In der Literatur ist im Zusammenhang mit dem britischen Adel nach 1880 häufig von einem Untergang berichtet worden. Verkäufe eines Großteils ihrer ländlichen Besitzungen und ein allgemeiner Verlust an Prestige, bis hin zur vollständigen Auslöschung aus dem gesellschaftlichen Leben sollen sich in einem nicht umkehrbaren Prozess vollzogen haben. „This attack on the economic position of the landed elite was accompanied by a simultaneous attack on their social and political position by the advance of democracy.“ Doch stellt sich aus der heutigen Sicht immer mehr die Frage, ob diese Darstellung die Realität richtig widerspiegelt. Es zeigt sich nämlich, dass ein großer Teil des britischen Adels in der heutigen Zeit wieder an seine alte gesellschaftliche Position anknüpfen kann. Die Frage, die sich hier stellt, ist die nach dem Charakter des Verfalls, der vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt. Gab es diesen Verfall überhaupt oder handelte es sich nicht viel mehr um einen Transformationsprozess, der in der Öffentlichkeit schlichtweg fehl interpretiert wurde?
Inhaltsverzeichnis
1. Fragestellung
2. Einleitung
3. Kennzeichen des britischen Adels
3.1 Besitzverhältnisse
3.2 Die gesellschaftlichen Verhaltensnormen des Adels
4. Ausgeübter Druck auf den Adel
4.1 Wirtschaftlicher Druck
4.2 Politischer Druck
5. Das Wiederaufleben des britischen Adels
5.1 Der Wiederaufstieg
5.2. Unterschiede im Adel
6. Die neue Rolle des Adels
7. Schlussbetrachtungen
8. Literaturverzeichnis
1. Fragestellung
In der Literatur ist im Zusammenhang mit dem britischen Adel nach 1880 häufig von einem Untergang berichtet worden. Verkäufe eines Großteils ihrer ländlichen Besitzungen und ein allgemeiner Verlust an Prestige, bis hin zur vollständigen Auslöschung aus dem gesellschaftlichen Leben sollen sich in einem nicht umkehrbaren Prozess vollzogen haben. „This attack on the economic position of the landed elite was accompanied by a simultaneous attack on their social and political position by the advance of democracy.“[1] Doch stellt sich aus der heutigen Sicht immer mehr die Frage, ob diese Darstellung die Realität richtig widerspiegelt. Es zeigt sich nämlich, dass ein großer Teil des britischen Adels in der heutigen Zeit wieder an seine alte gesellschaftliche Position anknüpfen kann. Die Frage, die sich hier stellt, ist die nach dem Charakter des Verfalls, der vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts anhielt. Gab es diesen Verfall überhaupt oder handelte es sich nicht viel mehr um einen Transformationsprozess, der in der Öffentlichkeit schlichtweg fehl interpretiert wurde?
2. Einleitung
Zunächst muss festgehalten werden, dass eine Definition des britischen Adels eine schwierige Aufgabe darstellt. Eine Abgeschlossenheit zu den anderen gesellschaftlichen Schichten des Landes ist nämlich nicht eindeutig feststellbar.[2] Mit dem Verlust von Macht und Geld verliert man automatisch den Zutritt zur gehobenen Gesellschaft, was mit dem Verlust des Titels einhergeht. Daraus folgt, dass es keinen verarmten Adel gibt. Auf der anderen Seite war es erfolgreichen Kaufleuten oder Industriellen aus dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum durchaus möglich, geadelt zu werden und somit in die höheren Kreise der Gesellschaft aufgenommen zu werden. Zudem wurde es seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für die gesamte Oberschicht immer schwieriger, den gewohnten Lebensstil aufrecht zu erhalten. Neue Steuern, ein stetiger Verlust von politischem Einfluss, der Zusammenbruch der Argrapreise in den 1870er Jahren sind als Auslöser für den Zerfall der Elite zu benennen. Doch gibt es auch Tendenzen in der Aristokratie, sich den neuen wirtschaftlichen Realitäten anzupassen. Reiche Adlige begannen, sich in wirtschaftlicher Sicht wie wohlhabende Bürger zu verhalten, während diese wiederum begannen, die alte Oberschicht in ihrem Verhalten zu imitieren. Land wurde in einem erheblichen Ausmaß veräußert und eine Art ‚Versteckspiel’ des Adels begann.
Aufgrund dieser undurchsichtigen Verhältnisse muss erst einmal geklärt werden wie sich der Adel selbst definierte. Danach soll gezeigt werden wie sich dieses Verhalten im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts verändert hat, um daraus ersichtlich zu machen wie das Missverständnis vom Untergang des britischen Adels zustande gekommen ist. Die neuen Aufgaben des Adels werden im Gegensatz zu den alten gezeigt und auf diese Weise wird deutlich gemacht, dass der alte Adel immer noch seine eigene, sehr lebendige gesellschaftliche Stellung besetzt.
3. Kennzeichen des britischen Adels
3.1 Besitzverhältnisse
Für den niederen Adel (Gentry) wie auch für den Hochadel (Peer) galten bestimmte Verhaltensnormen, die strikt einzuhalten waren, um deutlich zu machen, dass man sich von der übrigen Bevölkerung abhob und zur Elite gehörte. Dazu zählten nicht nur der Adelstitel, ein gewisses Maß an Reichtum, eine höhere Bildung und ein gutes Benehmen sondern auch der Besitz von großen Landgütern. Da der Adelstitel nur an den ältesten Sohn einer Familie weiter vererbt werden konnte, wurde es so auch für Aufsteiger aus dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum ohne Adelstitel einfacher, in den niederen Adel aufgenommen zu werden. Durch Heirat oder durch Adelung kamen so immer wieder neue Familien in die gehobene Gesellschaft, die frisches Blut und vor allem viel neues Geld mitbrachten[3]. Hiermit zeigt sich, dass der britische Adel keine abgeschlossene Einheit war, wie es im übrigen Europa verstärkt der Fall war, sondern eine Schicht, die für alle, wenn auch nur theoretisch, erreichbar war. Das wirkte sich stabilisierend auf die Stellung der Oberschicht aus, da sie sich nicht in einer starken Opposition zum Bürgertum befand, wie es in anderen Ländern ohne Aufstiegschancen üblich war. Es war nicht das Ziel der Bürger , den Adel abzuschaffen. Sie wollten selbst in ihn aufgenommen werden und mit den entsprechend erbrachten Leistungen waren die Chancen eines Aufstiegs auch immer gegeben. Zu den wichtigsten, kennzeichnenden Attributen eines Adligen gehörte selbstverständlich das große Vermögen. Das Leben in adligen Kreisen war sehr kostspielig und einer Arbeit nachzukommen schickte sich in diesen Kreisen nicht. Die „rent“ des Landbesitzes war die übliche, für den niederen Adel oft sogar die einzige Einnahmequelle bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts. Einige Peers besaßen sogar mehr als 100.000 Morgen Land[4], das an Bauern verpachtet wurde, die wiederum für die „rent“ aufkamen. So erhielten um das Jahr 1880 „The Greatest British Landowners“ feste jährliche Einkommen von £76.000 bis £290.000[5]. Das nach außen hin sichtbarste Zeichen eines Peers war jedoch sein Landsitz (estate) bzw. seine Landsitze, auf denen er die meiste Zeit des Jahres verbrachte. Eine Größe von mehreren Tausend Acre war für ein estate durchaus üblich. Blenheim Palace verfügt heute noch über eine Größe von 11,500 Acre, damit entspricht es noch ungefähr der Hälfte der größten Ausdehnung[6]. Wegen seinen riesigen Landgütern wurde der britische Adel auch oft als Landadel bezeichnet. Die estates waren Zeichen nicht nur für den Reichtum sondern auch für den großen gesellschaftlichen Einfluss, den der Adel zu dieser Zeit in England besaß.
3.2 Die gesellschaftlichen Verhaltensnormen des Adels
In den oberen gesellschaftlichen Kreisen war ein Ansehen als „Gentleman“ ebenso wichtig wie großes Vermögen. Kultivierte Umgangsformen, eine sehr gediegene Sprache und der Anspruch, stets gut gekleidet zu sein waren unwiderlegbare Zeichen eines solchen „Gentlemans“. Da Arbeit in der gehobenen Gesellschaft nicht gut angesehen war, hatte der Adel einige exklusive Freizeitvergnügungen wie Fuchsjagd oder Pferderennen. Diese ‚Hobbys’ waren nicht nur teuer sondern exklusiv dem Adel vorbehalten. Das Erwerben italienischer Kunstschätze gehörte damals, wie auch die Jagd und das Pferderennen, zum guten Ton. Die „Grand Tour“ als Abschluss der Ausbildung brachte die jungen Adligen in die verschiedensten Teile Europas, um die jeweiligen Kulturen und Sprachen kennen zu lernen. Nur die Kombination aus Reichtum und dem guten Benehmen eines „Gentlemans“ öffnete den Weg in die höchsten Kreise. Die Bildung des Adels, die über dem Durchschnitt des europäischen Adels lag, meinte hierbei jedoch die Erziehung nach einem Ideal der oberen Gesellschaft. Die Vermittlung von Wissen gehörte zum Gepräge bürgerlicher Bildung[7], nicht zu dem des Adels. Mit der Ausbildung, die sehr breit gefächert war, konnte ein Adliger jedoch als Beamter, Diplomat oder als Offizier in der britischen Armee eine Anstellung finden. Dies waren vor dem Ende des 19. Jahrhunderts die einzigen im Adel anerkannten Möglichkeiten, einer erwerbsmäßigen Tätigkeit nachzukommen.
[...]
[1] Mandler: The Fall and Rise of the British Aristocracy, S. 41.
[2] Thompson: I Property: Collapse and Survival, S. 7.
[3] Vgl. Thompson: IV Prestige without Power?, S. 9.
[4] Vgl. Nobst: Tradition und gesellschaftlicher Wandel, S. 11.
[5] Vgl. Cannadine, The Decline and Fall of the British Aristocracy, S. 710.
[6] Vgl. Thompson: I Property: Collapse and Survival, S. 1.
[7] Vgl. Neumann, Der Adel im 19. Jahrhundert in Deutschland und England im Vergleich, S.163.
- Quote paper
- Christian Schultze (Author), 2007, Der britische Adel: Niedergang und Wiederaufstieg, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135647