheren Bestimmung des Erzählens benutzt er die Begriffe „Blickpunkt“, „Erzählverhalten“, „Erzählperspektive“ sowie „Erzählhaltung“ , die im Verlaufe dieser Arbeit noch genauer definiert werden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Der Titel
3. Die Einführung des Protagonisten: „Ein schwarzgekleideter Herr“
3.2 Die Spaltung der Figur des Michael Fischer und die Konstituierung des Butterblumenmordes als Fixationspunkt
3.3 Von der akuten Psychose zum neurotischen Bußdienst
3.4 Die Zementierung der Zwangsneurose und der abschließende Ich-Zerfall
4. Conclusio
Verzeichnis verwendeter Literatur:
1. Einleitung
Faktisch präziser psychiatrischer Zwangsneurosen-Fallbericht, Spießbürgersatire, sprachlich vermittelte Psychose, Parabel über den Kampf des Einzelnen gegen die Natur. Alfred Döblins Novelle „Die Ermordung einer Butterblume“ vereint zahlreiche Wesenszüge in sich. Die hier vorliegende Arbeit zielt drauf ab, die Generierung und das Fortschreiten des Wahnsinns der Hauptfigur, Michael Fischer, anhand des Verhältnisses von Erzählinstanz und erzählter Wirklichkeit zu untersuchen. Wie gelingt es Alfred Döblin durch seinen Erzählduktus die Grenzen zwischen Subjektivität und Objektivität aufzulösen, und welche Auswirkungen hat dies sowohl auf den Fortgang der Erzählung als auch auf den Leser? Dies sind die zentralen Fragen, denen hier nachgegangen werden soll. Die Kategorien des Erzählens werden dabei auf der Grundlage des gleichnamigen Aufsatzes von Jürgen H. Petersen analysiert. Petersen unterteilt die Erzählform grundsätzlich in „Ich“ (als Person) und „Er“ (als Medium). Zur näheren Bestimmung des Erzählens benutzt er die Begriffe „Blickpunkt“, „Erzählverhalten“, „Erzählperspektive“ sowie „Erzählhaltung“[1], die ich zu gegebenem Zeitpunkt im Verlaufe dieser Arbeit genauer definieren werde, die aber hier vorab eingeführt sein sollen.
Meine Arbeit gliedert sich in insgesamt fünf Kapitel. Im ersten Kapitel soll die Disposition der Erzählung anhand des Titels untersucht werden. Was sagt er aus, was nimmt er vorweg, in welche Richtung leitet er die Novelle? Dem Titel kommt insofern besondere Bedeutung zu, als da er das Spiel mit erzählter, suggerierter und tatsächlicher Wirklichkeit, das die gesamte Erzählung bestimmt, in komprimierter Form vorweg nimmt.
Der weitere Fortgang meiner Arbeit orientiert sich an zwei einschneidenden Begebenheiten, an zwei „Höhepunkten“, die die Erzählung inhaltlich gliedern: Zum einen die Erlebnisse im Wald, die in der „Ermordung“ besagter Butterblume durch Michael Fischer gipfeln, sowie zum anderen später das Zerbrechen des Topfes, in dem eine „Ersatzblume“ gepflegt worden war. Beide Ereignisse sind entscheidend für die Entwicklung der Geschichte und stellen Fixpunkte dar. Aus diesem Erzählaufbau ergeben sich für die Gliederung dieser Arbeit vier weitere Kapitel. Im ersten dieser vier Kapitel sollen die Einführung der Hauptfigur Michael Fischer sowie die Hinführung zum Butterblumenmord und dessen letztliche Ausführung untersucht werden.
Das zweite Kapitel widmet sich der Entwicklung dieser Hauptfigur nach begangener Tat, also der Konstituierung des Mordes als solchem, der damit einhergehenden Psychose und der Spaltung des Ichs der Hauptfigur. Das dritte Kapitel befasst sich mit dem Übergang zum zwangsneurotischen „Bußdienst“ an der toten Butterblume unter besonderer Berücksichtigung der Beschleunigung der Erzählung im Zusammenhang mit der Entwicklung des Wahnsinns. Den Begriff der Beschleunigung werde ich zu gegebenem Zeitpunkt näher erläutern, jedoch sei schon hier vorweggenommen, dass er mit der Verstärkung des Wahnsinns in untrennbaren Zusammenhang steht. Das letzte Kapitel geht schließlich auf die Zementierung der Zwangsneurose, erneut unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Erzählzeit und erzählter Zeit, und die letztendliche geistige Umnachtung des Protagonisten ein.
2. Der Titel
Wie bereits erwähnt, möchte ich meine Arbeit mit einer detaillierten Analyse des Titels beginnen. Er wirkt auf den ersten Blick lapidar hingeschrieben, doch ist er entscheidend für die Entwicklung der gesamten Erzählung. „Die Ermordung einer Butterblume“. Dieser Titel gibt zunächst eine scheinbar vollkommene Objektivität vor. Wie eine, den Anschein von Faktizität erweckende, Zeitungsüberschrift steht er im Raum: Eine Butterblume wurde also ermordet. Doch der Leser stutzt, muss stutzen, denn wie selbstverständlich wird eine Blume an einer Stelle eingesetzt, an der legitimerweise nur ein Mensch stehen könnte. „Kein klärendes, bewertendes Epitheton hilft dem verblüfften Leser, diese kurze Information richtig beurteilen zu können.“[2] Das heißt, es bleibt die Aufgabe des Lesers, sie einzuordnen. Diesem ist natürlich klar, dass man eine Butterblume knicken, pflücken, ja selbst zerrupfen kann – ermorden kann man sie jedoch nicht. Aus diesem Grund muss der Leser die vorgegebene sachliche Tatsachenvermittlung anzweifeln und bestreiten. „Die Wahl einer besonders fruchtbaren, weit verbreiteten und nicht eben kostbaren Blume, die fast überall wachsen und wuchern kann, dramatisiert noch den Widerspruch zwischen entsetzlicher Tat [...] und ‚unwürdigem, unpassendem Objekt eben dieser Tat.“[3] Dem Leser bleibt nur eins übrig: Er muss den Wahrheitsgehalt dieser Nachricht auf eine andere Ebene verlagern, auf eine phantastische, in der die Realität verzerrt oder subjektiv übersteigert ist. In einer solchen Welt, in der die Natur und einzelne ihrer Vertreter personalisiert und individualisiert werden, können Sträucher laufen, Bäume weinen – und Butterblumen ganz offensichtlich auch ermordet werden. Der Titel „Die Ermordung einer Blutterblume“ gibt also demnach „eine explizite Objektivität vor, die notgedrungen in eine implizite Subjektivität mündet“[4] – und ist damit konstituierend für die Struktur der gesamten Erzählung, in der Erzählinstanz und erzählte Wirklichkeit ein wechselseitiges Spiel bestreiten, in dem sich Objektivität und Subjektivität und die Kategorien von „Innenwelt“ und „Außenwelt“ miteinander vermischen und in dialektischer Art und Weise eine höhere Wahrheit produzieren.
3. Die Einführung des Protagonisten: „Ein schwarzgekleideter Herr“
Wie bereits angedeutet, soll der Fortgang meiner Arbeit sich an der linearen Entwicklung der Erzählung orientieren. Ich halte dies deshalb für sinnvoll, da sich auf diese Art und Weise der rote Faden der Analyse, die Konstituierung des Wahnsinns des Herrn Fischer anhand der Erzählinstanz und der erzählten Wirklichkeit, die sich ebenfalls linear, schrittweise und zunehmend beschleunigt entwickelt, am besten verfolgen lässt.
Wie beginnt die Novelle also, nachdem der Titel den Leser etwas ratlos und erwartungsvoll zurückgelassen hat, und wie wird der Protagonist eingeführt, dessen Namen erst später erwähnt wird?
„Der schwarzgekleidete Herr hatte erst seine Schritte gezählt, eins, zwei, drei, bis hundert und rückwärts, als er den breiten Fichtenweg nach St. Ottilien hinananstieg, und sich bei jeder Bewegung mit den Hüften stark nach rechts und links gewiegt, so daß er manchmal taumelte; dann vergaß er es.“[5]
Wenn der Titel eine Verdichtung der Erzählung und vor allem ihrer Struktur ist, ein Surrogat in komprimierter Form, dann zeigt dieser Satz in komprimierter Form die inhaltlichen Facetten und Hauptstränge der folgenden Erzählung auf. Die Hauptfigur ist also ein „schwarzgekleideter Herr“.[6] Das Substantiv „Herr“, vor allem im Kontext des Entstehungsjahres der Novelle (1910) betrachtet, konstituiert die fragliche Gestalt als Mitglied einer gutsituierten bürgerlich-industriellen Gesellschaftsschicht, während das Attribut „schwarzgekleidet“ die Würde der Erscheinung noch unterstreicht. Die Tatsache, dass besagte Person vorerst namenlos bleibt und ihr Name erst an späterer Stelle – und im Dienste einer Erzählintention, die ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch behandeln werde – genannt wird, macht deutlich, dass es nicht um die Darstellung eines individuellen und aufgrund dieser Individualität besonders erwähnenswerten Charakters geht, sondern dass die dargestellte Figur vielmehr stellvertretend und typisch für eine ganze Gruppe von Menschen steht. Der Fakt, dass in der gesamten Erzählung keine biographischen Elemente der Person Michael Fischer enthalten sind, stützt diese Feststellung.
[...]
[1] Vgl. Petersen, Jürgen H.: Kategorien des Erzählens. Zur systematischen Deskription epischer Texte. In: Poetica 9. 1977.
[2] Marx, Reiner: Literatur und Zwangsneurose – Eine Gegenübertragungs-Improvisation zu Alfred Döblins früher Erzählung „Die Ermordung einer Butterblume“. In: Sander, Gabriele (Hrsg.): Internationales Alfred-Döblin-Kolloqium Leiden 1995. Bern, Berlin, u.a. 1997. S.54.
[3] Ebd.
[4] Ebd.
[5] Döblin, Alfred: Die Ermordung einer Butterblume. In: Martini, Fritz (Hrsg.): Prosa des Expressionismus. Stuttgart. 2003. S.102.
[6] Ebd.
- Quote paper
- Alkimos Sartoros (Author), 2007, Bürgerlichkeit und psychische Störungen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136841
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