Zuallererst wird der Sprecherwechsel genauer beleuchtet: Er wird definiert und anschließend in den Kontext der (ethnomethodologischen) Konversationsanalyse gesetzt. Ferner beschäftigt sich die Arbeit mit den kooperativen Prozessen beim Sprecherwechsel sowie mit den turn-taking-Regeln. Danach werden die verschiedenen Typen des Sprecherwechsels erläutert: Dieser kann grob in Fremd- und Selbstwahl unterteilt werden, wobei es jeweils noch unterschiedliche Unterarten gibt. Bei der Fremdwahl unterscheidet man zwischen dem expliziten (namentliche Anrede) und impliziten (nonverbale Übergabe) turn-taking sowie dem Wechsel durch Paarsequenzen. Die Selbstwahl lässt sich in die glatten Sprecherwechsel ohne oder mit Überlappung und die Unterbrechungen ohne oder mit Überlappung gliedern. Außerdem werden zum Ende der Hausarbeit zwei erfolglose Unterbrechungsversuche untersucht.
Wenn man „kostbare[s] Gut“ (Schmitt 2005) liest, denken viele wahrscheinlich zuerst an Geld, teuren Schmuck, wertvolle Autos oder ähnliches. Aber niemand wird vermutlich an das denken, was Reinhold Schmitt als „kostbare[s] Gut“ (ebd.) bezeichnet: Das Rederecht. Denn nur wer das Rederecht hat, kann seine Gedanken, seine Meinung, sein Anliegen etc. aussprechen und anderen mitteilen. Entweder erhält man es in Kooperation oder in Konkurrenz mit den anderen Gesprächsteilnehmern. Wenn erst Sprecher A, dann aber Sprecher B das Rederecht hat, ist ein Sprecherwechsel (engl.: turn-taking) erfolgt. Auf welche unterschiedliche Art und Weise dieser vollzogen werden kann, wird in der vorliegenden Arbeit behandelt.
Jede Form des Sprecherwechsels wird jeweils in eigenen Kapiteln anhand von Beispielen in Form von Transkriptionen diverser Gesprächsausschnitte aus drei verschiedenen Talkshows analysiert. Die Transkriptionen wurden selbst nach GAT 2 erstellt. Dabei werden nicht nur verbale, sondern auch para- und non-verbale Methoden und Verhaltensweisen der Gesprächsteilnehmer untersucht. Diese sollen Aufschluss darüber geben, auf welche Art und Weise die Beteiligten den Sprecherwechsel initiieren, das Rederecht an sich binden oder einem anderen das Rederecht übergeben.
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Die in diesem Gesprächsausschnitt teilnehmenden Personen sind die Moderatorin der Talksendung Anne Will (AW), die Entertainerin Verona Pooth (VP) sowie der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum (GB) von der FDP. Ursula Schele (US) vom Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe spielt in diesem Beispiel nur eine nebensächliche Rolle. Ihre Gesprächsbeiträge reduzieren sich auf sogenannte Re- zipienzsignale oder auch „Hörersignale“ (Schwitalla 1979, S. 90), welche verbale oder nonverbale Reaktionen auf den Redebeitrag des aktuell Sprechenden darstellen. Sie signalisieren dem Gegenüber, dass man zuhört, interessiert ist, zustimmt, widerspricht etc. Beispiele dafür sind „genau“ (s. 13), „ja“ (s. 11), „hm“ (s. 08), Kopfnicken, Stirnrunzeln usw. (vgl. Heilmann 2011, S. 115).
Zuerst hat Gerhart Baum das Rederecht, welches aber durch die onymische Anrede frAU pooth (12) seitens der Moderatorin Anne Will an Verona Pooth weitergegeben wird. Moderatoren und Moderatorinnen einer Talkshow haben nach Steinbrecher und Weiske die Aufgabe, „Ordnung ins Gespräch [zu] bringen.“ (Steinbrecher/Weiske 1992, S. 76) Zudem initiieren und koordinieren sie Gesprächsbeiträge der Beteiligten, so wie dies auch in diesem Gesprächsausschnitt der Fall ist (vgl. ebd., S. 76). Frau Will hat vermutlich zuvor vernommen, dass Verona Pooth etwas zu dem Redebeitrag von Gerhart Baum entgegnen möchte. In der Intonationsphrase 03 kommt es nämlich zu einem mit dem Redezug von Baum überlappenden Turn der Entertainerin, was zeigt, dass sie intervenieren möchte. Herr Baum lässt sich aber nicht unterbrechen, weshalb Pooth mitten im Satz abbricht. Da sich die Moderatorin der Talkshow dies augenscheinlich gemerkt hat, erteilt sie - nachdem der FDP-Politiker seinen Turn beendet hat - Frau Pooth das Wort.
Hierbei muss sie nur den Namen der Entertainerin sagen, ohne weitere Anweisungen oder Erklärungen, da Frau Will als Koordinatorin der Redebeiträge fungiert.
Die Funktion der onymischen Anrede ist außerdem in vielen Fällen, die Aufmerksamkeit des Angesprochenen zu erlangen; Susanne Günthner spricht daher auch von einem „attention getting device“ (Günthner 2016, S. 410). Häufig kommen namentliche Anreden in Verbindung mit einer Frage vor, sodass deutlich wird, an wen diese adressiert ist. Auch im folgenden Ausschnitt der Talkshow „Markus Lanz“ vom 15. September 2020 im ZDF über die Situation der Flüchtlinge auf Lesbos lässt sich dies beobachten:
Beispiel 2: Markus Lanz vom 15. September 2020 ((50:01-50:24))
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Der Moderator der Sendung Markus Lanz (MZ) spricht den Innenminister von NordrheinWestfalen Herbert Reul direkt an und formuliert dann, nach einer kleinen Umschweife, seine Frage an diesen. Die onymische Anrede und Nominalphrase herr rEUl (01) steht dabei im Vor-Vorfeld des Turns. Auf diese Weise sichert sich der aktuell Sprechende - in diesem Fall Herr Lanz - die „Aufmerksamkeit für die unmittelbar folgende Sprechhandlung“ (Günthner 2016, S. 411). Außerdem adressiert die namentliche Anrede die später formulierte Frage von Lanz warUm ist das so? (04) an den Politiker. Es wird deutlich gemacht, dass Herr Reul und kein anderer Gesprächsteilnehmer nach dem Turn des Moderators das Rederecht durch Fremdwahl erhält, um auf die Frage zu antworten.
2.1.2. Nonverbale Übergabe (implizit)
Turn-taking kann auch durch Fremdwahl auf implizite, nonverbale Weise stattfinden. So kann z.B. eine Zeigegeste, eine „Handbewegung mit Aufforderungscharakter“ (Schwitalla 1979, S. 85) in Richtung des Angesprochenen oder Blickkontakt eine Turnzuweisungs-Technik sein (vgl.ebd., S. 85). In der Talkshow „Anne Will“ vom 28.10.2018 nach der Landtagswahl in Hessen im Ersten ist eine solche nonverbale Übergabe durch Fremdwahl zu erkennen:
Beispiel3: Anne Willvom 28.10.2018 - Nach der Landtagswahl in Hessen ((44:58:18-45:18:20))
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Wie auch im Beispiel 1 (s. Kapitel 2.1.1.) deutet der Vorsitzende der Partei Die Grünen Robert Habeck (RH) an, dass er auf den vorangegangenen Turn (s. 01-02) von Annegret Kramp-Karrenbauer (AK), Vorsitzende der CDU, etwas erwidern möchte (s. 03). Doch bevor er die Möglichkeit dazu erhält, unterbricht ihn die Moderatorin Anne Will (AW), um etwas auf den Redebeitrag von Kramp-Karrenbauer zu entgegnen (s. 04 und 06). Da sie aber den Versuch von Habeck, das Rederecht durch Selbstwahl zu erhalten, bemerkt hat, erteilt die Moderatorin ihm jenes nach Beendigung ihres Einwandes. Dabei sagt sie wollten sie dA drauf? (07) und vollzieht gleichzeitig eine konventionalisierte Zeigegeste in die Richtung des Politikers (vgl. Heilmann 2011, S. 58). Durch „[d]as hinweisende Zeigen [...] kann der Wille angezeigt werden, das eigene Rederecht abgeben und den anderen zum Sprechen auffordern zu wollen.“ (ebd., S. 58) Außerdem richtet sie den Blick auf Habeck, der zu ihrer Linken sitzt, dreht ihren Oberkörper zu ihm und beugt sich leicht nach vorne in seine Richtung (s. Abb. 2).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 2: Zeigegeste, Ausrichtung des Oberkörpers und Blickkontakt von Anne Will in Robert Habecks Richtung (vgl. Anne Will 2018, 45:13)
Die nonverbale Gestik sowie die Körperhaltung deuten klar daraufhin, dass sie Robert Habeck und niemanden sonst aus der Gesprächsrunde anspricht. Das sie in der Intonationsphrase 07, welche das höfliche Anredepronomen der zweiten Person Singular darstellt, weist Herr Habeck nicht explizit als Adressaten ihrer Frage aus. Wären die körperlichen Signale während ihrer Intonationsphrase nicht, könnte die Frage theoretisch an alle Gäste der Talkshow gerichtet sein. Doch Anne Wills Gestik und Mimik adressieren sie eindeutig an den Politiker der Grünen. Habeck erkennt und interpretiert diese Signale richtig und beginnt seinen Turn (s. 08).
Obwohl Frau Will bloß wollten sie dA drauf? (07) sagt, was keinen vollständigen Satz darstellt, kann Habeck als Hörer vorahnen, was sie sagen möchte, nämlich vermutlich „Wollten Sie da drauf etwas sagen?“. Die Kadenz, also die „Melodiebewegung am Ende eines Gedankens“ (Heilmann 2011, S. 98) zeigt an, dass es sich hierbei um eine Frage handelt, da die Kadenz nach der letzten Silbe aufwärtssteigt (vgl. ebd., S. 98).
2.1.3. Paarsequenz
Bei einer Paarsequenz wird durch den ersten Paarteil der zweite Paarteil erwartbar gemacht bzw. vorstrukturiert. Zwei von unterschiedlichen Sprechern erzeugte verbale Äußerungen, die direkt nacheinander folgen, sind „durch eine Beziehung der konditionellen Relevanz miteinander verkettet“ (Stukenbrock 2013, S. 147). Ein Beispiel dafür sind Frage-Antwort-Paarsequenzen: Stellt Sprecher A Sprecher B eine Frage, wird eine Antwort von Sprecher B auf diese Frage erwartet (vgl. Auer 2013, S. 19). Demnach wird die Person, an den die Frage gerichtet ist, durch den aktuellen Sprecher als der nächste Sprecher auserkoren. Gruß/Gegengruß und Einladung/Annahme oder Ablehnung sind weitere Beispiele für Paarsequenzen.
Jedoch kann eine Paarsequenz nur dann der Fremdwahl zugeteilt werden, wenn die Frage explizit an eine bestimmte Person gestellt wurde, da so das Rederecht an diese Person übergeben wird. Eine Frage kann aber auch an niemand Bestimmten gerichtet sein. In diesem Fall findet kein Sprecherwechsel in Form einer Fremdwahl statt, sondern durch Selbstwahl (vgl. Sacks/Schegloff/Jefferson 1974, S. 717). Trotzdem gilt Sacks, Schegloff und Jefferson zufolge: „They are, nonetheless, the basic component for selecting next speaker“ (vgl. ebd., S. 717). In dieser Hausarbeit werden wir uns einem Beispiel einer Frage-Antwort-Paarsequenz, die eindeutig der Fremdwahl zuzuordnen ist, widmen. Im folgenden Transkript der Talkshow „Anne Will“ vom 12.11.2017 mit der Sexismus-Debatte ist ein solche Paarsequenz aufzufinden:
Beispiel 4: Anne Will vom 12.11.2017 - Sexismus-Debatte ((35:35:05-35:52:15))
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
In dem Beispiel geht es um eine Diskussion zwischen Ursula Schele (US) und der Künstleragentin und Autorin Heike-Melba Fendel (HF) über die sexuelle Macht des Mannes und der Frau. Zuerst führt Frau Schele aus, dass der Mann eine sexuelle Macht besitze (s. 02), woraufhin Frau Fendel erwidert, dass die Frau ebenfalls eine solche besitze (s. 05). Nachdem Schele auf ner gAnz andern ebene (07) entgegnet, interveniert Fendel den fortlaufenden Turn Scheles mit der Frage auf WELCHER denn? (09). Hier wird deutlich, dass die Frage an Ursula Schele gerichtet ist, da Fendel eine inhaltliche Nachfrage auf den vorangegangenen Redezug Scheles stellt. Auf diese Weise wird Ursula Schele das Rederecht durch Fremdwahl in Form einer Frage-Antwort-Paarsequenz erteilt, da von ihr nun eine Antwort auf die Frage (s. 10) erwartet wird.
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