Historisch betrachtet kann aus heutiger Sicht der Eindruck entstehen, behinderten Menschen sei über Jahrhunderte hinweg die Menschenwürde aberkannt worden. Gerade sie sahen sich vielfach an. Idealen und Wertvorstellungen ihrer Zeit gemessen und ,,verurteilt". Einerseits als ,,Ausgeburten der Hölle" verschrien und verstoßen, konnten sie andererseits als eine Art wertloser sozialer Ballast ,,weggeworfen" (ertränkt, erstickt, ausgesetzt oder anderweitig getötet) werden. Ohne aufrichtige Ambitionen schmälern zu wollen, dienten sie manchem in seiner Hilfsbereitschaft aber auch als willkommenes Sprungbrett für ein adäquates himmlisches Leben nach dem Tode. So haben viele behinderte Menschen in vergangenen Jahrhunderten als Opfer einer vermessenen Mittel-Zweck-Relation für Beweg- und Abgründe menschlicher Existenzen hinhalten müssen. Auf dem Boden gedanklicher Umorientierungen der Neuzeitund einer Rückbesinnung auf christliche Motive wie Fürsorge und Bildung entwickelte sich ein neuer Maßstab, an dem die Anerkennung zum Menschen festgemacht werden sollte - eine Bildungs- und Erziehungs-fähigkeit, die sowohl die Bedürftigkeit als auch den Anspruch auf Befriedigung der Bedürftigkeit als gleichzeitige Rechtfertigung für menschliches Leben ableiten ließ. In diesem Sinne wurde der Mensch erst zum Menschen durch Erziehung und Bildung. Vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen und unter Berücksichtigung der Texte von Antor/Bleidick und Seifert sollen sich die folgenden Ausführungen in kritischer Weise sowohl mit den Chancen als auch mit den möglichen Gefahren einer Orientierung auseinandersetzen, die das ,,Menschsein" an einem außerhalb seiner selbst liegenden Wertmaßstab festzumachen versucht und nicht an seiner bloßen Existenz.
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INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung
1. Begriffsklärungen
1.1 Erziehung
1.2 Bildung
1.2.1 Kritische Anmerkung
1.3 Der Zusammenhang von Erziehung und Bildung
1.4 Schwerstbehinderung
2. Die Bedeutung der Definitionsinhalte von Erziehung und Bildung für schwerstbehinderte Menschen
3. Bildungsfähigkeit und Recht auf Bildung - Eine Gratwanderung?
4. Schlußbemerkungen
Literaturverzeichnis
Einleitung
Historisch betrachtet kann aus heutiger Sicht der Eindruck entstehen, behinderten Menschen sei über Jahrhunderte hinweg die Menschenwürde aberkannt worden. Gerade sie sahen sich vielfach an Idealen und Wertvorstellungen ihrer Zeit gemessen und ,,verurteilt" . Einerseits als ,,Ausgeburten der Hölle" verschrien und verstoßen, konnten sie andererseits als eine Art wertloser sozialer Ballast ,,weggeworfen" (er-tränkt, erstickt, ausgesetzt oder anderweitig getötet) werden. Ohne auf-richtige Ambitionen schmälern zu wollen, dienten sie manchem in seiner Hilfsbereitschaft aber auch als willkommenes Sprungbrett für ein adäqua-tes himmlisches Leben nach dem Tode. So haben viele behinderte Men-schen in vergangenen Jahrhunderten als Opfer einer vermessenen Mittel-Zweck-Relation für Beweg- und Abgründe menschlicher Existenzen hinhal-ten müssen. Auf dem Boden gedanklicher Umorientierungen der Neuzeitund einer Rückbesinnung auf christliche Motive wie Fürsorge und Bildung entwickelte sich ein neuer Maßstab, an dem die Anerkennung zum Menschen festgemacht werden sollte - eine Bildungs- und Erziehungs-fähigkeit, die sowohl die Bedürftigkeit als auch den Anspruch auf Befriedigung der Bedürftigkeit als gleichzeitige Rechtfertigung für mensch-liches Leben ableiten ließ. In diesem Sinne wurde der Mensch erst zum Menschen durch Erziehung und Bildung. Vor dem Hintergrund historischer Entwicklungen und unter Berücksichtigung der Texte von Antor/Bleidick und Seifert sollen sich die folgenden Ausführungen in kritischer Weise sowohl mit den Chancen als auch mit den möglichen Gefahren einer Orientierung auseinandersetzen, die das ,,Menschsein" an einem außerhalb seiner selbst liegenden Wertmaßstab festzumachen versucht und nicht an seiner bloßen Existenz.
1. Begriffsklärungen
1.1 Erziehung
Seifert bezieht sich in seinen Ausführungen auf Bürgel, Langeveld und Dilthey, wenn er Erziehung als jenes gesellschaftliche Streben bezeichnet, dem Kind unter Berücksichtigung seiner individuellen besonderen Eigen-schaften eine Lebenswelt zu gestalteten, die auf seinen Bedürfnisse auf-baut und für die es auch in zukunftorientierter Hinsicht lernt Verantwor-tung sowohl für sich als auch für eine gesellschaftliche Erneuerung zu übernehmen.1
1.2 Bildung
Der Bildungsbegriff ist Teil einer bildungstheoretischen Didaktik, die - etwa in der Zeit der Aufklärung verwurzelt - als eine doch recht alte theo-retische Grundlage auch heute noch zu den gebräuchlichen Didaktiken an Schulen zählt.2 Historisch betrachtet haben Personen wie Humboldt, Pestalozzi, Schleiermacher, Herbart und schließlich auch Kant wesentlich zur Prägung und Weiterentwicklung des Verständnisses von Bildung beigetragen.3 Unter anderem hat sich Klafki als Vertreter einer modernen Bildungstheorie mit dem Bildungsbegriff auseinandergesetzt. Unter einer Vielfalt von Definitionsmöglichkeiten und -ansätzen kann Bildung in diesem Sinne verstanden werden als
prozeßartige, selbsttätige Auseinandersetzung mit der Welt im Austausch mit anderen Menschen vor dem Hintergrund historisch-gesellschaftlich-kultureller Gegebenheiten und mit dem Ziel, zu vernünftiger Selbstbestimmung befähigt zu werden, ohne die Freiheit des anderen durch das eigene Freiheitsbestreben einengen zu wollen. 4
Auch Seifert verweist auf eine relative Uneindeutigkeit in der Definition von Bildung5. Daher soll der vorgenannten eine weitere Definitionsvariante als Zitat kontrastierend gegenübergestellt werden:
Bildung ist das Ergebnis einer Formung einer Person, die durch verschiedene Bindungen und Bezugspersonen und durch verschiedene Institutionen, angereichert durch umliegende Materialien und Medien, gegangen ist.6
1.2.1 Kritische Anmerkung
Während der erste Definitionsversuch stark idealisiert mit Begriffen wie Freiheit, Selbsttätigkeit und Vernunft agiert, scheint doch der zweiten Definitonsvariante eher ein Hauch von Bodenständigkeit anzuhaften. Interessant ist, daß Frau Schlüter den Begriff Bildung nicht mit jenen idealisierten Vokabeln verbindet, sondern in eher nüchtern realistischer Weise einen Weg beschreibt, den eigentlich jeder Mensch im Laufe seines Lebens geht - einen Weg, der geprägt ist durch Individualität bezüglich der Bindungen, der Bezugspersonen sowie der unterschiedlichen Insti-tutionen. So versteht sie in diesem Sinne Bildung als das individuelle Ergebnis von Prägung und Beeinflussung durch Dritte.
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- Arbeit zitieren
- Andrea Hoesch (Autor:in), 1999, Bildung und Erziehung in der Rechtfertigungsdiskussion zum ´Menschsein´ - eine Chance oder Gefahr für schwerstbehinderte Menschen?, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1358