Ist Sprache in der Lage, Realität abzubilden? Schnell neigt man dazu, diese Frage aus einer unreflektierten Selbstverständlichkeit heraus zu bejahen. Denn wäre dies nicht der Fall, müsste man sich eingestehen, dass jegliche Form menschlicher Erkenntnis nicht der Wirklichkeit entspräche. Schließlich ist Sprache nicht nur unser Mittel zur intersubjektiven Kommunikation, sondern Grundlage unseres Denkens und damit unserer bewussten Wahrnehmung jeglichen Seins. Plötzlich geriete damit die gesamte begrifflich strukturierte Welt, alles woran wir glauben, alles, was wir für unumstößliche Wahrheiten betrachten, ins Wanken. Die existentielle Dimension, die sich hinter dieser Frage verbirgt, lässt die Auseinandersetzung mit dieser Thematik als äußerst relevant erscheinen und begründet die Motivation für die folgende Hausarbeit.
Diese Abhandlung bedient sich hierbei der äußeren Form eines Vergleichs. Die sprachphilosophischen Reflexionen Friedrich Nietzsches sollen einem der wirkungsreichsten sprachskeptischen Werke der deutschen Literatur, dem "Chandosbrief" von Hugo von Hofmannsthal gegenübergestellt werden. Es erscheint sinnvoll, vorerst die in den Schriften enthaltenen Ansichten über die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit herauszufiltern und isoliert zu betrachten, bevor eine vergleichende Auseinandersetzung der beiden Sprachreflexionen erfolgen soll.
Dementsprechend ist diese Hausarbeit gegliedert in drei Kapitel. Zuerst sollen dabei Nietzsches Ansichten dargestellt werden, anschließend die Gründe für die in drei Phasen ablaufende Sprachkrise des Hofmannthalschen Protagonisten Lord Chandos, um schlussendlich beide Werke vergleichend zu untersuchen. Die hauptsächlichen Vergleichskriterien sollen dabei die folgenden Fragen bilden. Welche Problematik wird im Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Sprache diagnostiziert? Welche Schlüsse werden aus eben jener Diagnose gezogen? In einem abschließenden Fazit sollen die erlangten Erkenntnisse noch einmal kurz zusammengefasst werden.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Hauptteil
1. Nietzsches Sprachreflexionen
2. Die Sprachkrise des Lord Chandos
2.1 Jugendliche Sprachliebe und anfängliche Zweifel
2.2 Die literarischen Sprachkrise wird zur Identitätskrise
2.3 Epiphanische Momente und die „neue Sprache“
3. Vergleich
Fazit
Siglen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Ist Sprache in der Lage Realität abzubilden? Schnell neigt man dazu diese Frage aus einer unreflektierten Selbstverständlichkeit heraus zu bejahen. Denn wäre dies nicht der Fall müsste man sich eingestehen, dass jegliche Form menschlicher Erkenntnis nicht der Wirklichkeit entspräche. Schließlich ist Sprache nicht nur unser Mittel zur intersubjektiven Kommunikation, sondern Grundlage unseres Denkens und damit unserer bewussten Wahrnehmung jeglichen Seins. Plötzlich geriete damit die gesamte begrifflich strukturierte Welt, alles woran wir glauben, alles was wir für unumstößliche Wahrheiten betrachten ins wanken. Die existentielle Dimension, die sich hinter dieser Frage verbirgt, lässt die Auseinandersetzung mit dieser Thematik als äußerst relevant erscheinen und begründet die Motivation für die folgende Hausarbeit.
Diese Abhandlung bedient sich hierbei der äußeren Form eines Vergleichs. Die sprachphilosophischen Reflexionen Friedrich Nietzsches sollen einem der wirkungsreichsten sprachskeptischen Werke der deutschen Literatur, dem „Chandosbrief“ von Hugo von Hofmannsthal gegenübergestellt werden. Es erscheint sinnvoll vorerst die in den Schriften enthaltenen Ansichten über die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit herauszufiltern und isoliert zu betrachten, bevor eine vergleichende Auseinandersetzung der beiden Sprachreflexionen erfolgen soll. Dementsprechend ist diese Hausarbeit gegliedert in drei Kapitel. Zuerst sollen dabei Nietzsches Ansichten dargestellt werden, anschließend die Gründe für die in drei Phasen ablaufende Sprachkrise des Hofmannthalschen Protagonisten Lord Chandos, um schlussendlich beide Werke vergleichend zu untersuchen. Die hauptsächlichen Vergleichskriterien sollen dabei die folgenden Fragen bilden. Erstens: Welche Problematik wird im Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Sprache diagnostiziert? Und Zweitens: Welche Schlüsse werden aus eben jener Diagnose gezogen? In einem abschließend Fazit sollen die erlangten Erkenntnisse noch einmal kurz zusammengefasst werden.
1. Nietzsches Sprachreflexionen
In diesem Kapitel soll nun der Versuch angestellt werden, die Sicht Nietzsches auf Sprache, speziell deren Leistungsfähigkeit bezüglich der Wirklichkeitsbeschreibung darzustellen. Friedrich Nietzsche gilt als einer der Ersten, der sich in seinen philosophischen Schriften mit dem Verhältnis zwischen Sprache und Wirklichkeit auf einer erkenntnistheoretischen Ebene beschäftigte. Viele Jahrzehnte bevor sich der Begriff vom „liguistic turn“ in der Philosophiegeschichte etablierte,1 hatte Nietzsche bereits eine Sprachkritik formuliert, die aus einer radikal wahrheitskritischen Perspektive heraus nicht nur der traditionellen Metaphysik ein existentielles Gebrechen attestierte, sondern jegliche Form von Erkenntnis der Wirklichkeit in Frage stellte. Den Gegenstand der Analyse soll im folgenden seine Abhandlung „Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinn“ (1873) darstellen. Erwähnt sei dazu noch, dass es selbstverständlich einige andere nachgelassene Schriften Nietzsches gäbe, die bei der Untersuchung seiner Sprachkritik zusätzlich herangezogen werden könnten. Um jedoch im Rahmen dieser Hausarbeit zu bleiben, beziehen sich die folgenden Ausführungen lediglich auf den genannten Aufsatz aus den frühen Jahren seiner philosophischen Schaffenszeit, der von den meisten Nietzsche-Forschern als der zentrale Text für Nietzsches Sprachdenken angesehen wird.2 Konträre Meinungen sehen dagegen eine gewisse Diskrepanz zwischen seiner Sprachkritik von 1873 und späteren Ausführungen. So berichtet beispielsweise Biebuyck von „geradezu spektakulären Verwandlungen“3 bezüglich Nietzsches Sprachdenken, die er in dessen späteren Schriften erkannt zu haben glaubt. Clark geht sogar noch einen Schritt weiter, in dem sie die These aufstellt, dass Nietzsche die Ansichten seiner frühen Sprachkritik später gar aufgegeben hätte.4 Die folgende Ausarbeitung geht jedoch von der Repräsentationsfähigkeit des Nietzschen Sprachdenkens durch WL aus und beruft sich dabei auf die diesbezüglichen Forschungen von Hans Hödl, der anhand von Nietzsches in seinen späteren Jahren verfassten Vorworten zu den Neuauflagen der früheren Schriften nachvollziehbar belegen konnte, dass die Selbstinterpretationen Nietzsches den Schluss, er hätte sich von seinem in WL artikulierten Standpunkt entfernt, nicht zulassen.5 Hödl hält es nach seiner wissenschaftlichen Auseinandersetzung stattdessen „für legitim, WL eine Sonderstellung innerhalb der nachgelassenen Fragmente und Schriften Nietzsches zuzusprechen.“6
Der Aufsatz "über Wahrheit und Lüge im Außermoralischen Sinne" beginnt mit einer Fabel, die zusammen mit Nietzsches anschließendem Kommentar seine erkenntniskritische Sicht sofort untermauert. Alleine die in der Fabel enthaltene Wertung, dass die eine Minute, nach der „kluge Tiere das Erkennen erfanden“ (sie fanden das Erkennen nicht durch das Objekt, sondern erfanden das Erkennen vom Subjekt her) „die hochmütigste und verlogenste Minute der „Weltgeschichte“ (WL 875) gewesen sei, lässt diesen Schluss zu. In dieser Fabel wird die Erkenntnis zum einen als erfundenes Konstrukt dargestellt, zum anderen wird durch ihre lediglich einminütige Existenzdauer die Vorstellung sie besäße einen metaphysischen Charakter ad Absurdum geführt.7 Somit verdeutlicht Nietzsche schon in der Einleitung seinen Standpunkt und entwickelt darauffolgend aus einer radikalen Sprachkritik eine stichfeste Argumentation für die vorangestellte Kritik an der traditionellen Metaphysik durch deren Abhängigkeit von Sprache.
"wie steht es mit jenen Konventionen der Sprache? Sind sie vielleicht Erzeugnisse der Erkenntnis, des Wahrheitssinnes, decken sich die Bezeichnungen und die Dinge? Ist die Sprache der adäquate Ausdruck aller Realitäten?" (WL 878)
Mit diesen Fragen, die nach Art der rhetorischen Frage keine unmittelbare Antwort erwarten, sondern als in diesem Kontext verneinende Aussagen konzipiert sind, leitet Nietzsche seine Thesen und Argumentationen gegen die Sprache als Medium zum Erfassen der Wirklichkeit ein, um wie Hödl vermutet "den Eindruck des in der Folge Entwickelten zu stärken, einen sozusagen in den Gedankengang hineinzuziehen, ein Pathos aufzubauen."8 Nietzsche sieht keine direkte Beziehung zwischen den Sprachkonventionen und den Wesen der Dinge an sich. Ein Wort nach Nietzsche ist "die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten"(WL 878), weshalb der Ursprung der Sprache eine "ganz subjektiven Reizung"(WL 878) ist, die allein schon durch ihre untrennbare Abhängigkeit zu einer bestimmten physischen Verfasstheit des Individuums nicht als Medium einer objektiven Wahrheit dienen kann.9 Auch einer direkten Wirkung der Objekte im Subjekt durch den Reiz, das Bild und letztendlich das Wort widerspricht Nietzsche bestimmt, denn dies würde, wie Scheibenberger es nachvollziehbar interpretiert, "nach Nietzsche dem Verhältnis zwischen Welt und Ich Kausalität unterstellen, also eine anthropomorphe Abstraktionskategorie [...] als wirkliches Verhältnis missdeuten."10 Nietzsche macht im Folgenden beispielhaft auf die höchst unvollkommene Übertragung der Wirklichkeit in die Sprache aufmerksam, indem er auf die Verteilung der grammatischen Geschlechter hinweist ("welche willkürlichen Übertragungen! Wie weit hinausgeflogen über den Kanon der Gewissheit"(WL 878)) oder auf die Namensgebung der "Schlange", die lediglich von einem Merkmal nämlich dem "Sichwinden" abgeleitet ist ("Welche willkürlichen Abgrenzungen, welche einseitigen Bevorzugungen bald der bald jener Eigenschaft eines Dinges!"(WL 879)). Diese Diskrepanz, die zwischen der Wirklichkeit und dem Wort liege, entstünde nach Nietzsche durch die unvermeidbaren Sphären-Wechsel bei der Wortbildung, die einzig durch Metaphern überbrückt werden könnten. Der Ausdruck der Metapher, den Nietzsche mit den Worten "Metapher heißt etwas als gleich behandeln, was man in einem Punkte als ähnlich erkannt hat" beschreibt, wird hierbei „nicht im Sinne einer Bedeutungsübertragung oder -verschiebung, sondern grundlegend bereits für den Übergang vom Nervenreiz zur Empfindung“11 verwendet.
"Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher." (WL 879)
Sprache besteht für Nietzsche demnach aus Metaphorisierungsprozessen, die fortwährend und stufenartig verlaufen.12 Aus dem Nervenreiz, hervorgerufen durch die subjektive Wahrnehmung eines Dinges, wird ein Bild, aus dem Bild ein Wort und schlussendlich aus dem Wort ein Begriff oder wie Hödl es treffend formuliert: „ [Empfindungen werden schrittweise] in ein rhetorisch strukturiertes Geflecht von Bedeutungen [...] übersetzt, also: textualisiert“13. Für Nietzsche ist Metaphorik die Grundlage und schöpferische sowie allgegenwärtige Kraft jeder Sprache, zugleich aber eben auch durch ihr Wesen vom "Gleichsetzen des Nichtgleichen" (WL 880) dafür verantwortlich, dass am Ende der metaphorischen Übertragungsprozesse ein Begriff steht, der bis aufs äußerte reduziert und verallgemeinert hat, was das zu beschreibende individuelle Objekt eigentlich darstellt und somit keine objektive Wirklichkeitsrepräsentation leisten kann. Dass Nietzsche dieses Prinzip der Weltwahrnehmung durch subjektive Metaphorisierung trotz seiner Kritik an deren Oberflächlichkeit für alternativlos betrachtet, macht folgendes Zitat deutlich: "Jener Trieb zur Metapherbildung, jener Fundamentaltrieb des Menschen, den man keinen Augenblick wegrechnen kann, weil man damit den Menschen selbst wegrechnen würde, [...]" (WL 887). Nietzsche betont sogar immer wieder auch die konstruktive und lebenserhaltende Funktion der Sprache. Wie sonst könnte sich der Mensch in einer so komplexen und unfassbar vielfältigen Welt zurechtfinden, hätte er nicht die Sprache als ordnendes und strukturierendes Instrument zur Wahrnehmung und Verarbeitung der Wirklichkeit. Mit folgenden Worten rühmt er die begriffliche Sprache als menschliche Leistung: "Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fließendem Wasser das Auftürmen eines unendlich komplizierten Begriffsdomes gelingt" (WL 882)
Somit lässt sich konstatieren, dass es Nietzsche in seiner Sprachkritik nicht darum geht, Sprache seinen Platz als Medium der menschlichen Wirklichkeitswahrnehmung streitig zu machen. Er hat weder ein neues Konzept, schließlich drückt er sich in seinem Aufsatz ja selbst durch Sprache aus, noch sieht er einen realistischen Optimierungsspielraum der Sprache als Mittel der Menschen zur Wirklichkeitserfassung. Vielmehr scheint es ihm darum zu gehen, an die unveränderbare Unvollkommenheit der Sprache zu erinnern und damit ein Bewusstsein für die grundsätzliche Unmöglichkeit einer menschlichen Erkenntnis oder gar Wiedergabe der objektiven Wirklichkeit zu schaffen. Denn "Nur durch das Vergessen jener primitiven Metapherwelt, nur durch das Hart- und Starrwerden einer ursprünglichen in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse, nur durch den unbesiegbaren Glauben, diese Sonne, dieses Fenster, dieser Tisch sei eine Wahrheit an sich, kurz nur dadurch, dass der Mensch sich als Subjekt, und zwar als künstlerisch schaffendes Subjekt vergisst" (WL 884) könne der Mensch dazu kommen zu glauben, er besitze eine Wahrheit. Nietzsche spricht mit seinen Ausführungen nicht weniger als der gesamten traditionellen Metaphysik, der Grunddisziplin der Philosophie durch deren Abhängigkeit von Sprache ihre Legitimität ab.
[...]
1 Vgl. Tebartz-van-Elst 1994, S. 110
2 Vgl. Hödl 1997, S. 13 ff.
3 Biebuyck 1994, S. 122
4 Vgl. Clark 1990, S. 43
5 Vgl. Hödl 1997, S. 36f.
6 Hödl 1997, S. 38
7 Vgl. Hödl 1997, S. 70
8 Hödl 1997, S. 77
9 Vgl. Scheibenberger 2016, S. 41
10 Scheibenberger 2016, S. 41
11 Hödl 1997, S. 83
12 Vgl. Zunjic 1987, S. 153
13 Hödl 1997, S. 92f.
- Quote paper
- Jakob Wasserscheid (Author), 2017, Ein Vergleich zwischen Nietzsches Sprachreflexionen und von Hofmannsthals "Chandosbrief", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1364360
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