Wohnen zählt zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Die räumliche Abgrenzung einer Wohnung bietet einen geschützten Raum, Kontinuität und Orientierung in einer sich ständig verändernden Umwelt, einen Ort der Selbstbestimmung und des Auslebens von Kreativität. Die Wohnung und das Wohnumfeld sind wichtige Handlungsräume, deren Bedeutung mit dem Älterwerden wachsen. Mehr frei verfügbare Zeit kann und muss, wenn sich der räumliche Aktionsradius verkleinert, auf das Wohnen verwendet werden. Gesundheitliche Einschränkungen können die Fähigkeiten zur selbstständigen Lebensführung in den eigenen vier Wänden oder die sozialen Kontaktmöglichkeiten außerhalb der Wohnung beeinträchtigen. Die Wohnumwelt als Ermöglichungs- und Anregungsraum kann bei entsprechender Gestaltung eine unterstützende Funktion bei der Alltagsbewältigung im Alter einnehmen.
Umfassende gesellschaftliche Veränderungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, welche unter anderem im demographischen Wandel ihren Ausdruck finden, erregen mit zunehmender Brisanz die wissenschaftliche und öffentlich-politische Aufmerksamkeit gegenüber den Lebenslagenrisiken des Alters. Im Kontext der offensichtlicher gewordenen fiskalischen Krise nicht nur des Sozialstaats, sondern auch der Kommunen sehen sich vor allem Verantwortungsträger der Sozialpolitik einem hohen Veränderungsdruck ausgesetzt.
Ebenfalls unter dem Druck demographischer Veränderungen haben sich auf lokaler Ebene speziell die Wohnungsunternehmen bereits den neuen Herausforderungen mit ihren eigenen Möglichkeiten gestellt. Die Bestände müssen einerseits an eine schrumpfende Mieterschaft insgesamt und andererseits an eine deutlich alternde Bewohnerstruktur angepasst werden.
In der vorliegenden theoretisch-empirisch angelegten Diplomarbeit wird sich eingebettet in den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang des demographischen Wandels im ersten Teil mit der Thematik 'Alter' und 'Altern' geselschaftshistorisch und lebenslagentheoretisch auseinandergesetzt. Darauf aufbauend wird die herausragende Bedeutung des 'Wohnens' im Alter dargestellt. Der zweite Teil der Arbeit führt über die Darstellung eines genossenschaftlichen Wohnungsunternehmens zu einer eigenen Untersuchung. Das herausgearbeitete Spannungsverhältnis zwischen strukturellen Voraussetzungen und den spezifischen Wohnbedürfnissen älterer Menschen wird hinsichtlich der Unternehmensgestaltung analysiert und in den sozialpolitischen Rahmen rückgebunden.
Inhalt
Einleitung
1 Demographischer Wandel
1.1 Disziplinäre und terminologische Zuordnungen
1.2 Bevölkerungstheoretische Grundlagen
1.3 Demographische Alterung — eine Bestandsaufnahme
1.3.1 Indikatoren
1.3.2 Ursachen
2 Alter und Altern
2.1 Alter und Altern — terminologische Einordnung
2.2 Alter(n) als Gegenstand der Gerontologie
2.3 Vergesellschaftung der Lebensphase Alter
2.4 Alter(n) im Strukturwandel der Moderne
2.4.1 Altersstrukturwandel
2.4.2 Biografisierung des Alters
2.5 Konzept der Lebenslage
2.5.1 Konzeptionelle Entwicklungslinien
2.5.2 Dialektik zwischen ,Verhalten` und ,Verhältnissen`
2.5.3 Alter und Lebenslage
3 Wohnen im Alter
3.1 Wohnen — Grundlagen
3.2 Wohnen als kulturelles Phänomen
3.3 Bedeutung des Wohnens im Alter
3.4 Wohnbedürfnisse im Alter
3.4.1 Wohnen unter der Prämisse eines ,gelingenden Alltags`
3.4.2 Umweltrelevante Bedürfnisse
4 Unternehmen der Wohnungswirtschaft in Suhl
4.1 Demographische Sondersituation
4.2 Unternehmen der Wohnungswirtschaft
4.3 Das Unternehmen AWG Wohnungsbaugenossenschaft
„Rennsteig" eG
4.4 Exkurs: Selbstverständnis der Wohnungsgenossenschaften
5 Empirische Untersuchung
5.1 Ziel der Untersuchung
5.2 Planung und Durchführung
5.2.1 Auswahl des Untersuchungsbeispiels
5.2.2 Auswahl der Methode
5.2.3 Auswahl der zu befragenden Person
5.2.4 Durchführung
5.3 Auswertung
5.3.1 Auswertungsmethode
5.3.2 Bestimmung der Fragestellung und Analyseebenen
5.3.3 Zusammenfassung der Ergebnisse
5.3.3.1 Unternehmensstrategie
5.3.3.2 Umsetzungspraxis
5.3.3.3 Konfliktlinien
6 Potenziale der Wohnungsgenossenschaften
Schluss
Literaturverzeichnis
Anhang
Einleitung
Wohnen zählt zu den Grundbedürfnissen des Menschen. Die räumliche Abgrenzung einer Wohnung bietet einen geschützten Raum, Kontinuität und Orientierung in einer sich ständig verändernden Umwelt, einen Ort der Selbstbestimmung und des Auslebens von Kreativität. Die Wohnung und das Wohnumfeld sind wichtige Handlungsräume, deren Bedeutung mit dem Älterwerden wachsen. Mehr frei verfügbare Zeit kann und muss, wenn sich der räumliche Aktionsradius verkleinert, auf das Wohnen verwendet werden. Gesundheitliche Einschränkungen können die Fähigkeiten zur selbstständigen Lebensführung in den eigenen vier Wänden oder die sozialen Kontaktmöglichkeiten außerhalb der Wohnung beeinträchtigen. Die Wohnumwelt als Ermöglichungs- und Anregungs-raum kann bei entsprechender Gestaltung eine unterstützende Funktion bei der Alltagsbewältigung im Alter einnehmen.
Umfassende gesellschaftliche Veränderungen innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, welche unter anderem im demographischen Wandel ihren Ausdruck finden, erregen mit zunehmender Brisanz die wissenschaftliche und öffentlich-politische Aufmerksamkeit gegenüber den Lebenslagenrisiken des Alters. Im Kontext „der offensichtlicher gewordenen fiskalischen Krise nicht nur des Sozialstaats, sondern auch der Kommunen" (BÖHNISCH 2005: 244) sehen sich vor allem Verantwortungsträger der Sozialpolitik einem hohen Veränderungsdruck ausgesetzt. Das bisher gültige Vergesellschaftungsmodell scheint den gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht mehr gerecht werden zu können. Die Voraussetzungen betreffen nicht nur die demographischen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf das soziale Sicherungs-system. Angesichts der Pluralisierung und Individualisierung von Lebensformen, Lebenslagen und Lebensläufen ist Alter von einer starken Differenzierung und Ausweitung geprägt, welche eine einheitliche Institutionalisierung zunehmend in Frage stellt (vgl. BACKES 1998: 45f.). Die Suche nach sozialpolitischen Bindungskräften neben den sozialstaatlich organisierten Versorgungsstrukturen richtet sich unter anderem an lokale Selbsthilfekapazitäten des Gemeinwesens und deren Mobilisierung. Hier erfahren genossenschaftliche Tugenden eine Renaissance.
Ebenfalls unter dem Druck demographischer Veränderungen haben sich auf lokaler Ebene speziell die Wohnungsunternehmen bereits den neuen Herausforderungen mit ihren eigenen Möglichkeiten gestellt. Auf dem Wohnungsmarkt werden demographische Entwicklungen als Erstes sichtbar und setzen die Unternehmen unter Handlungsdruck. Dieser ist in den neuen Bundesländern besonders stark ausgeprägt. So ist unter dem Titel „Stadtflucht in Thuringen" in der WELT zu lesen: „`'ie Probleme sind gewaltig`, so der Vorstandsvorsitzende der Wohnungsbaugesellschaft AWG Rennsteig [...]" (WELT 2009). Der Ausspruch bezieht sich speziell auf die Stadt Suhl, welche „als eine der am starksten schrumpfenden Städte Ostdeutschlands gilt. [...] In der Südthüringer Stadt, deren Einwohnerzahl seit 1990 von 58 000 auf unter 40 000 gesunken ist, steht in den kommenden Jahren [...] ein ganzer Stadtteil auf der Kippe" (WELT 2009). Hier zeigt sich die Dramatik, die sich auf der Seite der Wohnungswirtschaft auftut. Die Bestände müssen einerseits an eine schrumpfende Mieterschaft insgesamt und andererseits an eine deutlich alternde Bewohnerstruktur angepasst werden. Aushandlungsprozesse zu den Bedürfnissen alter Menschen finden explizit innerhalb von Wohnungsgenossenschaften statt, deren Selbstverständnis die Förderung ihrer Mitglieder in den Mittelpunkt ihres Agierens stellt.
Hier treffen sich sozialpolitische Intensionen mit genossenschaftlichen Selbsthilfe- und Selbstverantwortungspotenzialen zur bedarfsgerechten Gestaltung des Wohnens. Diese näher im Kontext der oben beschrie-benen demographischen Sondersituation Suhls zu ergründen, ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Dazu werden die Besonderheiten des Alter(n)s und des Wohnens im Alter den Möglichkeiten und Grenzen einer näher untersuchten Wohnungsgenossenschaft gegenübergestellt. Grundlage dessen ist die Herausarbeitung gerontologischer Erkenntnisse, zum einen über die Lebensphase des Alters und zum anderen hinsichtlich der Besonderheiten des Wohnens speziell im Alter. Die Gegenüberstellung mit einem Akteur des Wohnungsmarktes wird von den Fragen geleitet, wie reagiert das Unternehmen auf die veränderte demographische Situation, welche Möglichkeiten hat die Wohnungsgenossenschaft, auf die Lebenslagen einer zunehmend alternden Bewohnerstruktur mit einer entsprechenden Unternehmensausrichtung einzugehen.
Im ersten Schritt der Arbeit werden (1) gesellschaftliche Veränderungen in Form des demographischen Wandels ausgeführt, um dann im nächsten Kapitel (2) die Lebensphase des Alter(n)s näher zu erläutern. Neben einer geschichtlichen Zuordnung werden gerontologische Grundannahmen, welche das Alter(n) heute maßgeblich prägen, aus der Perspektive des Strukturwandels in der Moderne beschrieben. Mit dem Lebenslagenansatz wird ein systematischer Zugang näher erläutert, welcher Erklärungen für das Alter in seiner biografischen Genese und seiner Multidimensionalität bietet. Im folgenden Abschnitt stehen die (3) Besonderheiten des Wohnens im Alter im Mittelpunkt. Hier wird zunächst in einer allgemeinen Annäherung das Wohnen in seiner kulturellen Konstituierung umrissen, um dann eingehender dessen Bedeutung zu beschreiben. Im Anschluss werden die innerhalb der Gerontologie beschriebenen umweltrelevanten Bedürfnisse alter Menschen als Grundlage für die empirische Untersuchung ausgearbeitet. Im vierten Kapitel der Arbeit wird die (4) untersuchte Wohnungsgenossenschaft AWG ,,Rennsteig" und deren Rahmenbedingungen in der kreisfreien Stadt Suhl vorgestellt. Der nächste Abschnitt beinhaltet die (5) empirische Untersuchung. Nach der Erläuterung der Untersuchungsmethoden werden die Ergebnisse, gegliedert nach Unternehmensstrategie, Unternehmenspraxis und Konfliktlinien, zusammenfassend dargestellt. Abschließend folgt eine (6)
Bewertung der Potenziale der Wohnungsgenossenschaften hinsichtlich des Anregungs- und Unterstützungsgehalts für alte Menschen am Beispiel des untersuchten Unternehmens.
1 Demographischer Wandel
Das Phänomen des demographischen Wandels beschäftigt die sozialwissenschaftliche Forschung in den alten Bundesländern seit gut 30 Jahren (vgl. WINKEL 2005: 15). Dort setzte der Veränderungsprozess Ende der 60er Jahre mit einem deutlichen Geburtenrückgang ein. Das erstmalig auftretende Geburtendefizit — entgegen eines bis dato im Wesentlichen deutlichen Geburtenüberhangs — verstetigte sich und ist Kennzeichen der aktuellen demographischen Entwicklung. Dieser Wandel, welcher eine zunehmende Alterung der Bevölkerung nach sich zieht, ist nicht auf Deutschland begrenzt. Vielmehr betrifft dieser Trend des demographischen Wandels industrialisierte Länder verschiedenster Kontinente.
THIEME definiert in Anlehnung an MACKENROTHs Bevölkerungslehre (1953) den demographischen Wandel als eine grundlegende Veränderung der „ Bevölkerungsweise" (MACKENROTH 1953 in: THIEME 2008: 76). Damit sind jene Vorgänge gemeint, „die zu den statistisch erfassbaren Ereignissen der natürlichen Bevölkerungsentwicklung gehören" (ebd. 2008: 76). Das sind zum einen die Entwicklung der Sterbeverhältnisse und zum anderen die der Geburtenzahlen. Der Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung und die dauerhaft niedrige Fertilitätsrate bilden den Kern des heute vielschichtig diskutierten demographischen Wandels.
1.1 Disziplinäre und terminologische Zuordnungen
Die Folgen der demographischen Veränderungen berühren nahezu alle Teilbereiche der Gesellschaft. Als Beispiele können im kulturellen Bereich die Bildung als Kristallisationsort, im wirtschaftlichen Bereich die veränderten Nachfragestrukturen am Markt und im sozialen Bereich die neuen Herausforderungen intergenerationaler Beziehungen genannt werden. KARL SCHWARZ resumiert: „Es gab selten eine Zeit, in der die Demographen >...@ so gefragt waren wie heute.` (SCHWARZ 2002: 1)
Jedoch sind es nicht die sozialwissenschaftlichen Disziplinen allein, die sich dem Themenkreis des demographischen Wandels annehmen. Unterschiedlichste Wissenschaftsdisziplinen befassen sich mit den Ursachen und Auswirkungen des demographischen Wandels. Eine annähernde Vorstellung über das Disziplinspektrum bietet die Zusammen-stellung im Themenheft „Demographischer Wandel` der Wissenschaft-lichen Zeitschrift der TU Dresden im Jahr 2005 (KOKENGE 2005).
Trotz dieser Bandbreite wissenschaftlicher Auseinandersetzung liegt die originär disziplinäre Zuständigkeit bei der Bevölkerungswissenschaft und deren benachbarten Disziplinen. In Anlehnung an die Ausführungen von RAINER MÜNZ wird im Folgenden die Wissenschaft der Bevölkerung terminologisch näher bestimmt (vgl. MÜNZ 2008).
Die Bevölkerungswissenschaft, auch als Demographie bezeichnet, befasst sich mit der Analyse und Interpretation überwiegend quantitativ messbarer Bevölkerungsdaten. Ihr Gegenstand ist die Erforschung der Größe und strukturellen Zusammensetzung einer Bevölkerung. Kategorien zur Beschreibung der Bevölkerungsstruktur können sein: Alter, Geschlecht, Heiratsalter, Familienstand, Kinderzahl, Staatsbürgerschaft und ethnische Zugehörigkeit. Neben der Erfassung des Bevölkerungsbestandes, der Struktur, fällt ebenso die Erforschung der Bevölkerungsbewegung in die disziplinäre Zuständigkeit der Bevölkerungswissenschaft. Ursachen der Bevölkerungsbewegung sind demographische Faktoren: Geburten, Sterbefälle und Migration. Diese sind keine statischen Größen. Sie sind ständigen Bewegungen ausgesetzt, welche sich in natürliche und in räumliche Bevölkerungsbewegungen gliedern lassen. Die natürlichen Bewegungen resultieren aus der Fertilitätsrate und der Sterbeziffer. Räumliche Bewegungen sind das Ergebnis von Zuzügen und Fortzügen innerhalb der betrachteten Bevölkerungsgruppe (vgl. Brockhaus Enzyklopädie 1987: 247).
Demographische Strukturen in ihrer räumlichen und zeitlichen Differenzierung und deren Wirkzusammenhänge mit gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sind Ausgangspunkt spezialisierter Untersuchungen benachbarter sozialwissenschaftlicher Teildisziplinen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit bietet die Bevölkerungssoziologie grundlegende Erklärungszusammenhänge. Die Bevölkerungssoziologie als Teildisziplin analysiert über eine vorrangig beschreibende Bevölkerungsforschung hinaus die wechselseitigen Wirkungen demographischer Größen und gesellschaftliche Rahmenbedingungen bis hin zu mikrosoziologischen Ausprägungen.
Bevölkerungswissenschaftliche Untersuchungen liefern über die Bestandsaufnahmen und Erklärungszusammenhänge hinaus eine wichtige, die Zukunft betreffende Arbeitsgrundlage. Die Methode der Bevölkerungswissenschaft ermöglicht die Formulierung empirisch fundierter Prognosen. Auf der Basis struktureller Analysen der Altersverteilung einer Bevölkerung zu unterschiedlichen historischen Zeitpunkten können demographische Entwicklungen nachgezeichnet werden. Die Altersverteilung enthält sowohl Informationen über die Geschichte als auch über die Zukunft demographischer Entwicklungen. HÖPFLINGER bringt dies auf den Punkt, in dem er schreibt: „ In der aktuellen Altersstruktur der Bevölkerung begegnen sich sozusagen demographische Vergangenheit und demographische Zukunft." (HÖPFLINGER 1997: 179)
1.2 Bevölkerungstheoretische Grundlagen
Demographische Veränderungen hat es in der Geschichte der Menschheit schon immer gegeben. Bereits 1798 publizierte THOMAS ROBERT MALTHUS (1766-1834) allgemeingültige Zusammenhänge der Bevölkerungsent-wicklung in Europa. Das von ihm entworfene ,Bevölkerungsgesetz` beschreibt „die Tendenz der Menschen, sich schneller zu vermehren als ihre Nahrungsmittelgrundlage" (HÖPFLINGER 1997: 15). Erst Elend und Hungersnot regulieren der Argumentation folgend das ungebremste Wachstum der Bevölkerung. MALTHUS` Thesen pragen bevolkerungs-wissenschaftliche Diskussionen bis in die heutige Zeit. Zu jener Zeit lösten sie verbreitete Thesen ab, nach denen die „zunehmende Bevolkerung und Bevölkerungsdichte >..@ gottgewollt und zugleich sichere Zeichen des Glücks und der Wohlfahrt des Volkes" (BROCKE 2008: 1) sind. Das sinkende Geburtenniveau und eine zunehmende demographische Alterung zu Beginn des 20. Jahrhunderts relativierten die bevölkerungs-wissenschaftlichen Vorstellungen einer Wachstums-,Explosion` (vgl. HÖPFLINGER 1997: 15f.).
In der theoretischen Debatte der Bevölkerungssoziologie kommt dem Konzept des ,demographischen Obergangs` eine zentrale Bedeutung zu. Von WARREN THOMPSON und FRANK W. NOTESTEIN in den 1930er Jahren formuliert, beschreibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Absinken der Sterbeziffern aufgrund verbesserter Lebensverhältnisse und dem zeitlich versetzten Sinken der Geburtenrate als eine Anpassungsfolge. In späteren Forschungsarbeiten wurde dieses auf einer einfachen Kausalität beruhende Modell durch wesentlich komplexere Erklärungen abgelöst. Dennoch wird dem Konzept des demographischen Übergangs zugute gehalten, dass es bereits die Vorstellung einer systematischen Verbindung demographischer Entwicklungen mit wirtschaftlichen und sozialen Faktoren beinhaltet (vgl. HÖPFLINGER 1997: 34).
Die soziale Überformung des generativen Verhaltens kommt in GERHARD MACKENROTHs ,Bevölkerungslehre` (1953) deutlicher zum Ausdruck. Er nimmt eine Trennung von physischem Können, sozialem Dürfen und persönlichem Wollen vor. Geburten und Sterbevorgänge sind zwar teilweise biologischer Natur, jedoch auch „sozial überformt" (MACKENROTH 1953 In: SCHMIDT 2008: 1). So bestimmt eine Vielzahl spezifischer historischer Faktoren die generative Struktur einer Bevölkerung. Neben den zentralen Variablen Alter und Geschlecht sind „Familienstand,
Erwerbstätigkeit, Beruf und Ausbildungsgrad, Einkommen und Vermögen, Sozialstruktur und Größe des Wohnorts, Konfession und ethnische Zugehorigkeit" (Brockhaus Enzyklopadie 1987: 246) charakterisierend. Die soziale Überformung der demographischen Struktur ist Ausdruck eines gesellschaftshistorisch geprägten generativen Verhaltens. Dieser von MACKENROTH beschriebene Terminus liefert Anhaltspunkte über die „Menge der Geburten in einer bestimmten Bevölkerung in einem gegebenen Zeitabschnitt" (MACKENSEN 2002: 59).
Innerhalb der soziologischen Forschung besteht weitestgehend Einigkeit hinsichtlich der sozial-institutionellen Überformung demographischer Entwicklungen. Darüber hinaus gibt es konkurrierende theoretische Konzeptionen. Veränderungen der gesellschaftlichen Lage sind immer wieder Anlass für neue Untersuchungen und der Weiterentwicklung theoretischer Konzeptionen (vgl. MACKENSEN 2002: 64).
1.3 Demographische Alterung ± eine Bestandsaufnahme
„Wir leben in einer Dergrauenden Weltã >..@" (LEHR 2007: 30). Mit dieser Aussage meint LEHR den kontinuierlichen Anstieg des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung. Deutschland ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts von einer demographischen Alterung geprägt. Damit ist ein Prozess des Anstiegs der durchschnittlichen Lebenserwartung der Bevölkerung gemeint. Im Folgenden wird ein Überblick zu den demographischen Veränderungen der Bevölkerungsstruktur gegeben und deren zentrale Ursachen herausgearbeitet.
1.3.1 Indikatoren
Der demographische Wandel hat zu gravierenden Veränderungen in der Altersstruktur der deutschen Bevölkerung geführt und wird sich auch — so die Prognosen der Experten — in Zukunft fortsetzen (vgl. StBA 2006). Der Prozess ist durch die Abnahme der absoluten Bevölkerungszahl und
zugleich von einer kontinuierlichen Ausdehnung der älteren Bevöl-kerungsgruppe gekennzeichnet. Ein Blick auf die Entwicklungen der letzten ca. 100 Jahre bis hin zu prognostizierten Trends der nächsten vierzig Jahre eröffnet die Tragweite des Phänomens.
Seit dem Jahre 2003 geht die absolute Zahl der Bevölkerung zurück. Die Bevölkerungsentwicklung war bis dato von einem steigenden Trend bestimmt. Lag die Anzahl der Bewohner 1910 noch bei 65 Millionen, so war sie fünfzig Jahre später schon auf 73 Millionen angestiegen und erreichte im Jahre 2002 ihren Höchststand von 83 Millionen. Die seit 2003 einsetzende Schrumpfung der Bevölkerungszahl ist ein Trend, der sich gemäß der Elften koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung bis in das Jahr 2025 kontinuierlich fortsetzen wird (vgl. StBA 2006: 33ff.).
Die demographischen Veränderungen sind maßgeblich von einer ,dreifachen Alterung' geprägt (TEWS 1999: 138ff.). HANS PETER TEWS führt diese These an drei demographischen Determinanten aus.
Die absolute Zahl der über 60-Jährigen in der Bevölkerung nimmt zu. Im Jahre 1900 betrug die Alterspopulation der über 60-Jährigen 4,4 Millionen (TEWS 1999: 138). Sechzig Jahre später erfasst die Statistik schon 13 Millionen alte Menschen. Und im Jahre 2006 betrug deren Anzahl bereits 21 Millionen. Bis zum Jahre 2050 wird auch weiterhin ein Anstieg bis auf mindestens 28 Millionen in dieser Altersgruppe prognostiziert (StBA 2008: 42, 56).
Auch der relative Anteil alter Menschen in der Bevölkerung steigt tendenziell. Dies lässt sich an der Entwicklung des Altenquotienten, dem Verhältnis der über 65-Jährigen zur Bevölkerung im Erwerbsalter, verdeutlichen. Dieser lag 1910 bei knapp 10 zu 100 Personen im Erwerbsalter, 1960 schon bei 19,3 und im Jahre 2006 betrug er 32. Dieser rasante Anstieg setzt sich den Prognosen der Elften koordinierten Bevölkerungsvorausberechnung folgend bis zum Jahre 2050 massiv fort. Die Werte der Vorausberechnungen deuten auf enorme Verschiebungen der Altersstruktur. Auf 100 Personen im Alter von 20 bis 65 Jahren kommen demnach 56 über 65-Jährige Personen. Das ist nahezu einer Verdopplung gegenüber 2006 (BACKES/ CLEMENS 2003: 37).
Hinzu kommt der Rückgang des Jugendquotienten: 1910: 85,7; 1960: 47,3; 2006: 33. Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass langfristig keine Entlastung des Ungleichverhältnisses zwischen Erwerbsalter und Ruhestandsalter zu erwarten ist (BACKES/ CLEMENS 2003: 37).
Als dritte Determinante der demographischen Alterung führt TEWS die Zunahme der Hochaltrigkeit aus. Diese These besagt, dass es einen wachsenden Anteil hochbetagter Menschen innerhalb der Altersgruppe der über 65-Jährigen gibt. BACKES und CLEMENS haben diese Entwicklung anhand der Zuwachsraten im Zeitraum 1953 bis 2000 verdeutlicht. Obwohl in jenem Zeitraum die Bevölkerungszunahme insgesamt bei nur 17% liegt, beträgt die Zuwachsrate der Altersgruppe der über 60-Jährigen 78%. Besonders die Gruppe der Hochbetagten weisen überproportional hohe Zuwachsraten auf: Bei den über 80-Jährigen ist ein Zuwachs von 275% und eingeschränkt auf die Gruppe der über 90-Jährigen ist sogar ein Anstieg von 1521% zu verzeichnen. Die Zahlen verweisen auf eine überproportionale Zunahme der Hochaltrigkeit. Differenziert nach Geschlecht sind vor allem Frauen diejenigen, welche die Hochaltrigkeit erreichen (BACKES/ CLEMENS 2003: 37f.).
Die beschriebene Altersstruktur ist nur ein Durchschnitt verschiedener regionaler Ausprägungen. Regionalspezifische Veränderungen, wie z.B. die Arbeitsmarktlage, können Binnenwanderungen hervorrufen, welche die Altersverteilung einer Region verändern. Zwischen Gebieten der Zuwanderung und Gebieten der Abwanderung kann ein erhebliches demographisches Gefälle auftreten. Im Zuge der deutschen Vereinigung reagierten beispielsweise junge Arbeitskräfte auf die veränderte Arbeitsmarktsituation indem sie in die alten Bundesländer abgewandert sind. Diese Form der Abwanderung hat sich bis in die heutige Zeit fortgesetzt. Das hat dazu geführt, dass in einigen Regionen der neuen
Bundesländer eine mitunter besonders starke ,Überalterung` eingesetzt hat (vgl. BACKES/ CLEMENS 2003: 41).
1.3.2 Ursachen
Anhaltend niedrige Geburtenraten, steigende Lebenserwartung und sinkende Wanderungssalden sind zentrale Einflussfaktoren des demographischen Wandels und mithin des demographischen Alterungsprozesses.
(1) Die Entwicklungen der Fertilität haben einen nachhaltigen Einfluss auf die sich heute darstellende Bevölkerungsentwicklung genommen. Ende des 19. Jahrhunderts setzte eine Wende des generativen Verhaltens ein. Die in jenem Zeitraum beginnenden sozialstrukturellen Veränderungen, zu denen veränderte Produktionsweisen, Aufbau eines sozialen Sicherungssystems und die Option des Massenkonsums (vgl. LENZ et al 1999: 12) zählen, führten zu einem sprunghaften Geburtenrückgang. Bis zu diesem Zeitpunkt lag die zusammengesetzte Geburtenrate (TFR) noch bei 5 Geburten pro Frau. Bis auf einige Abweichungen in den 60er Jahren und in der DDR Mitte der 70er Jahre ist die Geburtenrate bis heute weiter gesunken und hat sich seit Mitte der 70er Jahre vor allem im alten Bundesgebiet um den Wert 1,4 eingepegelt. Im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in Ostdeutschland erreichte hier die Geburtenrate in den Jahren 1993 und 1994 Tiefstwerte von 0,77. Seit diesem Zeitpunkt nähert sich die ostdeutsche Geburtenrate zunehmend der westdeutschen an. Bezüglich der weiteren Entwicklung bis zum Jahre 2050 variieren die Erwartungen von 1,2 bis 1,6 Kinder je Frau (LENZ et al 1999: 11; StBA 2006: 8ff.).
Das anhaltende Geburtendefizit führt zur weiteren Verschlankung der nachwachsenden Generationen, und somit zu einem veränderten Altersaufbau der Gesamtbevölkerung. Die bis Anfang des 20. Jahrhunderts übliche Ausprägung in Pyramidenform verliert mit dem anhaltenden Geburtendefizit ihre breite Jugendbasis und nimmt damit eher die Form einer Tanne bzw. in der weiteren Entwicklung die eines Pilzes an.
(2) Ein weiterer Einflussfaktor der demographischen Alterung ist die veränderte Mortalität. Mit der Verbesserung allgemeiner Lebensbedingungen und dem medizinischen Versorgungsfortschritt sind insbesondere die Kindersterblichkeit, aber auch die Alterssterblichkeit seit dem Ende des 19. Jahrhunderts deutlich zurückgegangen. Die Lebenserwartung Neugeborener ist von 37 Jahre im Zeitabschnitt 18711881 bis zum Betrachtungszeitraum 1960-1962 auf 69,7 Jahre gestiegen. Dieser rasante Anstieg, der sich bis heute gemäßigter fortsetzt, ist vorrangig auf die verringerte Kindersterblichkeit zurückzuführen. Die Lebenserwartung 60-Jähriger im selben Zeitraum hat sich von 72,4 Jahre auf 77 Jahre erhöht. Aktuell (2002-2004) beträgt die Lebenserwartung der 60-Jährigen 82 Jahre, hierbei 80 Jahre bei den Männern und 84,1 bei den Frauen. Bis zum Jahre 2050 wird mit einem weiteren Anstieg der Lebenserwartung im Alter 60 im Variationskorridor von 5,2 bis 7 Jahren gerechnet (StBA 2006: 16f.).
(3) Auch die Migration bestimmt die Altersstruktur der Bevölkerung. Die Zuwanderung ist vorrangig von jüngeren Altersgruppen getragen. Deren Zuzug bewirkt eine kurzfristige Verjüngung. Da die Zuwanderer ihr generatives Verhalten jedoch tendenziell immer mehr denen der Einheimischen anpassen, geht davon keine nachhaltige Abschwächung der demographischen Alterung aus. Insgesamt hat sich Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (die DDR ausgenommen) zu einem Einwanderungsland entwickelt. Die Zuwanderungszahlen beruhen auf der Gastarbeitermigration, den Flüchtlingsmigrationen und der Rücksiedlung der deutschstämmigen Aussiedler (vgl. LENZ et al 1999: 15).
Bis zum Beginn der 90er Jahre hat das positive Wanderungssaldo den einsetzenden Schrumpfungs- und Alterungsprozess ausgleichen können. Seit Mitte der 90er Jahre ist jedoch das Saldo der zuwandernden Personen stark rückläufig. Auch in Zukunft wird in Deutschland die Nettozuwanderung zwischen 100 und 200 Tausend Personen liegen. Die Zuwanderer werden, entsprechend der Prognosen, die Schrumpfung und Alterung der deutschen Gesellschaft nicht aufhalten können (StBA 2006: 27ff.; StBA 2008a: 22).
2 Altern und Alter
Im Folgenden werden einige, das Phänomen Altern bzw. Alter näher bestimmende sozialwissenschaftliche Erkenntnisse dargelegt. Dabei geht es nicht um die Darstellung der gesamten Komplexität der Thematik. Ziel des Kapitels ist die Entwicklung eines Grundverständnisses hinsichtlich der mit Altern und Alter verbundenen Veränderungen und deren sowohl biografischen als auch gesellschaftshistorischen Konstituierung.
2.1 Alter und Altern ± terminologische Einordnung
Hinsichtlich der inhaltlichen Unterscheidung von Altern und Alter besteht weitestgehend Konsens. Altern bezeichnet einen mehrdimensionalen Prozess von Veränderungen (vgl. NIEDERFRANKE et al 1999: 25). Dieser Prozess kann sich sowohl auf einzelne Personen als auch auf die gesamte Bevölkerung beziehen. Dagegen beschreibt der Begriff Alter einen Zustand.
Wesentlich unbestimmter und zudem sehr vielschichtig stellt sich der Versuch dar, die Begriffe inhaltlich zu beschreiben. Was unter ,alt-sein` verstanden wird, unterliegt einer „Vielfalt gesellschaftlicher und kultureller Deutungen" (BACKES/ CLEMENS 2003: 13). Ein Leistungssportler im Alter von Anfang 30 wird in einigen Sportarten als ,alt` eingestuft. Er wird sich aufgrund seiner veränderten Leistungsfähigkeit umorientieren müssen. Ebenso wird ein arbeitsuchender Akademiker im Alter von 40 Jahren mitunter als ,zu alt` tituliert. Dagegen wird die rustige Rentnerin von 70 Jahren, die für sich das Nordic Walking entdeckt hat und zudem noch sehr sozial engagiert ist, als ,Jung-geblieben` bezeichnet. Die unterschiedliche inhaltliche Auslegung deutet auf die Existenz bestimmter gesellschaftlicher Altersbilder und die Vielschichtigkeit der Begriffe hin.
In einer auf Leistung ausgerichteten Gesellschaft wird mit ,Alter` haufig eine Abgrenzung zur ,Jugend` assoziiert: „Alter als Phase der eingeschränkten Leistungsfähigkeit, des Nicht-mehr-Mithalten-Könnens, >...@ aber auch als Phase des Zuruckblickens" (BACKES/ CLEMENS 2003: 13) auf ein erfahrungsreiches Leben. In dieser gegensätzlichen Bewertung kommt zum Ausdruck, dass Alter in der kulturellen Deutung sowohl negativ als auch positiv behaftet ist.
Die Vielschichtigkeit der Alterungsprozesse erfordert einen differenzierten Zugang zum Untersuchungsgegenstand Alter. Entsprechend befassen sich unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen auf ihre jeweils fachspezifische Herangehensweise mit Teilaspekten des Alterns. In Anlehnung an KÜHNs (2004) Ausführungen kann Alter kalendarisch bzw. chronologisch, gesetzlich institutionalisiert, biologisch, psychologisch und soziologisch betrachtet werden. Das kalendarische bzw. chronologische Alter gibt allein darüber Auskunft, wie viele Jahre in der Lebenszeit eines Menschen seit dessen Geburt vergangen sind. Anhand des kalendarischen Alters kann man jedoch keine tragfähigen Aussagen hinsichtlich einsetzender Alterungsprozesse machen. Dennoch verbinden sich damit bestimmte Vorstellungen, die gleich auf das nächste fachspezifische Ordnungsprinzip der gesetzlichen Altersgrenze hinweisen. Im Zuge der sozialstaatlichen Gesetzgebung wurden verschiedene Altersgruppen anhand von Altersgrenzen für sozialstaatliche Handlungszwecke definiert. Ein Beispiel ist die Festlegung des Rentenzugangsalters. Diese ursprünglich willkürlich gesetzten Alters-grenzen verfestigen sich im Bewusstsein der Bevölkerung als naturgegeben. Daran sind in Folge dessen bestimmte Erwartungen an die verschiedenen Lebensabschnitte gekoppelt. Das biologische Alter betrachtet aus biologischer und medizinischer Sicht die Alterung des Körperlichen: die Veränderungsprozesse der Organe, die irgendwann zum Tod führen. Die Betrachtung des psychologischen Alters stellt im Gegensatz zu den bisher beschriebenen Perspektiven das individuelle Altersempfinden des Menschen in den Mittelpunkt. Im Laufe des Lebens entwickelte Fähigkeiten und Kompetenzen bilden die Grundlage für die Leistungsfahigkeit im Alter. Der von „personlichen, gesundheitlichen und sozialen Faktoren" (KÜHN 2004) beeinflusste Lebenslauf bestimmt neben dem kalendarischen und biologischen Alter maßgeblich das ,Sich-alt-oder-jung-fuhlen`. In der sozialwissenschaftlichen Annäherung wird die gesellschaftliche Determiniertheit unterschiedlich herausgearbeitet. Alter ist bestimmt durch gesellschaftliche, mithin kulturelle Altersbilder, die Erwartungen produzieren. Nicht das „Erreichen eines bestimmten kalendarischen Alters, gewisse Merkmale der äußeren Erscheinung oder das Verhalten machen eine Person >...@ alt; erst die Vorstellungen und Meinungen, die in der Gesellschaft an diese Eigenschaft geknüpft sind, lassen sie in den Augen ihrer Umwelt, wie auch mit der Zeit in ihren eigenen, als »alt« erscheinen" (zit. nach HOHMEIER 1978 in: KÜHN 2004).
Für die vorliegende Arbeit ist zunächst eine begriffliche Zuordnung der als alte Menschen bezeichneten Gruppe notwendig. Mit Blick auf die Thematik ,Wohnen im Alter` erscheint eine am Renteneintrittsalter orientierte Altersbegrenzung zielführend. Dieses Alter dient jedoch nur der analytischen Orientierung. Dabei darf nicht übersehen werden, dass für viele Personen die Erwerbstätigkeit als tägliche außerhäusliche Verpflichtung vor der gesetzlich festgelegten Altersgrenze oder auch wesentlich später erst endet. Hinzu kommt die interindividuelle Bedeutungsvarianz der von arbeitsweltlichen Bezügen freigesetzten Zeit und deren entsprechende Gestaltung. Dennoch wird davon ausgegangen, dass mit der Beendigung der Erwerbstätigkeit und steigendem kalendarischen Alter ein höherer Anteil des Tages mit Wohnen verbracht wird. Der Bedeutungszuwachs der Wohnung und des Wohnumfeldes ist Ausgangspunkt der analytischen Abgrenzung der näher zu unter-suchenden Gruppe. Mit der Bezeichnung ,alte Menschen` sind im Folgenden die über 65-Jährigen gemeint.
2.2 Alter(n) als Gegenstand der Gerontologie
Die Beschäftigung mit Alter bzw. Altern ist ein recht junges wissenschaftliches Feld. Von einer systematischen Erforschung kann man, abgesehen von einigen Vorläufern im Bereich Biologie, Medizin und Psychologie, erst ab etwa 1960 sprechen. Der geringe Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung, der zudem keine gesellschafts-strukturelle Relevanz hatte, lieil dieses Thema weitgehend unerforscht. Das wissenschaftliche Interesse für das Alter als ein soziales Phänomen erwächst mit der Formierung des Alters als eine eigenständige Lebensphase mit eigenen Werten. Als das Alter sich zunehmend als ,soziales Problem' abzeichnet[1], etabliert sich mit einer zeitlichen Verzögerung eines reichlich halben Jahrhunderts die auf soziale und psychische Belange dieser Teilbevölkerung spezialisierte Wissenschaft der Gerontologie (vgl. BACKES/ CLEMENS 2003: 30f.).
Die mit Alter(n) befasste Gerontologie ist nicht als eine eigenständige, von anderen klar abgrenzbare Disziplin zu verstehen. Vielmehr betont sie ihre „multidisziplindre Breite" (KARL 2003: 7), die nur mit dem Ziel der Interdisziplinarität der multidimensionalen Thematik Alter(n) gerecht werden kann. Das Forschungsprogramm der Sozialen Gerontologie generiert sich „aus verschiedenen Disziplinen der Human-, Sozial-, Kultur-und Geisteswissenschaften" (ROSENMAYER 1991: 530). Sie befasst sich mit Alter(n) sowohl als individuelles als auch kollektives Thema. Die damit verbundenen psychologischen und sozialen Veränderungen werden im biologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext systematisiert. Die Definition von BALTES und BALTES (1992) hebt darüber hinaus das analytische Interesse gegenüber alternsbeeinflussenden Strukturen hervor. Entsprechend beschäftigt sich die Gerontologie „mit der Beschreibung, Erklärung und Modifikation von körperlichen, psychischen, sozialen, historischen und kulturellen Aspekten des Alterns und des Alters, einschließlich der Analyse von alternsrelevanten und alternskonstitu-ierenden Umwelten und sozialen Institutionen" (BALTES/ BALTES 1992 zit. in WAHL et al 1999: 15). Die theoretischen Zugänge der Psychologie und die der Soziologie gelten trotz der großen disziplinären Bandbreite des Faches als die tragenden Säulen der Alter(n)sforschung (vgl. KARL 2003: 7f.; LENZ et al 1999: 37).
2.3 Vergesellschaftung der Lebensphase Alter
,Alterµ als eigenständige Lebensphase liegt nicht in der menschlichen Natur begründet. Eigenständige Lebensphase heißt, dass es sich um eine sozialstrukturelle, aber auch kulturell abgrenzbare Teilgruppe der Gesellschaft handelt. Ein Blick in die gesellschaftshistorischen Entste-hungszusammenhänge lässt dieses Phänomen als gesellschaftliches Konstrukt deutlich werden.
Die Entwicklung des Alters als eigenständige Lebensphase reicht in der Menschheitsgeschichte nicht weit zurück. Die Vergesellschaftung des Alters ging erst mit der Industrialisierung einher. In der vorindustriellen Gesellschaft war das Alter ein individuell-biologisches Problem. Wenn jemand, gemessen an der durchschnittlichen Lebenserwartung, überhaupt ein höheres Lebensalter erreichte[2], gab es jeweils unterschiedliche kulturelle Umgangsformen. „Das Spektrum reicht von Ausgrenzen aus der Gesellschaft, dem Zurücklassen und sich selbst- und dem Tod-Überlassen bis hin zur Versorgung in familialen und nachbarschaftlichen Bezügen." (zit. nach BORSCHEID 1987 in: BACKES/ CLEMENS 2003: 26) Der Lebensverlauf älterer Menschen war im hohen Maße von sozialer Schichtzugehörigkeit, von Familienverhältnissen usw. abhängig.
Zu jener Zeit war Alter eine gesellschaftliche Randerscheinung. Im Verlauf der Industrialisierung wurde das bis dahin individuelle Schicksal zu einem sozialen Phänomen. Mit der Etablierung des Pensions- und Rentensystems, welches an kalendarische Altersgrenzen gekoppelt wurde, kam es zur Institutionalisierung der Altersphase. Die Festlegung eines Erwerbsaustritts- bzw- Renteneintrittsalters ermöglichte und erzwang zugleich eine Ruhestandsphase. Die so in ihren Grundzügen entstandene Altersphase wurde somit eine „chronologisch definierte, arbeitsfreie und sozialpolitisch abgesicherte Lebensphase" (CONRAD 1984 zit. in SCHWEPPE 1996: 12). Die Alterssicherung wandelte sich von einem individuellen, familienkonzentrierten Bewältigungsproblem zu einer sozialen Aufgabe des Wohlfahrtstaats. Die materielle Sicherung des Alters wurde mit dem Rentensystem „entfamilialisiert" (LENZ et al 1999: 29). Die Orientierung an der männlichen Erwerbsbiografie begründet jedoch bis in die heutige Zeit hinein eine geschlechtsspezifische Ungleichverteilung.
Neben der Entwicklung der ökonomisch-institutionellen Grundlage der Altersphase trugen demographische Veränderungen zu dessen Bedeutungszuwachs bei. Eine Reihe von Faktoren, wie medizinischer Fortschritt, sinkende Kindersterblichkeit, verbesserte Ernährung, Hygiene und Wohnverhältnisse führten zu einem deutlichen, sich bis in die heutige Zeit kontinuierlich fortsetzenden Anstieg der Lebenserwartung (vgl. PRAHL/ SCHROETER 1996: 94f.). So weist KOHLI darauf hin, dass erst durch die Verlängerung der Lebensdauer es überhaupt für einen quantitativ bedeutsamen Teil der Bevölkerung möglich war, das Ruhestandsalter zu erreichen. Dieser quantitative Bedeutungszuwachs der Altenpopulation war eine wesentliche Voraussetzung für die Verallgemeinerung des Alters als eigenständige Lebensphase (vgl. KOHLI 1992: 238f.).
Das Vergesellschaftungsmodell der eigenständigen Lebensphase Alter hat sich, zumindest in ,idealtypischerµ Form („Idealtypus" WEBER 1972: 122ff.), bis in die heutige Zeit fortgesetzt. Im Rahmen des moderni-sierungstheoretischen Diskurses wird von Auflösungstendenzen der standardisierten Lebensläufe und mithin der bisher relativ klar abgrenzbaren Altersphase gesprochen (vgl. SCHWEPPE 1996). Die Frage, mit welchen Besonderheiten ältere und alte Menschen sich heute konfrontiert sehen, leitet die Gedankenführung zum nächsten Abschnitt über.
2.4 Alter(n) im Strukturwandel der Moderne
Tiefgreifende gesellschaftsstrukturelle Veränderungen, welche primär unter dem Konzept der Modernisierung (vgl. HRADIL 2001: 644) beschrieben werden, haben das Altern vor veränderte Bedingungen gestellt. In einem komplexen Wirkungszusammenhang verschiedener Faktoren, wie Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt, verbesserte Lebenslagen (vor allem gesundheitlich und finanziell), demographische Verschiebungen, Veränderungen in der Privatheitsstruktur und dem damit einhergehenden sozialen Wandel verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche steht auch Altern im Zeichen des Strukturwandels der Moderne. Im Folgenden werden einige Entwicklungstendenzen der Sozialstruktur und deren Auswirkungen auf das Alter(n) skizziert.
2.4.1 Altersstrukturwandel
Die in Abschnitt 1.3.1 bereits ausgefuhrte ,dreifache Alterung` (TEWS 1999: 138f.) der Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, welche zu einer erheblichen Ausdehnung der Lebensphase Alter führt, macht eine differenziertere Betrachtung des Alters notwendig. HANS PETER TEWS konstatiert auch Veränderungen innerhalb der Lebensphase Alter. Die Merkmale dessen hat er in fnf Konzepten des ,Altersstrukturwandels` zusammen gefasst: die Verjüngung, die Entberuflichung, die Feminisierung, die Singularisierung und die Hochaltrigkeit (TEWS 1993: 23ff.).
Es treten einige Phänomene auf, die TEWS dazu veranlassen, von einer Verjüngung des Alters zu sprechen. So haben sich die äußere Erscheinung als auch die Selbsteinschätzung der älteren Menschen verjüngt. Schwere körperliche Arbeit hat im Zuge der Technisierung abgenommen, so dass immer mehr Menschen mit einer vergleichsweise gesünderen körperlichen Verfassung das Alter erreichen. Eine zunehmende Anzahl älterer Menschen schätzen sich selbst als ,nicht-altµ ein. Diese subjektive Selbsteinschätzung wird unter anderem in einem veränderten Modebewusstsein, gezielt herbeigeführter Verjüngung des Aussehens oder in Form von vermehrt üblicher sportlicher Aktivität im Alter sichtbar. Neben den positiven werden auch negative Effekte aufgeführt. So zählen heute auf dem Arbeitsmarkt bereits die 40- bis 45-Jährigen zu den älteren Arbeitnehmern. Ausdruck dieser Bewertung ist unter anderem die mit den 1970er Jahren einsetzende Frühverrentung aufgrund der angespannten Arbeitsmarktlage mit einer sich entwickelnden strukturellen Arbeitslosigkeit (vgl. BACKES/ CLEMENS 3003: 63). Diese „ gesellschaftlich-strukturelle Vorverlegung von ,Altersproblernen µ" (TEWS 1993: 26) steht im Widerspruch zur subjektiven Einschätzung der eigenen altersmäßigen Verfassung. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Alter und dessen Perspektiven rucken zunehmend in eine „Phase des Lebens, in der sich die Betroffenen noch nicht zu den Alten rechnen" (TEWS 1999: 147). Dieser Widerspruch leitet zu einem weiteren Merkmal des Strukturwandels hin: die Entberuflichung.
Die Entberuflichung prägt die Lebensphase Alter ganz erheblich. Wie oben bereits ausgeführt, ist mit der Einführung des wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystems Alter eng verknüpft mit der Freistellung von Erwerbsarbeit. Die Erwerbsquote der 65-Jährigen und Älteren liegt 2006 bei 3,4% (StBA 2008: 85). Diese Angabe macht jedoch noch keine Aussage darüber, was sich tatsächlich dahinter verbirgt. Bei den Erwerbstätigen handelt es sich vorrangig um Selbstständige. Mit steigendem Alter nimmt diese Quote zudem deutlich ab. Ab dem 75. Lebensjahr ist nur noch 1% innerhalb dieser Altersgruppe am Erwerbsleben beteiligt (vgl. MENNING et al 2007: 7). Grundlage dessen ist, wie oben bereits ausgeführt, die Einführung des Rentensystems. Dieses bewirkte die an den Erwerbsquoten ersichtliche „Generalisierung des Ruhestandes [...] zu einem Normalentwurf" (LENZ et al 1999: 29), normal deshalb, da die Lebensphase Alter als Ruhestand mit der durchschnittlich steigenden Lebenserwartung immer länger und von immer mehr Menschen gelebt werden kann.
Hinzu kommt der Trend zum vorverlegten Ruhestand. Dieses Phänomen, welches als „Instrument beinharter Arbeitsmarktpolitik" (ROSENMAYER 1996: 38) beschrieben wird, ist geschlechtsspezifisch ausgeprägt. Von der Frühverrentung sind maßgeblich ältere Arbeitnehmer ab dem 55. Lebensjahr betroffen. Die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmerinnen steigt dagegen bei den 50 bis 59-Jährigen. In den neuen Bundesländern stellt sich im Zuge der vereinigungsbedingten wirtschaftlichen Umstrukturierung die Problematik der Frühverrentung mit vergleichsweise deutlich erhohter Brisanz dar. Hier kam es zu einer „extreme[n] Ausdünnung der 1990 über 55-jahrigen Arbeitnehmer" (BACKES/ CLEMENS 2003: 63, U.T.). Seit Mitte der 1990er Jahre steigt die Erwerbsbeteiligung älterer Arbeitnehmer im Osten wieder und nähert sich dem westlichen Niveau. Bei den Frauen ist die Erwerbsquote traditionell bedingt sogar höher als im Westen (vgl. BACKES/ CLEMENS 2003: 63f.).
Der Prozess der Berufsaufgabe kann von den Betroffenen ganz unterschiedlich erlebt werden. So hatte Erwerbsarbeit in der DDR einen anderen Stellenwert als dies in Westdeutschland der Fall war. Arbeit war zugleich Ort sozialer Beziehungen und politischer Partizipation. Entsprechend sind die Befragungsergebnisse des deutsch-deutschen Vergleichs einzuordnen, wenn ein Großteil der Befragten in Ostdeutschland den Kontakt zu den Kollegen oder/ und ihre Arbeit ihnen fehle (vgl. TEWS 1993a). Der Prozess der Entberuflichung stellt vor diesem Hintergrund — Frühverrentung und Stellenwert der Arbeit — besondere Anforderungen an die biografische Verarbeitung bzw. Bewältigung der vom Beruf Freigesetzten.
Die mit dem Berufsausstieg verbundene gesellschaftliche Altersdefinition steht einer biografischen Altersperspektive gegenüber. Schon 1988 belegte KOHLI mit einer Untersuchung von West-Vorruheständlern, dass Fruhverrentete sich nicht zwangslaufig als ,alt` einschatzen. So gabe es „keinen Hinweis darauf, daß der Übergang in den Vorruhestand dazu fuhrt, sich ,alt` zu fhlen oder zum ,alten Eisen` zu zahlen — im Gegenteil" (KOHLI 1988 zit. in TEWS 1993: 27). BÖHNISCH bezeichnet diese von der gesellschaftlichen Altersdefinition abweichende Selbstwahrnehmung als „Biografisierung" des Alters3 (BÖHNISCH 1999: 244). Er sieht geradezu einen gegenläufigen Trend: Während die vorzeitige Ausgrenzung aus dem Berufsleben zunimmt und mithin die gesellschaftliche Definition ,alt` lautet, orientiert sich die biografische Perspektive „an altersubergreifender ,Lebensarbeit`" (BÖHNISCH 1999: 245). Die infolge der Diskrepanz zwischen System- und Sozialintegration entstehende anomische Spannung, welche die Entberuflichung mit sich bringt, prägt die alterstypische Bewältigungsaufgabe (vgl. BÖHNISCH 1999: 244f.).
Ein weiteres Strukturmerkmal des Alters ist unter dem Konzept der Feminisierung zusammen gefasst. Grundaussage dessen ist die zahlenmäßig überproportionale Ungleichverteilung der Geschlechter im Alter. Während Anfang des 20. Jahrhunderts das Verhältnis noch relativ ausgeglichen war, veränderte sich dies durch die Auswirkungen der beiden Weltkriege, die gestiegene und höhere Lebenserwartung der Frauen — als Ergebnis der „Entpflichtung des Körpers" (LENZ et al 1999: 34) und nicht zuletzt durch die bis heute weitgehend noch bestehende traditionell-geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Mit steigendem Alter — ab dem 60. Lebensjahr — entwickelt sich eine Ungleichverteilung bis nahe einer 3/4-Frauengesellschaft bei den 80-Jährigen und älteren (vgl. StBA 2008a: 13f.).
3 Auf der Grundstruktur des Lebenslaufs und dessen sozialstrukturellen Hintergrund können sich ganz unterschiedliche, jedoch habituell verwurzelte Biografien entwickeln. Die gestalterische Offenheit, die gleichzeitig auch einen Zwang zur Gestaltung beinhaltet, entspricht der „ Biografisierung der Lebensalter" (BÖHNISCH 1999: 67f.).
Dieses unausgeglichene Geschlechterverhältnis wird — in Anlehnung an TEWS — in einigen Zusammenhängen bedeutsam. Frauen nehmen eher Kommunikationsangebote an, als dies bei Männern der Fall ist. Dies äullert sich in einer Überrepräsentanz der Frauen. Diese Feststellung findet eine Erklärung bei KADE, der eine „zunehmende Aullenorientierung der alter werdenden Frau" (KADE 1994: 37) resümiert, während die Männer mit der Berufsaufgabe häufig dazu neigen, sich zurückzuziehen (vgl. BÖHNISCH 1999: 260ff.). Ein weiterer Punkt der Feminisierung betrifft die Altersarmut. Ältere Frauen sind zahlreicher von relativer Armut betroffen. Im Jahre 2006 bezogen bei den 65Jährigen und Älteren mit 2,6% mehr Frauen als Männer mit nur 1,8% die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter (BMAS 2008: 42). Aufgrund geschlechtsspezifischer Erwerbsbiografien, welche bei Frauen häufig durch Erziehungszeiten unterbrochen sind oder überhaupt nur partiell bestehen, und der sozialstaatlichen Kopplung der Alterssicherung an Erwerbsarbeit, reichen die Rentenanwartschaften mitunter nicht für den Lebensunterhalt. Darüber hinaus können Belastungen durch Krankheit und Pflegebedürftigkeit zu einer kumulativen Benachteiligung führen (vgl. ROSENMAYER et al 1978). Als dritten Punkt der Feminisierung werden die Folgen für die Selbstständigkeit thematisiert. Frauen leben mit zunehmendem Alter häufig allein. Bei Verlust von Selbstständigkeit sind Frauen mit steigender Tendenz von ambulanten und stationären Hilfen abhängig. Hier kommt auch der Wohnsituation eine hohe Bedeutung als Unterstützungsstruktur zu (vgl. TEWS 1999: 149).
Die Singularisierung im Alter ist ebenfalls ein den Altersstrukturwandel bestimmendes Phänomen. Mit zunehmendem Alter steigt der Anteil Alleinstehender. In Folge rückläufiger Kinderzahlen und veränderten Heirats- und Scheidungsverhaltens, aber auch durch die Zunahme des Anteils älterer Haushalte werden die Haushaltsgröllen in Deutschland allgemein immer kleiner. Um 1900 lebten in 44% der Haushalte fünf oder mehr Personen. Hundert Jahre später betraf dies nur noch 4,4%. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil der Einpersonenhaushalte von 7% auf
36% (vgl. MOLLENKOPF 2007: 363). Besonders in der Altersgruppe der über 60-Jährigen — die durchschnittliche Haushaltsgröße sinkt kontinuierlich unter die Grenze von zwei Personen — wird der Ein-Personen-Haushalt zum Strukturmerkmal. Über 85-Jährige leben durchschnittlich mit nur noch 1,2 Personen im Haushalt (vgl. MENNING 2007: 10). Der Trend zum kleineren Haushalt wird auch von einer Zunahme der Zwei-Personen-Haushalte gegenüber den Mehr-Generationen-Haushalten getragen (vgl. TEWS 1993: 30). Veränderte Lebens- und Familienformen, wie gestiegene wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen und Kindern, Verlagerung des Heiratsalters in spätere Lebensabschnitte, hohe Scheidungsraten und niedrige Geburtenraten, sind hier als Ursachen wirksam. Darüber hinaus prägt der steigende Anteil verwitweter Personen die durchschnittlich kleine Haushaltsgröße alter Menschen. Dies trifft aufgrund der höheren Lebenserwartung überproportional auf Frauen zu (vgl. MOLLENKOPF et al 2007: 363).
Der hohe Anteil Alleinlebender im Alter kann Isolation und Vereinsamung bedeuten. Da Frauen durchschnittlich häufiger alleine in einem Haushalt leben, zudem über ein geringeres Einkommen verfügen und älter werden, kann es zu „Problemkumulationen" (TEWS 1993: 30) kommen. Dennoch muss die zunehmende Singularisierung nicht zwangsläufig als unfreiwillige Lebensform gewertet werden. Sie kann ebenso Ausdruck eines schon in jüngeren Jahren über längere Zeit hinweg praktizierten individualisierten Lebensstils sein. So widerlegt SCHWEITZER die verbreitete Annahme, dass die Pluralität der Lebensformen, die sich auch in der Haushaltsgröße widerspiegelt, ein Abbild einer „Single-Gesellschaft" (ebd. 1996: 45) im Sinne einer Auflösung der Familie sei. Die Veränderungen in den Lebens-und Haushaltsformen durch die Ausdifferenzierungen im verlängerten Lebenslauf lassen sich, so ist die Argumentation, „weder als Individuali-sierung, Singularisierung oder Auflösung der familialen Beziehungen interpretieren, sondern als ein Übergang von der neolokalen Gattenfamilie mit kleinen Kindern zu einer multilokalen Mehrgenerationenfamilie mit lebenslangen Beziehungen zwischen den Generationen, ohne daß diese Generationen noch unter einem Dach leben mussen" (BERTRAM 1996 zit. in SCHWEITZER 1996: 46). In der Altersforschung viel zitiert ist diese Umschreibung: „Innere Nahe durch augere Distanz" (SCHWEITZER 1996: 46). Das familiale Zusammenleben und —wirtschaften hat sich zwar unter gesellschaftshistorischen Bedingungen strukturell verändert, jedoch bleibt die familiale Gruppe zu allen Zeiten und in allen Kulturen ein tragendes soziales Netzwerk (vgl. ebd. 1996: 46).
Von dieser Variante pluralisierter Lebensformen wird vor allem für die nachwachsenden Altersgenerationen ausgegangen (vgl. TEWS 1999: 149f.). Dennoch besteht ein enger Zusammenhang „zwischen der Wohnform, dem Geschlecht und der Wahrscheinlichkeit des Hilfebedarfs" (TEWS 1999: 150). Dazu steht die Frage hinsichtlich der Befriedigung von Wohnbedürfnissen alter Menschen nicht nur im Bezug auf familiale Unterstutzung. Viel eher wird gefragt, wie abnehmende Fahigkeiten „fur die selbstständige Lebensführung auch zuverlässig mittels infrastruktureller Dienste auf kommunaler oder wohngenossenschaftlicher Ebene erganzt oder erweitert werden" (SCHWEITZER 1996: 46) kann. Hieraus ergeben sich nicht zu unterschätzende Anforderungen an die verschiedenen Träger gesellschaftlicher Verantwortung und Gestaltung.
Eng verflochten mit den beiden vorangegangenen Strukturmerkmalen ist die Zunahme der Hochaltrigkeit. Im hohen Alter — 80-Jährige und Ältere — nimmt die Wahrscheinlichkeit eines allgemeinen körperlichen und psychischen Leistungsabbaus deutlich zu. Probleme, wie Krankheit, Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit, Hilfe- und Pflegeabhängigkeit oder Isolierung und Vereinsamung treten gehäuft im Lebensabschnitt der Hochaltrigkeit auf. Wie in diesem Abschnitt bereits erwähnt, sind auch hier besonders die Frauen davon betroffen. Dennoch wird konstatiert, dass sich die Mehrheit der Hochaltrigen lange Zeit in einer überwiegend positiv zu bewertenden Lebenssituation befindet (vgl. TEWS 1999: 150f.).
Die künftigen Generationen älterer Menschen werden über die bei TEWS (1999) beschriebenen Merkmale hinaus von weiteren, den allgemeinen Entwicklungen der gesellschaftlichen Sozialstruktur zuzuordnenden Veränderungen zunehmend beeinflusst. Da ist der allgemeine Anstieg der materiellen Lebensbedingungen zu nennen, verbunden mit einer hohen sozialen Sicherheit durch wohlfahrtsstaatliche Umverteilungen. Viele Optionen der Lebensweltgestaltung sind mit Kosten verbunden. Der durchschnittliche Lebensstandard ist zwar insgesamt gestiegen. Gleichzeitig hat sich aber die Armutskluft vergrößert (vgl. GEIßLER 2001: 673). Auch für die Zukunft prognostiziert die Kommission im Fünften Altenbericht unter Vorbehalt verschiedener, schwer abschätzbarer Einflussgrößen, dass die Einkommensverteilung im Alter deutlich ungleicher wird und „vermehrt bedurftigkeitsgeprufte Leistungen — wie die bedarfsorientierte Grundsicherung bei Erwerbsminderung und im Alter — erforderlich werden, um Einkommensarmut zu vermeiden bzw. zu bekampfen" (BMFSFJ 2005: 220).
Diese in der modernen Gesellschaft typischerweise ausgeprägte soziale Ungleichheit bestimmt ebenso in zeitlicher Verzögerung das Alter. Je nach früherer Berufstätigkeit und sozialem Status unterscheidet sich das Einkommensniveau im Alter. In den neuen Bundesländern werden die vermehrt von Brüchen gekennzeichneten Erwerbsbiografien der jüngeren und der nachwachsenden Altenkohorten sichtbar. Die allgemein seit den 70er Jahren veränderte Arbeitsmarktlage und die Folgen des Transformationsprozesses Anfang der 90er Jahre in den neuen Bundesländern haben zu erheblichen Einschnitten in den Erwerbsbiografien geführt (vgl. MOLLENKOPF et al 2007: 364). Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen ist in Zukunft von einer Vergrößerung der potenziell von Altersarmut betroffenen Personengruppe zu rechnen. Es wird, so die Einschätzung MOTEL-KLINGEBIELs auf der Grundlage des Alters-Surveys, „künftig zu einer Differenzierung des Lebensstandards im Alter kommen >..@, da einige Gruppen bereits heute über ungenügende Ressourcen verfügen, während andere bereits beträchtliche private Vermögensbestände akkumulieren konnten oder noch durch Erbschaft erhalten werden" (MOTEL-KLINGEBIEL 2005: 101).
Ein weiteres Strukturmerkmal, welches die nachwachsenden Alterskohorten prägt, ist die veränderte Qualifikationsstruktur. Die gestiegene Technisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt erfordert höhere Qualifikationen der Arbeitskräfte. Die sich entwickelnde Eigendynamik zur Höherqualifizierung führte zur sogenannten ,Bildungsexpansion` (vgl. GEIßLER 2001: 673). Der Anteil an Kindern im Alter von 13 Jahren, die eine Hauptschule besuchen, ging zwischen 1960 und 2000 von 70% auf 20% zurück. Gleichzeitig stieg der Anteil der Gymnasiasten von 15% auf 30%. So ist davon auszugehen, dass in Folge dessen die künftigen Alten zu einem erheblich größeren Teil über höhere Bildungsniveaus verfügen werden. Vor dem Hintergrund des frühzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben wird vermutet, dass die gestiegenen Bildungsressourcen Potenziale für eine von innen geleitete persönliche Weiterentwicklung auch außerhalb arbeitsweltlicher Bezüge bereit halten (vgl. MOLLENKOPF et al 2007: 364).
Des Weiteren ist anzuführen, dass sich die gesundheitliche Situation in differenzierter Weise darstellt. Auf der einen Seite haben sich die gesundheitlichen Voraussetzungen bei den jüngeren Kohorten im Allgemeinen verbessert. Dazu tragen medizinische Versorgung, ein sich stärker entwickelndes Körper- und Präventionsbewusstsein und nicht zuletzt veränderte Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt bei. Die moderne Arbeitsgesellschaft ist von einer ,Entpflichtung des Körpers` geprägt. Im Zuge der Technisierung ist körperlich anstrengende und verschleißende Arbeit selten geworden. So erreichen immer mehr Menschen ihr Alter in guter gesundheitlicher Verfassung — dafür spricht unter anderem die gestiegene Lebenserwartung (vgl. MOLLENKOPF et al: 2007: 364; vgl. SCHWEPPE 1996: 20f.). Auf der anderen Seite vergrößert sich mit dem demographischen Zuwachs hochbetagter Menschen die Gruppe der potenziell Pflegebedürftigen (vgl. NAEGELE 1998: 121).
2.4.2 Biografisierung des Alters
Neben den oben ausgeführten Strukturmerkmalen zeichnet sich Alter auf der Ebene individueller Lebensführung durch eine hohe Heterogenität aus (vgl. LENZ et al 1999: 35). Altern geschieht „inmitten von Prozessen der Freisetzung, Pluralisierung und Detraditionalisierung [..], durch die Lebensentwürfe und Lebensformen dieser Altersphase nicht (mehr) von vornherein auf festgelegte und standardisierte Lebensentwürfe und Lebenswege fixiert und durch ein fixes Koordinatensystem antizipierbarer Lebensumstande vorhersehbar sind" (SCHWEPPE 1999: 261). Verbesserte finanzielle und gesundheitliche Ressourcen und eine sich bis zu einem Drittel der gesamten Lebenszeit umfassende Lebensphase haben zu einer „erheblichen inneren Differenzierung" (SCHWEPPE 2005: 331) des Alters geführt. Traditionelle Altersbilder des schwachen, sich zurückziehenden und untätigen alten Menschen verlieren ihre empirische Grundlage. Bilder des ,defizitaren Alters', ebenso wie die des ,neuen Alters', sind „nivellierende Stereotypen, in denen ausgeschaltet wird, was nicht hinein passt" (SCHWEPPE 1999: 262).
[...]
[1] Die deutliche Zunahme der Altersbevölkerung und die gleichzeitig abzeichnende „Reduzierung der gesellschaftlichen "Nützlichkeit" und der sozialen Stellung der alten Menschen" (BACKES/ CLEMENS 2003: 31) wurde als wachsendes soziales Problem angesehen.
[2] Die durchschnittliche Lebenserwartung lag bis 1800 bei 33 Jahren und stieg bis 1870/80 auf 37 Jahre. Entsprechend war auch der Anteil Älterer an der Gesamtbevölkerung: bis 1850 waren nur 6-7% über 60 Jahre alt (vgl. BACKES/ CLEMENS 2003: 26).
- Arbeit zitieren
- Ulrike Triebel (Autor:in), 2009, Wohnen im Alter. Demographischer Wandel. Potenziale der Wohnungsgenossenschaften, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135614
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