Im Vorwort der unverändert erschienen Neuauflage von 1886 betont Nietzsche, dass das Fundament, auf dem er die Entstehung und den Zerfall der Tragödie deutet, der Pessimismus ist. Vorliegende Arbeit versucht diesen Begriff des Pessimismus, wie er in „Die Geburt der Tragödie“ konzipiert wurde, zu erörtern und darzustellen, welche tragende Rolle ihm zukommt. Zudem wird untersucht werden, inwiefern die Kunst und das künstlerische Schaffen als Möglichkeiten entworfen wurden, den Pessimismus zu überwinden.
Hierfür werden zwei Lesarten des Nietzscheschen Kunstbegriffes herangezogen. Die eine umfasst die eigentliche ästhetische Produktion, als deren höchste Ausformung die griechische Tragödie erscheint. Die andere beinhaltet jede lebensdienliche metaphysische Tätigkeit und schließt, wie sich zeigen wird, die Leistungen der Wissenschaft ein.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden der Inhalt und die Konsequenzen des Pessimismus erörtert. Auf der Basis der Untersuchungsergebnisse werden sodann die Implikationen betrachtet, die sich für die Überwindung des Leids ergeben. Die Kategorien des Apollinischen und des Dionysischen werden hierbei als Strategien verstanden, die das Ziel verfolgen, die Konsequenzen des Pessimismus zu kompensieren. Die Komplexität der Darstellung ergibt sich aus dem Umstand, dass Nietzsche die beiden Kategorien nicht allein als Deutungsschema für die Kunst herangezogen hat, sondern ebenso auf Historie, Metaphysik, Physiologie, Psychologie und Erkenntnistheorie angewandt hat.
Im dritten Teil der Darstellung werden zunächst einige Bestimmungen getroffen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst vergegenwärtigen sollen, um dann eine dritte Strategie erörtern zu können. Als diese wird der metaphysische Wahn bzw. der sokratische Trieb verstanden.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Zielsetzung
2. Hauptteil
2.1. Der Begriff des Pessimismus
2.2. Die Überwindung des Pessimismus durch die ästhetische Produktion
2.2.1. Das Apollinische als Strategie der Leidensbewältigung
2.2.2. Das Dionysische als Strategie der Leidensbewältigung
2.3. Das Verhältnis von Kunst und Wissenschaft
2.3.1. Wissenschaft als Vernichtung der Illusion und des Lebens
2.3.2. Der metaphysischer Wahn
3. Literaturverzeichnis
Werke
Schriften zur Nietzsche-Interpretation
1. Einleitung und Zielsetzung
Im Vorwort der unverändert erschienen Neuauflage von 1886 betont Nietzsche, dass das Fundament, auf dem er die Entstehung und den Zerfall der Tragödie deutet, der Pessimismus ist.[1] Vorliegende Arbeit versucht diesen Begriff des Pessimismus, wie er in „Die Geburt der Tragödie“ konzipiert wurde, zu erörtern und darzustellen, welche tragende Rolle ihm zukommt. Zudem wird untersucht werden, inwiefern die Kunst und das künstlerische Schaffen als Möglichkeiten entworfen wurden, den Pessimismus zu überwinden.
Hierfür werden zwei Lesarten des Nietzscheschen Kunstbegriffes herangezogen. Die eine umfasst die eigentliche ästhetische Produktion, als deren höchste Ausformung die griechische Tragödie erscheint. Die andere beinhaltet jede lebensdienliche metaphysische Tätigkeit und schließt, wie sich zeigen wird, die Leistungen der Wissenschaft ein.
Die Arbeit gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden der Inhalt und die Konsequenzen des Pessimismus erörtert. Auf der Basis der Untersuchungsergebnisse werden sodann die Implikationen betrachtet, die sich für die Überwindung des Leids ergeben. Die Kategorien des Apollinischen und des Dionysischen werden hierbei als Strategien verstanden, die das Ziel verfolgen, die Konsequenzen des Pessimismus zu kompensieren. Die Komplexität der Darstellung ergibt sich aus dem Umstand, dass Nietzsche die beiden Kategorien nicht allein als Deutungsschema für die Kunst herangezogen hat, sondern ebenso auf Historie, Metaphysik, Physiologie, Psychologie und Erkenntnistheorie angewandt hat.[2] Im dritten Teil der Darstellung werden zunächst einige Bestimmungen getroffen, die das Verhältnis von Wissenschaft und Kunst vergegenwärtigen sollen, um dann eine dritte Strategie erörtern zu können. Als diese wird der metaphysische Wahn bzw. der sokratische Trieb verstanden.
Die Arbeit stütz sich zum einen auf "Die Geburt der Tragödie" zum anderen auf Schriften, die als Vorarbeiten für das Hautpwerk entstanden sind oder Themenkreise der Tragödienschrift streifen. Hierbei sind vorallem "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" und "Die dionysische Weltanschauung" sowie frühe Nachlassfragmente relevant. Da Nietzsche entscheidende Grundlagen in diesen Schriften legte und teilweise nicht erneut explizierte, erscheint der Rückgriff auf die genannten Werke gerechtfertigt.
2. Hauptteil
"Die Geburt der Tragödie glaubt an die Kunst vor dem Hintergrund eines anderen Glaubens: dass es nicht möglich ist, mit der Wahrheit zu leben."[3]
Diese rückblickende Spätanalyse verweist auf den Maßstab, den Nietzsche für die Gegen-
überstellung von Kunst und Wissenschaft herangezogen hat: die Lebensdienlichkeit oder die Optik des Lebens.[4]
Zudem deutet sie das stimulierende und kompensierende Potential der Kunst an.
An dieser Stelle sollen zunächst Inhalt und Folgen der Wahrheit, mit der es unmöglich sei zu leben, analysiert werden, um den Nietzscheschen Pessimismusbegriff zu bestimmen.
2.1. Der Begriff des Pessimismus
Die hellenische Kultur ruhte auf einem "verhüllten Untergrund des Leidens und der Erkenntnis".[5] Diese Setzung bildet den Ausgangspunkt, auf dem Nietzsches Deutung der griechischen Kultur basiert.
Der Terminus der Erkenntnis wird an dieser Stelle als Auswuchs einer Intitution verwendet.[6] Der Inhalt bzw. der Gegenstand der intiutiven Erkenntnis war die Einsicht in die "Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins".[7]
Im Bewusstsein dieser einmal erblickten Wahrheit sehe der Mensch "überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Menschseins".[8] Zugleich aber erscheint die Kunst als Möglichkeit sich von den Abscheulichkeiten zu befreien. Sie vermag es "jene Ekelgedanken [...] in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt."[9]
Die als furchtbar und scheußlich beschriebene Wirkung des Daseins auf den Menschen geht aus der Auseinandersetzung Nietzsches mit den vorsokratischen Philosophen hervor, die er in "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" vorgenommen hat und die er in "Die Geburt der Tragödie" nicht erneut expliziert.[10]
In "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" folgt Nietzsche der Lehre Heraklits, nach der Dasein und Wirklichkeit als ewiges und alleiniges Werden zu verstehen sind. Dort heißt es: "Die gänzliche Unbeständigkeit alles Wirklichen, das fortwährend nur wirkt und wird und nicht ist, wie sie Heraklit lehrt, ist die eine furchtbare und betäubende Vorstellung[...]".[11] Die Welt stellt sich somit als Werden und nicht als Sein dar. Was entsteht, vergeht ebenso unweigerlich. Das Werden ist ein Resultat des Kampfes der Gegensätze.[12] Das jeweils als bleibend und bestimmt Erscheinende ist nur das momentane Überwiegen eines der beiden Gegensätze.
An diesem Punkt stellen sich zwei Fragen:
Inwiefern kann die unbeständige Wirklichkeit eine solche Wirkung beim erkennenden Subjekt hervorrufen? Und: Wie kann der Effekt kompensiert werden?
Zuvorderst kann der Einblick in die Beschaffenheit des Daseins, in den ständigen Wechsel, dahingehend beschrieben werden, dass er zu der intuitven Erkenntnis führt, dass die Wirklichkeit unabhängig und unbeeinträchtigt vom menschlichen Handeln bleibt.
Der menschliche Teil dieser Wirklichkeit zeigt sich somit als sinnlos, wobei Sinn als Relation zwischen Bedürfnissen bzw. Wünschen und deren Erfüllung definiert werden kann. Diese Sinn- und Ziellosigkeit macht das Leiden der Griechen aus, bildet den Gegenstand entsetzlicher Empfindungen.
Zudem ergeben sich psychologisch-existenzielle Implikationen. Das erkennende Subjekt
bezieht die Ziel- und Sinnlosigkeit auf das eigene Leben. Die Konesequenzen dieser Übertragung gipfeln in einer umfassenden Absurdität, die jedes zum Handeln antreibende Motiv überwiegt.[13] Der Einsicht in die conditio humana folgt somit die Negation jeglicher Handlung und die Verneinung des Daseins.[14] Neben der Unverträglichkeit von zielgerichtetem Lebensentwurf und unbeständigem Dasein bleibt die Wirklichkeit epistemisch unzugänglich: Widersprüchlichkeit, Undurchdringlichkeit und "das Unlogische" können weder beschrieben noch vernünftig erfassst werden.
Als Beleg dafür, dass den Griechen "der Einblik in die grauenhafte Wahrheit", "die wahre Erkenntnis"[15] zu teil wurde, führt Nietzsche den Mythos des weisen Silen an.
Auf König Midas Frage hin, was das Allerbeste und Allervorzüglichste für den Menschen sei, antwortet dieser, es bestehe im Unerreichbaren, im Nichtgeborensein. Das Zweitbeste, das für den Menschen zu erlangen sei, stelle der baldige Tod dar.[16]
Der Pessimismus, das Leidensfundament, wurde demnach in Form der "griechischen Volksweisheit"[17], durch "die Philosophie des Volkes"[18] enthüllt.
Aber nicht nur der Mythos des Silen gilt Nietzsche als Symptom des griechischen Pessimismus. Auch die dionysische Kunst spricht "in ihrem Rausche die Wahrheit".[19]
Ihre Botschaft beinhaltet die Prognose, dass alles, was entsteht zum "leidvollen Untergange"[20] verurteilt ist. Vergegenwärtigt sich das Individuum diese Botschaft, wird es gezwungen in die Schrecken der eigenen Existenz zu blicken.[21]
Die Kraft diese Schrecken vermittels einer lebenserhaltenden Illusion zu überwinden, kennzeichnet die griechische Lebensstrategie. Eine starke Lesart des in der Tragödien-
schrift entwickelten Kunstbegriffes umfasst alle Tätigkeiten und Fähigkeiten, die es erlauben uns von der Wirklichkeit absehen zu lassen.[22] Dieser weit gefasste Begriff leitet sich aus der Funktion her, die die Kunst in Nietzsche Theorie erfüllt: Sie entsteht als "Heilmittel der Erkenntis".[23] Ihre Aufgabe ist es, "das Auge vom Blick in´s Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins [...]zu retten."[24]
Nietzsche nennt zwei von der Kunst bereitgestellte Vorstellungen, die es ermöglichen, mit dem vom Dasein erzeugten Leid zu leben:
Das Erhabene als "die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen" und "das Lächerliche
als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden".[25] In der Tragödie vereinigen sich diese beiden Elemente.[26] Inwiefern sich die Tragödie im Einzelnen konstituiert und welche Strategien der Lebensführung in ihr vereinigt sind, wird im Folgenden zu erörtern sein.
Aus den bisher angestellten Überlegugnen lassen sich vorerst folgende Annahmen extrapolieren, die sich für Nietzsches Deutung der tragischen Kultur als grundlegend erweisen:
1. "Die Lehre des Werdens" bildet das Fundament, auf dem sich der griechische Pessimismus ausbilden konnte.
2. Das Leiden der Griechen ist duch die "Erkenntnis" verursacht, dass die Heraklitsche "Lehre vom Werden" eine zutreffende Beschreibung der Wirklichkeit und des menschlichen Teils dieser Wirklichkeit ist. Der Begriff des Pessimismus verweist also insbesondere auf die psycholigischen Wirkungen und die lebensverneinenden Konsequenzen, die auf die Einsicht in "die Lehre des Werdens" folgen.
Der Pessimismus wird auch als "Wahrheit" bezeichnet.[27]
3. Die Kunst erscheint als die Möglichkeit der Kompensation und der Transformation des Pessimismus.[28]
[...]
[1] Vgl.: KSA 1, S. 12
Gleichermaßen äußert sich Nietzsche in Ecce Homo: "`Griechenthum und Pessimismus´ das wäre ein unzweideutiger Titel gewesen: nämlich als erste Belehrung darüber, wie die Griechen fertig wurden mit dem Pessimismus, - womit sie ihn überwanden..." (KSA 6, S. 309) Nietzsche wird im Folgenden unter Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert nach: Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. durchgesehen A. München/Berlin/New York: dtv-de Gruyter, 1988. Ebenso wird bei der Angabe von Verweisen verfahren.
[2] Vgl.: Meyer: Nietzsche und die Kunst, S. 28
[3] KSA 13, S. 500
[4] Vgl.: KSA 1, S. 16
[5] KSA 1, S. 40
[6] Vgl.: KSA 1, S. 35
[7] KSA 1, S. 35
[8] KSA 1, S. 566
[9] KSA 1, S. 57
[10] Vgl.: Glatzeder, S. 130
[11] KSA 1, S. 824
[12] In "Die Geburt der Tragödie" nennt Nietzsche Heraklit den "Vater aller Dinge", insofern dieser den "ewigen Widerspruch" als erster formulierte. (KSA 1, S. 39) Vgl. auch: Reibnitz: Kommentar, S. 145
[13] Vgl.: KSA 1, S. 57
[14] Vgl.: KSA 1, S. 57
[15] KSA 1, S. 57
[16] Vgl.: KSA 1, S. 35
[17] KSA 1, S. 35
[18] KSA 1, S. 588
[19] KSA 1, S. 41
[20] KSA 1, S. 109
[21] KSA 1, S. 109
[22] Vgl.: Glatzeder: Perspektiven der Wünschbarkeit, S. 134
[23] KSA 1, S. 198
[24] KSA 1, S. 126
[25] KSA 1, S. 595
[26] Vgl.: KSA 1, S. 57
[27] In diesem Sinne hält Nietzsche die Lehre vom souveränen Werden für "wahr, aber tödlich" (KSA 1, S. 319)
[28] Vgl. Glatzeder, S. 130
- Arbeit zitieren
- Sebastian Gebeler (Autor:in), 2008, Der Pessimismus und die Möglichkeiten seiner Überwindung in Friedrich Nietzsches "Die Geburt der Tragödie", München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/136714
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