Die vorliegende Arbeit untersucht die frühkindliche Entwicklung, um zu beleuchten, wie sich das kindliche Selbstkonzept ausbildet. Für diesen Prozess der Ausbildung liefern die Arbeitsweise und die Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns, das neuronale Wachsen durch sensorische Integration und auch die Funktionsweise der Spiegelneurone zur erfolgreichen Gestaltung von Bindung einen essentiellen Beitrag. Die Eltern-Kind-Bindung ist die erste und intensivste Beziehung des Kindes und hat großen Einfluss auf das innere Arbeitsmodell des Kindes von Bindung, aber auch auf das Grundgefühl hinsichtlich der eigenen Präsenz.
Wie Eltern mit ihrem Kind interagieren, ihr Erziehungsstil und ihre allgemeine Haltung werden durch ihre individuell gemachten Lebenserfahrungen innerhalb ihres Sozialraums geprägt. Werden die kindlichen Bedürfnisse innerhalb dieser familiären Beziehung erfüllt, erlebt sich das Kind als wertvoll und selbstwirksam, was eine positive Selbstkonzeptentwicklung unterstützt. Das kindliche Selbstkonzept entsteht also in der Interaktion mit den Eltern. Familien sind gesellschaftliche Leistungsträger. Sie sozialisieren die Kinder und entwickeln somit Humankapital für den gesellschaftlichen Fortschritt. Doch kämpfen Familien aktuell mit einer großen Diskrepanz zwischen steigenden Anforderungen und schrumpfenden zeitlichen, sozialen und finanziellen Ressourcen.
Besonders Frauen sind durch die Doppelbelastung zwischen familiärer Care-Arbeit und notwendiger Erwerbsarbeit belastet. Väter sind häufig nicht anwesend und Mütter übernehmen immer noch den Großteil der Care-Arbeit. Es werden Methoden vorgestellt, aber auch ein notwendiger Paradigmenwechsel aufgezeigt, um die psychologischen Grundbedürfnisse zu befriedigen, Selbstwirksamkeit erlebbar zu machen, Handlungsfähigkeit zu ermöglichen und entwicklungsfördernde Lebensumwelten für das kindliche Selbstkonzept zu schaffen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einführung
1.1. Hinführung zum Thema
1.2. Fragestellungen
1.3. Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
2. Die frühkindliche Entwicklung
2.1. Die Gehirnentwicklung allgemein
2.2. Die Grundbedürfnisse als Entwicklungsmotor
2.3. Spiegelneurone und Resonanz als besondere Faktoren der menschlichen Entwicklung
3. Eltern-Kind-Interaktion als Grundlage der kindlichen Entwicklung
3.1. Eltern-Kind-Bindung
3.2. Die Bindungstypen
3.3. Die Einflussfaktoren auf Bindungsbeziehungen
3.4. Elterliche Erziehungsstile und Interaktionsmuster
4. Das kindliche Selbstkonzept als Basis der Handlungsfähigkeit
4.1. Das Selbstkonzept
4.2. Das Selbstbild des Kindes
4.3. Die Bedeutung der Resilienz
5. Kinder im Kontext der Gesellschaft
5.1. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen
5.1.1. Die Familie als kleinste gesellschaftliche Einheit
5.1.2. Geschichtlicher Abriss privater Care-Arbeit
5.1.3. Rollenverteilung innerhalb der Familie und deren Auswirkung
5.2. Das Selbstkonzept der Mutter zwischen Idealisierung und Abwertung
5.2.1. Sozialisation zwischen Individuation und Vergesellschaftung
5.2.2. Bild der Mutter - Diskrepanz zwischen gewachsenen Rollenerwartungen und den eigenen Bedürfnissen
5.2.3. (Un-) Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und Mutterschaft
5.3. Kindliche Lebenswelten
5.3.1. Geschichtliche Entwicklung von Kindheit und das Bild vom Kind
5.3.2. Rechtsposition des Kindes
5.3.3. Rahmenbedingungen der Kindheit heute
6. Paradigmenwechsel in der Haltung
6.1. Die Problematik der Bewertung
6.2. Die Betonung der Würde
7. Befähigung in Interaktionen
7.1. Wissensvermittlung und Methoden
7.1.1. Elterliche Präsenz
7.1.2. Marte Meo
7.1.3. Gewaltfreie Kommunikation
7.2. Netzwerkgestaltung
7.2.1. Begegnungsräume
7.2.2. Wissensnetzwerke
8. Utopien für neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen
8.1. Kinderwahlrecht
8.2. Finanzielle Würdigung der Care-Arbeit
8.3. Arbeitszeitreduzierung
8.4. Bedingungsloses Grundeinkommen
9. Fazit
10. Literaturverzeichnis
1 1. Abbildungsverzeichnis
„Die Quadratur des Kreises,
die wir mit der immer stärkeren ökonomischen Beschleunigung versuchen müssen,
bewerkstelligen wir dort, wo der Kreis seine schwächste Stelle hat,
beim Kind.
Auch das Kind gerät jetzt unter das Diktat der Effizienz
und muss beschleunigt werden.
Und diese Beschleunigung hat den immer gleichen Kern:
die menschliche Distanzierung.
Die Auflösung von Bindung. Die Rationierung von Beziehungen.“
(Renz-Polster 2020, S. 266)
1. Einleitung
1.1. Hinführung zum Thema
Frühe menschliche Erfahrungen prägen die Entwicklung des Selbstkonzeptes und beeinflussen das Grundgefühl zur eigenen Präsenz. Damit entscheidet die Qualität der familiären Begleitung über die Gehirnentwicklung, die psychische Gesundheit und das spätere Verhalten des Kindes (vgl. Strüber und Roth 2021, S. 31; Haug-Schnabel und Bensel 2018, S. 26).
Die Querschnittergebnisse aus der KIGGS Basisstudie und Welle 1 ergeben, dass in Deutschland zwischen 2003 und 2006 jedes fünfte Kind (d.h. 20 Prozent) psychisch auffällig war. Kinder aus Familien mit niedrigem sozioökonomischem Status sind auffällig häufiger betroffen als Kinder aus Familien mit höherem sozioökonomischem Status (vgl. Robert-Koch-Institut 2018, S. 24; Siegler et al. 2016, S. 449-450).
Der von der DAK 2019 veröffentlichte Kinder- und Jugendreport zeigt auf, dass 2017 26,7 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter psychischen Störungen oder Verhaltensstörungen litten und aufgrund dessen mindestens einmal ärztlich behandelt wurden. Entwicklungsstörungen machen bei Kindern bis zum vierten Lebensjahr 70 Prozent der psychischen Erkrankungen aus. Ängste und Depressionen nehmen im Schulalter zu. Fünf Prozent der betroffenen Kinder zeigt die Symptomatik einer ADHS, gelegentlich auch mit aggressivem und oppositionellem Verhalten. Bei Jugendlichen nehmen die Depressionen und psychosomatische aber auch Suchterkrankungen noch weiter zu (vgl. Greiner, Batram und Witte 2019, S. 5; Bundes Psychotherapeuten Kammer 2020, S.1).
Im Report Card 11 der UNICEF wird deutlich, dass deutsche Kinder in den objektiven Faktoren des Wohlbefindens (dazu zählen u.a.: materielles Wohlbefinden, Gesundheit, Bildung und Wohnraum) den 6. Platz der Länder, im subjektiven Wohlbefinden, allerdings nur den 22. Platz einnehmen. Kein anderes Land zeigt eine solch hohe Diskrepanz zwischen den objektiven Gegebenheiten und dem subjektiven Erleben der Kinder und Jugendlichen (Bertram 2013, S. 14ff.).
Die psychische Gesundheit und Entwicklung wird maßgeblich von der Kindheit und Jugend in ihren jeweiligen Sozialräumen geprägt und beeinflusst. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass Eltern das Beste für ihre Kinder wollen und dass sie bemüht sind die kindlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Oft fehlt es jedoch an Rahmenbedingungen und Kompetenzen damit Eltern dies auch gelingt. Kinder brauchen Bezugspersonen, die sich ihrer Verantwortung für die Qualität des wechselseitigen Umgangs bewusst sind. Die Bedürfnisse aller Familienmitglieder müssen beachtet und austariert werden.
In der Gesellschaft gibt es positive Veränderungen durch die Auflösung starrer Normvorstellungen und Erziehungsmuster. Moderne Familien haben heute mehr Entfaltungsmöglichkeiten und wenig vorgegebene Orientierungsrahmen. Viele Eltern haben in ihrer Kindheit selbst noch Gewalt in der Erziehung erlebt und haben oft wenige Konzepte und Erfahrungen in akzeptierten Erziehungsmodellen. Elterliche Präsenz und persönliche Autorität sind gefordert, aber wenig erprobt. Statt Kontrolle und Anpassung werden Verantwortlichkeit und Gleichwertigkeit in den Fokus gerückt. Diese Form der familiären Beziehungsgestaltung verlangt Zugewandtheit, emotionale Wärme, Respekt, Empathie und Reflexionsfähigkeit, grundlegend aber die Bereitschaft feinfühlig auf die Bedürfnisse aller Familienmitglieder einzugehen (vgl. Juul 2018, S. 15-31).
Die Zahlen des vom Müttergenesungswerk (MGW) 2020 veröffentlichten Datenreports verdeutlichen, dass der Gesundheitszustand von Eltern oftmals keine sensitive und responsive kindliche Begleitung zulässt. Diese wird jedoch für eine selbstwirksame und resiliente kindliche Entwicklung benötigt. Der Report konstatiert, dass 2,1 Millionen Mütter und 230.000 Väter kurbedürftig sind (Müttergenesungswerk, S. 3). Ihre psychische, aber auch physische Verfassung erschweren eine feinfühlige Beziehungsgestaltung.
Der Umstand, dass in den Lockdowns während der Corona-Pandemie die Bildungseinrichtungen für Kinder geschlossen wurden und zumeist Frauen zusätzlich zur Care-Arbeit das Homeschooling und das Homeoffice stemmen mussten, dürfte diese Zahl sicherlich weiter in die Höhe getrieben haben (vgl. Krohn 2021, S. 370; Rennefanz 2022, S. 29, 45-47).
1.2. Fragestellungen
Die Entwicklung des kindlichen Selbstkonzeptes und die auf diese Entwicklung einwirkenden Umwelteinflüsse stellen ein sehr komplexes Themenfeld dar. Im Rahmen dieser Thesis liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Faktor Interaktion. Sie zeigt auf, wie sensibel die drei Akteure „Kind-Eltern-Gesellschaft“ aufeinander wirken und sich bedingen. An erster Stelle stehen deshalb die Eltern als erste und direkte Interaktionspartner. Diese Beziehung wird in den größeren Kontext der Gesellschaft eingebettet. Dazu gehört das Bild des Kindes, die Haltung zu Familie, zur Rolle der Frauen und die ökonomischen Bedingungen.
Aus der geschilderten Sachlage ergeben sich folgende Fragen:
Welche Bedeutung hat die Erfüllung der kindlichen Grundbedürfnisse grundsätzlich für die frühkindliche Entwicklung? Was benötigen Kinder für die Ausbildung eines gesunden Selbstkonzeptes? Welche Anforderungen und Konsequenzen ergeben sich daraus für die Eltern-KindInteraktion? Welche Einflüsse hat die besondere Situation von Müttern auf die kindliche Entwicklung? Wie könnten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gestaltet werden, um Kindern und ihren Eltern eine bestmögliche Entwicklung zu bieten?
1.3. Vorgehensweise und Aufbau der Arbeit
Um frühkindliche Entwicklung und die Ausbildung des kindlichen Selbstkonzeptes zu verstehen, befasst sich Kapitel 2 mit der Entwicklung, der Arbeitsweise und der Anpassungsfähigkeit des menschlichen Gehirns. Da sich Kinder als soziale Wesen in Gemeinschaften entwickeln, werden zunächst die Grundbedürfnisse sowie die Funktionsweise von Spiegelneuronen und Resonanz als Entwicklungsfaktoren beschrieben. Daraus ergibt sich im Weiteren die Betrachtung von tragfähigen Beziehungen als wesentlicher kindlicher Entwicklungsrahmen.
Kapitel 3 stellt Bindung in der Eltern-Kind-Interaktion vor und beschreibt elterliche Einflussfaktoren auf die kindliche Bindung. Kinder können sich bedingungslos an ihre Eltern binden und werden entscheidend von deren Haltung, Kommunikation und dem gemeinsamen Lebensumfeld geprägt. Diese Erfahrungen der frühen Kindheit beeinflussen das spätere Fühlen, Verhalten und Denken des Kindes.
Kapitel 4 bearbeitet die Entstehung des kindlichen Selbstkonzeptes auf der Grundlage der vorangegangenen Erläuterungen. Die Informationen, die das Kind aus seinem Umfeld über sich selbst erhält, werden von ihm zu einem inneren Selbst zusammengesetzt. Geprägt werden diese durch die Gesellschaft, in der die Kinder mit ihren Familien leben. Während ihrer Sozialisation werden die Grundlagen gelegt, wie Kinder sich selbst wahrnehmen, aber auch wie sie später als Erwachsene Teil der Gesellschaft sind und in ihr agieren.
Gesellschaften funktionieren über einen gemeinschaftlichen Konsens zu Werten und Normen. Dieser kann jedoch zu den Grundbedürfnissen der Kinder und ihren Eltern im Konflikt stehen. Die Passgenauigkeit entscheidet darüber, ob die gesellschaftlichen Wertzuschreibungen förderlich oder hemmend auf die individuelle kindliche Selbstkonzeptentwicklung einwirken. Vor diesem Hintergrund wird die Bedeutsamkeit der Mutter als Bindeglied zwischen dem Kind und der Gesellschaft betrachtet. Die gesellschaftliche Diskrepanz in der Bewertung von Mutterschaft und Kindheit, aber auch das allgemeine Interesse an der Verwertbarkeit des Menschen werden in Kapitel 5 dargelegt. Daraus ergibt sich in Kapitel 6 die Diskussion eines Paradig- menwechsels.
Ein weiteres Augenmerk wird in der Thesis auf die Aspekte Selbstwirksamkeit, Befähigung und Handlungsfähigkeit gelegt, da sie langfristig eine positive Wirkung auf das Selbstkonzept haben. Kapitel 7 erörtert sowohl direkt umsetzbare, kurzfristige, individuelle Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern und pädagogische Fachkräfte als auch Vorschläge zu Netzwerkinitiativen in kleineren gesellschaftlichen Einheiten zur Unterstützung von Familien.
Abschließend werden in Kapitel 8 langfristige gesellschaftliche Utopien vorgestellt, die die Ausdehnung der Selbstwirksamkeit unterstützen können.
Was gedacht werden kann, kann auch realisiert werden.
2. Die frühkindliche Entwicklung
„Wir legen in den ersten sechs Lebensjahren unserer Kinder den Grundstein für deren Belastbarkeit, aber auch für die erlebte Freude und Handlungsfähigkeit im Erwachsenenalter.“ (Frey 2022, S. 59)
Entwicklung ist ein dynamischer Prozess, der durch innere und äußere Einflüsse angeregt wird. Innerhalb dieses Prozesses setzt sich das Kind alters- und entwicklungsstandentsprechend mit unterschiedlichen Herausforderungen auseinander. Eine Herausforderung im Sinne eines Lernprozesses gilt als bewältigt, wenn das Kind im Anschluss erweiterte, differenziertere und verlässlichere Vorstellungen über sich und seine Umwelt entwickelt hat (vgl. Haug-Schnabel und Bensel 2012, S. 10-11; Mock-Eibeck 2018, S. 25).
2.1. Die Gehirnentwicklung allgemein
„Der Umstand, dass Menschen organisch zu früh, also unfertig auf die Welt kommen, bedeutet, dass in ihrer Entwicklung genetisch angelegte Ausreifungsprozesse mit sozialen Ausformungsprozessen zusammenfallen: Die organische und die soziale Entwicklung laufen gemeinsam ab. Daher ist die Beziehungsgestaltung so wesentlich für das Lernen in der frühen Kindheit.“ (Neuß 2019, S. 125)
Der menschliche Körper ist während seiner Entwicklung rund um die Uhr damit beschäftigt, die evolutionären Ziele, also das Überleben und den Arterhalt zu sichern. Eine wichtige Rolle in diesem Vorhaben kommt dem menschlichen Gehirn zu. Das Gehirn besteht aus Milliarden von Neuronen (Nervenzellen). Jedes dieser Neuronen besitzt zehn bis hunderttausend synaptische Verbindungen zu anderen Neuronen über die chemische Botenstoffe weitergegeben werden. Dies dient dazu Informationen aus dem Körper und seiner Umwelt im Gehirn weiterzuleiten, zu speichern, zu integrieren und zu bearbeiten (vgl. Cozolino 2007; S. 54; Rass 2017, S. 19-21; Roth und Strüber 2018, S. 177ff.).
Das Gehirn besteht aus drei aufeinander aufbauenden Schichten. Die erste Schicht, das Stammhirn, ist für die körperlichen, automatisch ablaufenden Prozesse wie Atmung, Herzschlag, Kreislauf, Immunsystem, etc. zuständig und ist weitgehend genetisch bestimmt. Auf sie folgt die zweite Schicht, das limbische System, der Sitz der Emotionen. Die Veränderungen, die im menschlichen Körper aufgrund einer bedeutsamen Erfahrung erzeugt werden, werden als Emotion definiert. Zu diesen Veränderungen zählen u.a. Körperreaktionen, wie der Herzschlag und die Atmung, aber auch bewusste Gefühle (vgl. Cozolino 2007, S. 54-57; Strüber und Roth 2021, S. 40). Erlebnisse und Erfahrungen werden mit emotionalen Bewertungen gekoppelt und als Erinnerung abgespeichert. Das limbische System überprüft unwillkürlich den voraussichtlichen Ausgang der ausstehenden bzw. gerade erfahrbaren Situation und sendet über kurze körperliche Signale, ob die frühere Erfahrung angenehm oder unangenehm war. Die dritte Schicht, die Großhirnrinde, ist weitgehend erfahrungsabhängig und für Denken, bewusstes Erleben, Planen, Impulskontrolle und das Abwägen von Handlungskonsequenzen verantwortlich (vgl. Fritsch 2012, S. 11-13).
Unter neuronaler Plastizität versteht man die Fähigkeit zum Umbau neuronaler Strukturen abhängig von ihrer Verwendung. Sie verdeutlicht, dass Lernen unmittelbar mit Sinneseindrücken einhergeht und welch große Bedeutung ein schützender und zugleich anregender Sozialraum für die kindliche Entwicklung hat. Innerhalb der langen Entwicklungsphase „Kindheit“ sind Kinder zu großen Lernleistungen fähig.
Das „unreife“ kindliche Gehirn reagiert auf wechselnde Umgebungen und Umweltbedingungen. Durch äußere Einflüsse und Beziehungsprozesse vernetzen und stabilisieren sich in der frühen Kindheit häufig genutzte Neuronen-Verbindungen. Überflüssige, nicht genutzte Verbindungen werden gelöscht. Das resultierende Neuronen-Netzwerk bildet die Grundlage für die Umgangsweise und Interpretation von Informationen aus der Umwelt, aber auch die Entwicklung differenzierter emotionaler Reaktionen.
Das limbische System jedes Kindes ist entsprechend seiner Erfahrungen und Bindungsbeziehungen geprägt und somit reagiert jedes Kind anders auf bestimmte Situationen. Das breite Spektrum der menschlichen Gefühle, der unbewusst oder bewusst wahrgenommenen Empfindungen, fungiert als Signalsystem, das dem Kind zügig einen Einblick über sein situatives Wohlbefinden oder Missempfinden hinsichtlich einer Gegebenheit in seinem Umfeld vermittelt. Angenehme Gefühle signalisieren dem Kind, dass seine Bedürfnisse erfüllt sind, unangenehme bedeuten das Gegenteil (vgl. Cozolino 2007, S.18-20; Neuß 2019, S.124; Strüber und Roth 2021, S. 58-59; Rass 2017, S. 20; Parianen 2022, S. 53).
Alle Erlebnisse und Begegnungen werden im limbischen System positiv oder negativ codiert. Diese Vorgehensweise erhöht die Überlebenschance des Kindes, indem negative Gefühle das Spektrum der Denk- und Handlungsmuster verengen und das Kind dazu anhalten seinen Geist und Körper auf die kritische Situation zu fokussieren, um eine Lösung zu finden. Positive Gefühle erweitern im Gegensatz den menschlichen Wahrnehmungshorizont und das Spektrum der Denk- und Handlungsalternativen. Sie veranlassen das Kind, offen, aufmerksam und integrativ Informationen zu suchen, die Umwelt zu erforschen, zu erleben, zu lernen, Bindungen aufzubauen und zu pflegen (vgl. Ernst 2010, S. 8-12; Cozolino 2007, S. 106-112).
2.2. Die Grundbedürfnisse als Entwicklungsmotor
„An diesen drei unsichtbaren Schnüren - Verbundenheit, Kompetenz undAutonomie- hängt unsere Zufriedenheit, sie halten uns gesund und leistungsstark.“ (Renz-Polster 2012, S. 147)
Bedürfnisse sind der intrinsische Motor, der den Menschen antreibt und für sein physisches, psychisches und soziales Überleben sorgt. Sie sind allgemeine Lebensmotive, die alle Menschen auf der ganzen Welt teilen, unabhängig vom Alter, dem sozialen Status, der Kultur oder ihrer Herkunft. Es gibt kein sinnloses Verhalten, denn alle menschlichen Verhaltensweisen bezwecken die Erfüllung der individuellen Bedürfnisse, unabhängig von der Anpassung an die gesellschaftlichen Regeln (vgl. Wedewardt und Hohmann 2021, S.15).
Es gibt eine Vielzahl verschiedener physischer und psychischer Grundbedürfnisse. Zu den physischen Bedürfnissen gehören u.a. Schlaf, Essen, Trinken, Kleidung und körperliche Unversehrtheit. Für die frühkindliche Entwicklung des Selbstkonzeptes ist ihre adäquate Erfüllung als Basis essenziell. Genauso wichtig ist auch die Erfüllung der psychischen Grundbedürfnisse. Sie werden von den Sozialpsychologen Deci und Ryan in die drei Kategorien (1) Bindung/ Verbundenheit, (2) Kompetenz und (3) Selbstbestimmung/Autonomie eingeteilt und als grundlegend hervorgehoben, weil sich in ihnen alle menschlichen Ziele vereinen:
(1) Der Mensch will einer Gruppe angehören, angenommen sein und geliebt werden. Das Bindungsbedürfnis sichert dem Kind das Überleben und dem Erwachsenen u.a. den Arterhalt.
(2) Hilflos, mit wenigen Fähigkeiten, aber einer großen Lernbereitschaft geboren, strebt der Mensch danach seine Fähigkeiten und Fertigkeiten schnell auszubilden und zu verfeinern. Kompetent und effizient in der Umwelt zu agieren, erfüllt den Menschen mit Stolz und lässt ihn die Anerkennung seiner Mitmenschen erfahren. Überforderung, fehlendes Zutrauen, Überbehütung aber auch mangelnde Anerkennung lassen ein Kind an sich zweifeln und zu dem Schluss kommen: Ich bin nicht gut genug.
(3) Zur Autonomie und Selbstbestimmung gehören Freiheit und Kontrolle, welche sich in einem Gefühl der Freiwilligkeit ausdrücken. Dieses Bedürfnis hilft dem Menschen dabei, sein Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten und nicht nur an den Erwartungen anderer auszurichten; selbstwirksam zu handeln und nicht nur auf Rahmenbedingungen entsprechend der Vorgaben reagieren zu können.
Kinder können sich ihre Bedürfnisse noch nicht selbständig erfüllen und sind auf feinfühlige Bezugspersonen angewiesen, die ihre Gefühle richtig wahrnehmen, deuten und ihnen bei der Bedürfnisbefriedigung helfen. Sie lernen aus der Interaktion mit ihren Bezugspersonen und deren Reaktion auf ihre Grundbedürfnisse wie wichtig oder unwichtig diese erachtet werden. Diese Erfahrungen können sich bedeutend auf den Selbstwert auswirken.
Die Großhirnrinde des Gehirns erlaubt es dem Menschen willentlich über Körpersignale hinwegzugehen und z.B. zugunsten gesellschaftlich vorgegebener Erwartungen eigene Bedürfnisse zu negieren. Geschieht das über eine kurze Zeit hinweg, kann der Mensch dies kompensieren. Werden Bedürfnisse jedoch über einen längeren Zeitraum nicht befriedigt, kann es zu psychosomatischen und psychischen Krankheiten kommen. Deshalb sind Haltung und Kompetenzen der wichtigsten Bezugspersonen, insbesondere der Eltern von entscheidender Bedeutung (Brisch 2020, S. 36-37; Giesselmann 2018, S, 2; Hanning und Chmielewski 2019, S. 23-37; Wedewardt und Hohmann 2021, S. 18-19, 59).
2.3. Spiegelneurone und Resonanz als besondere Faktoren der menschlichen Entwicklung
„Der Vorgang der Spiegelung passiert simultan, unwillkürlich und ohne jedes Nachdenken. Von der wahrgenommenen Handlung wird eine Kopie erstellt.
(...) Eine Beobachtung löst also in einem Menschen eine Art innere Simulation aus. (...) Indem er das, was er beobachtet, unbewusst als inneres Simulationsprogramm erlebt, versteht er, und zwar spontan und ohne nachzudenken, was der andere tut.“ (Bauer 2007, S. 26-27)
Für das Überleben ist es dringend erforderlich das Gegenüber schnell einschätzen zu können. Um einen Menschen schnell handlungsfähig zu machen, leistet das Gehirn einen wesentlichen Beitrag zur Komplexitätsreduzierung in der Interaktion. Das Gehirn hat dafür spezielle Spiegelneuronen ausgebildet. Sie reagieren autonom und erstellen simultan innere Kopien vom beobachteten Verhalten des Gegenübers. Durch die Spiegelung erlebt und versteht der Beobachter unmittelbar und ohne nachzudenken die gezeigten Handlungen und Emotionen. Die Spiegelneuronen bilden die Basis von Intuition, Empathie und Vertrauen. Sie ermöglichen das emotionale Mitschwingen mit dem Gegenüber. Dieser Widerhall wird auch als Resonanz bezeichnet. Das Spiegelneuronen-Netzwerk ist zum Zeitpunkt der Geburt, ebenso wie das Gehirn insgesamt, noch nicht ausgereift. Trotzdem verfügt das Kind nach seiner Geburt bereits über ein Netzwerk aus Spiegelneuronen, welches ihm ermöglicht mit seiner Bezugsperson erste spontane Imitationen vorzunehmen und so in Beziehung zu treten. Empathie - die Fähigkeit sich in andere Menschen einfühlen zu können - ist nicht angeboren und muss erlernt werden. Das Spie- gelneuronen-System versetzt die Neuronen-Netze in Resonanz und regt die Entwicklung des kindlichen Gehirns an (vgl. Bauer 2007, S. 8-27, 50-55; Brisch 2020, S. 44; Gebauer 2019, S. 5-6).
Damit sind sie ein wesentlicher Baustein für die kindliche Entwicklung. Die Spiegelneurone des Kindes erstellen eine Kopie der elterlichen Haltungen und Handlungen. Unbewusst reproduzieren und imitieren sie ihr Gegenüber. Der Prozess vollzieht sich unterhalb der Wahrnehmungsschwelle und führt zu psychischen und neurobiologischen Veränderungen, indem sich die Resonanz auf die neuronale Vernetzung, die psychisch-emotionale Entwicklung und die Ausbildung des Selbstkonzeptes auswirkt. Dieses Resonanzprinzip internalisiert Haltungen und Handlungsweisen der Bezugsperson zu inneren Einstellungen des Kindes.
In den Spiegelungen der Bezugsperson kann das Kind nach und nach erkennen, wer es selbst ist, sich mit seinen individuellen Eigenschaften und seinem Temperament angenommen fühlen und ein konsistentes Selbstkonzept entwickeln. Des Weiteren bietet die Möglichkeit, sich im sozialen Umfeld der Spiegelungen bedienen zu können, dass das Agieren im Lebensraum vorhersehbarer, das eigene Handeln effizienter gestaltet und Beziehungen zielgerichteter aufgebaut und gelebt werden können (vgl. Bauer 2007, S. 112-119).
Der Vorgang der Resonanz ist eine wichtige Voraussetzung für den Aufbau einer Bindung. Werden nach der Geburt keine Beziehungen aufgebaut, kann die Entwicklung des Spiegelneu- ronen-Netzwerkes beeinträchtigt werden. Dies hätte u.a. eine defizitäre Ausbildung des Selbstwertgefühls zur Folge. Spiegelaktionen bedürfen immer eines Gegenübers. In Ermangelung dessen verkümmern diese Neuronen nach dem Motto „use it or lose it“. Kommt es jedoch zu einem Beziehungsangebot durch die Eltern, wird sich das Spiegelneuronen-System weiterentwickeln und ausbauen (vgl. Bauer 2019, S. 57-61).
Im nachfolgenden Kapitel wird die konkrete Eltern-Kind-Aktion beschrieben. Eltern sollten sich dabei bewusst sein, dass der unbewusste Prozess der Spiegelneuronen bei jeder gewollten Aktion unbewusst mitwirkt. Deshalb kann es beim Kind zu Störgefühlen kommen, wenn die elterlichen Handlungen nicht zu ihrer unbewussten Haltung passen. Durch die alltägliche Hektik und die elterliche Doppelbelastung zwischen Erwerbs- und Fürsorgearbeit manifestiert sich Stress. Die Arbeitsweise der Spiegelneurone nimmt erheblich ab, ebenso die Fähigkeit zu lernen, welche von der Arbeit der Spiegelneurone abhängig ist (vgl. Bauer 2007, S. 34-35).
Kindliche Bindungsbedürfnisse kommen in diesen alltäglichen Stresssituationen häufig zu kurz, denn die persönlichen Ressourcen der Eltern, insbesondere die der Mütter, sind erschöpft und so werden kostbare Momente der Zuwendung und Resonanz auf ein „Später“ verschoben. Die Bedürfnisse des Kindes bleiben im schlechtesten Fall unbeachtet zurück (vgl. Letschert- Grabbe 2021, S. 70).
3. Eltern-Kind-Interaktion als Grundlage der kindlichen Entwicklung
„Eltern benötigen eine breite Palette an Fähigkeiten, um ihr Kind dabei kompetent zu unterstützen, sich zu einer sowohl eigenständigen als auch gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu entwickeln.“ (Rass 2017, S. 39)
Die Qualität des elterlichen Beziehungsangebotes beeinflusst die Entwicklung des Kindes und seine Gefühle für sich selbst. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass sich die Eltern in ihrer Rolle über eigene Selbstkompetenzen bewusst sind und sich als abgegrenzte Personen erleben, um nicht die eigenen Bedürfnisse mit denen des Kindes zu verwechseln und dem Kind die eigene Bedürfnisbefriedigung aufzuerlegen (vgl. Rass 2017, S. 38).
3.1. Eltern-Kind-Bindung
„Für Säuglinge und Kleinkinder sind Bindungsbeziehungen die wichtigsten Umgebungsfaktoren, die das Gehirn in seiner Periode maximalen Wachstums fördern. (...) Durch Verbindungen zwischen Menschen entstehen neuronale Verbindungen.“ (Siegel 2010, S. 102)
Bindung nimmt in der Bedürfniswelt der Kleinkinder einen besonderen Stellenwert ein, da das Kind völlig schutzlos geboren wird und sein Überleben von einer gelingenden Bindung abhängt. Momente gegenseitiger Resonanz in einer Beziehung zwischen Eltern und Kind erzeugen emotionale Verbundenheit. Aus einer kontinuierlichen Aneinanderreihung solcher Momente entsteht eine Bindungsbeziehung.
Die Entwicklung und Qualität der Bindungsbeziehung hängen, abgesehen von einer neurologischen Unversehrtheit des Kindes, stark von den Erfahrungen in der Interaktion mit den Eltern ab (vgl. Brisch 2013, S. 12; Siegler et al. 2016, S. 400).
Bindung vollzieht sich in vier Phasen:
(1) Die ersten sechs Lebenswochen werden als „Vor-Bindungsphase“ bezeichnet. Das Kind ist bereits so früh in der Lage mit Hilfe angeborener Signale in Interaktion mit einer ihm zur Verfügung stehenden Bezugsperson zu treten. Ein angeborenes Verhaltensrepertoire ermächtigt das Kind die Nähe zu den Eltern einzufordern, indem es sein Unbehagen bspw. durch Schreien oder Weinen äußert und so eine Reaktion der Eltern auslöst. Im Optimalfall wird es von diesen getröstet und seine Bedürfnisse werden gestillt.
(2) Im Alter von sechs Wochen bis sechs/acht Monaten schließt sich die „beginnende Bindung“ an. Dem Kind ist es nun möglich zwischen verschiedenen Personen zu differenzieren und reagiert besonders auf die vertraute Bezugsperson, indem es lächelt oder sich leichter trösten lässt. Das Kind entwickelt aufgrund seiner gemachten Erfahrungen Erwartungen, wie seine Eltern auf seine geäußerten Bedürfnisse reagieren sollen. Ebenfalls bildet sich ein Gefühl heraus, wie sehr es den Eltern vertrauen und sich auf sie verlassen kann, oder auch nicht.
(3) Die „ausgeprägte Bindung“, die eigentliche Bindungsphase, vollzieht sich im Alter von sechs bis acht Monaten bis zum zweiten oder dritten Lebensjahr. Kinder suchen durch den Erwerb der Fortbewegung, den erweiterten Wortschatz und erste Fähigkeiten sich zielgerichtet zu verhalten, aktiv die Nähe zu ihren Eltern. Das Kind beginnt die Eltern als sicheren Bezugspunkt zu nutzen, um seine Umwelt zu erkunden. Innerhalb dieses Entwicklungsfensters wird das Kind häufig erstmals von außerfamiliären Aufsichtspersonen betreut, die ebenfalls in die Bindung einbezogen werden.
(4) In der „reziproken Beziehung“ ab dem Alter von zwei Jahren, erkennt das Kind, dass dem Verhalten der Eltern bestimmte Gefühle und Motive zugrunde liegen. Diese Phase ist von der abnehmenden egozentrischen Sichtweise des Kindes geprägt. Das Kind kann nun sein Verhalten daran ausrichten, um so in der Nähe der Eltern bleiben zu können.
Auf Basis der gemachten Erfahrungen in diesen vier Phasen entwickelt das Kind ein Internal Working Model (IWM), in dem das Wissen über die eigene Handlungsfähigkeit/Selbstwirk- samkeit und das zu erwartende Verhalten der Bezugsperson repräsentiert sind. Es bildet die Grundlagen der mentalen Repräsentation des kindlichen Selbst, der Bindungsperson, aber auch von Bindung im Allgemeinen. Dieses innere Arbeitsmodell beeinflusst die allgemeine Einstellung, das soziale Verhalten, die Wahrnehmung anderer, sowie das Selbstwertgefühl des Kindes (vgl. Merget 2022, S. 41; Siegler et al. 2016, S. 400-401).
3.2. Die Bindungstypen
„Was die Bezugsperson dem Kind zurückmeldet, wird zu einem Teil der psychischen und biologischen Realität des Kindes.“ (Bauer 2019, S. 32)
Menschen benötigen Resonanz. Reagieren die Eltern aus Stress oder Überforderung genervt oder ablehnend auf das aktive Bindungsverhalten des Kindes, bezieht dieses die negative Reaktion und die negativen Gefühle auf sich. Es sieht sich selbst als Auslöser. Zeigen sich die Eltern fürsorglich zugewandt, fühlt sich das Kind sicher und beruhigt. Es lernt mit der Zeit immer mehr Erregung selbst zu regulieren (vgl. Charf 2020, S. 47-51; Rass 2017, S. 22-25).
Nicht die Quantität, sondern die Qualität des Zusammenspiels in der Interaktion zwischen Kind und Bezugsperson entscheidet über die Bindungsbeziehung. In Deutschland zeigen sich 44,9 Prozent der Kinder sicher gebunden, 27,7 Prozent unsicher-vermeidend gebunden, 6,9 Prozent unsicher-ambivalent gebunden und 19,9 Prozent desorganisiert gebunden (vgl. Lengning und Lüpschen 2019, S. 23).
Ein Kind ist sicher gebunden, wenn Eltern vom Kind als feinfühlig und liebevoll erlebt werden. Sie werden dann als verfügbar und helfend im inneren Arbeitsmodell des Kindes repräsentiert. Das Kind kann seinen Wunsch nach Bindung offen zeigen und ist beziehungsorientiert. Es wird sich in belastenden Situationen an seine Eltern wenden und ihre Nähe suchen. Solch sicher gebundene Kinder entwickeln insgesamt eher ein positives inneres Arbeitsmodell von Bindung, sind ausgeglichener, sozial kompetenter, können Emotionen in angemessener Weise ausdrücken und haben engere Kontakte zu Gleichaltrigen. Die emotionale Nähe und der Körperkontakt zu den Eltern ermöglichen eine gesunde ganzheitliche Entwicklung, reduzieren Stress und erhöhen die psychische Widerstandsfähigkeit des Kindes (vgl. Wedewardt und Hohmann 2021, S. 20-23; Siegler et al. 2016, S. 407).
Kinder mit einer unsicher-vermeidenden Bindung haben ihre Eltern als ablehnend erlebt und sie infolgedessen als zurückweisend repräsentiert. Sie erleben keine Unterstützung seitens der Eltern und suchen daher in belastenden Situationen keine Nähe zu ihnen. Diese Kinder vermeiden Beziehungen und Körperkontakt oder brechen diese ab. In ihrer Selbsteinschätzung fällt es ihnen schwer sich eigene Fehler einzugestehen. Diese werden verdrängt oder negiert. Negative Emotionen, angestaute und ungelöste Gefühle, werden verleugnet.
Kinder mit einer unsicher-ambivalenten Bindung erleben ihre Eltern in manchen bedeutenden Situationen unterstützend, während sie diesen Schutz in anderen bedeutenden Situationen nicht erfahren. Die Eltern werden als unberechenbar repräsentiert. Das Kind zeigt vermehrt Strategien zum Bindungsaufbau, wie Schreien, Weinen, etc. und muss sich der Aufmerksamkeit seiner Eltern permanent versichern. Wenn die Grundbedürfnisse der Kinder nur unzureichend erfüllt oder missverstanden werden, ziehen sie sich oft in sich selbst zurück und entwickeln Probleme, eigene Gefühle wahrzunehmen, zu deuten und zu benennen. Sie lernen nicht, sich richtig einzuschätzen, da es ihnen an Rückmeldung und Bestätigung mangelt. Demnach ist die Selbsteinschätzung unsicher-ambivalent gebundener Kinder eher negativ, ihr Vertrauen in sich selbst gering. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder suchen Körperkontakt, dem sie sich jedoch gleichzeitig widersetzen.
Ein desorganisiert gebundenes Kind sucht hinsichtlich seines Bindungssystems Schutz und Sicherheit bei seinen Eltern, muss sich aber gleichzeitig vor diesen schützen. Bei diesem Bindungsmuster ist keine deutliche Eingruppierung des Verhaltensmusters möglich. Hier findet eine Unterbrechung des organisierten Verhaltens statt (vgl. Lengning und Lüpschen 2019, S. 19-22; Charf 2020, S. 82; Friedrich 2019, S.61).
Kinder, die in wenig einfühlsamen, unsicheren Beziehungsmustern aufwachsen, lernen nicht, sich auf die Gefühle anderer einzustellen und sich auf sich selbst verlassen zu können. Wenn ein Kind keine Reaktion durch seine Eltern erhält und/oder es deren Reaktion nicht mit seinem Verhalten in Verbindung bringen kann, wird es sich nicht als selbstwirksam erfahren. Sensitives und responsives Verhalten der Eltern dem Kind gegenüber sind ausschlaggebend für dessen Entwicklung (vgl. Merget 2022, S. 72; Renz-Polster 2020, S. 115).
3.3. Die Einflussfaktoren auf Bindungsbeziehungen
„Die Fähigkeit zur Feinfühligkeit geht auf die Aktivität von Spiegelneuronen zurück.“ (Bründel und Hurrelmann 2017, S. 75)
Das Temperament des Kindes und die Feinfühligkeit der Eltern sind Indikatoren für eine gelingende Bindungsbeziehung. Unter dem Temperament des Kindes versteht man die Erregbarkeit kindlicher Neuronen. Das Kind hat Einfluss auf die Qualität der Bindung, weil es mit seinem Temperament - dem Ausschnitt seiner Persönlichkeit, der ihn von anderen unterscheidet - und seinem Verhalten Einfluss auf die Eltern nimmt. In ihrer Anpassungsfähigkeit, Sensitivität, Ablenkbarkeit und Freude an Kontakt zeigen sich Kinder sehr unterschiedlich. Ein Beziehungsaufbau zu einem Kind, welches nicht zu sehr irritierbar ist, d.h. nicht zu stark auf Reize reagiert, einen großen Bedarf an Geselligkeit und Freude am körperlichen Kontakt hat, gestaltet sich leichter, als ein Beziehungsaufbau zu einem zurückgezogenen Kind (vgl. Leng- ning und Lüpschen 2019, S. 27; Hohmann 2021, S. 52-53).
Wesentlichen Einfluss auf die Qualität der Bindung hat die elterliche Feinfühligkeit, ihre Kompetenz in Resonanz mit dem Kind zu treten. Es ist eine große Herausforderung für Eltern das Befinden und die Bedürfnisse des Kindes wahrzunehmen, „richtig“ zu deuten und in ihrem Handeln zeitnah und situationsangemessen umsetzen zu können (vgl. Siegler et al. 2016, S. 406; Brisch 2020, S. 45). Die wesentlichen Merkmale von Feinfühligkeit sind: Schnelligkeit, Konsistenz und Angemessenheit der Eltern. Nur wenn sie die kindlichen Bedürfnisäußerungen zeitnah beantworten, kann sich das Kind als Verursacher dieser Handlung erkennen, indem es erlebt, dass die Reaktion der Eltern auf sein Verhalten folgte. Die elterliche Gestaltung der Interaktionen ist ausschlaggebend für den Erfolg einer Bindungsbeziehung.
Um den kindlichen Bedürfnissen gerecht werden zu können, benötigen Eltern den Bedürfnissen entsprechende Kompetenzen:
(1) Elterliches Engagement: Darunter ist zu verstehen, dass die Beziehung zum Kind emotional wohlwollend geprägt und die Bezugsperson interessiert, zugewandt und zeitlich verfügbar ist.
(2) Struktur: Die elterliche Fähigkeit, dem Kind entsprechend seinem Entwicklungsstand angepasste Herausforderungen zu stellen und ihm die notwendige Unterstützung zu geben. Das Kind soll nicht über- und nicht unterfordert werden.
(3) Unterstützung von Autonomie: Eltern gewährleisten Wahlmöglichkeiten, so dass das Kind eigene Ziele erkennen und verfolgen kann. Sie beziehen es in Entscheidungsprozesse mit ein (vgl. Becker-Stoll 2013, S. 244-245).
Erlebt das Kind bei gezeigtem Bindungswunsch eine ablehnende Haltung seiner Eltern, kann es diese Haltung in seine Selbstbetrachtung aufnehmen und sich selbst als „wertlos“ abspeichern. Auch wird es lernen, seine Gefühle zu unterdrücken. Im Umkehrschluss speichert es sich selbst als „wertvoll“ ein, wenn es auf eine feinfühlige und fürsorgliche Reaktion trifft.
3.4. Elterliche Erziehungsstile und Interaktionsmuster
„„Menschenbilder begründen Kinderbilder, Kinderbilder begründen Erziehungsmuster.“ (Renz-Polster 2020, S. 96)
Eltern, welche intuitiv die kindlichen Signale imitieren und in erweiterter Form zurückspiegeln, signalisieren dem Kind, dass es wahrgenommen wurde und veranlassen es zu neuen Resonanzaktionen. Durch die stetigen Erweiterungen der Eltern in der gemeinsamen Interaktion vergrößert sich das Kommunikationsspektrum des Kindes. Des Weiteren unterstützen ihre Rückmeldungen die Entstehung eines ersten Gefühls für sich selbst. Die Handlungsmuster der Eltern werden von deren impliziter Wahrnehmung und Deutung, ihren Vorstellungen, Haltungen und Zukunftserwartungen bestimmt und formen in der Interaktion das kindliche Selbstkonzept.
Unter dem Begriff Erziehungsstil werden die beobachtbaren, überdauernden Haltungen und Handlungen der Eltern im Umgang mit ihren Kindern gefasst. Kinder werden durch das Verhalten, die Einstellungen, die Überzeugungen, die Aktivitäten, die Sprechweise und den Erziehungsstil der Eltern beeinflusst. Sie lernen am Modell und imitieren. Die Verhaltensweisen des Kindes werden so lange durch die Beantwortung der Eltern rückgekoppelt, bis das gewünschte Verhalten erreicht ist. Diese Rückkopplungen werden als interne Arbeitsmodelle internalisiert und helfen künftig auf bewährtes Verhalten zurückzugreifen (vgl. Ball und Braun 2019, S. 71).
Durch die Sprache und die konkreten Benennungen der kindlichen Gefühlsäußerungen lernt das Kind sich selbst zu verstehen, zu beschreiben und zu regulieren. Die sprachliche Interaktion zwischen dem Kind und den Eltern ist somit von großer Bedeutsamkeit für die Selbstkonzeptentwicklung (vgl. Merget 2022, S. 44). Hinsichtlich ihrer emotionalen Wärme, der Bereitschaft auf eine sprachliche Interaktion auf Augenhöhe und dem Gefälle zwischen Autonomie und Kontrolle unterscheidet Baumrind (1971) vier verschiedene Erziehungsstile:
(1) Der autoritäre Erziehungsstil ist durch starke Kontrolle, wenig Zuwendung seitens der Eltern und wenig Mitspracherecht der Kinder gekennzeichnet. Er legt Wert auf Gehorsam und verläuft entlang eines Machtgefälles, in dem das Kind lernen muss, sich anzupassen und unterzuordnen.
(2) Der permissive Erziehungsstil zeichnet sich durch Zuwendung, aber geringe Kon- trolle/Lenkung seitens der Eltern und hohe Eigeninitiative des Kindes aus. Er betrachtet eine kindliche Verhaltenskontrolle als Übergriff auf die kindliche Selbstbestimmung.
(3) Der vernachlässigende Erziehungsstil zeigt ein „zu wenig“ in allen Dimensionen. So lenken die Eltern ihr Kind nicht, zeigen ihm aber auch keine Zuwendung oder emotionale Wärme. Vernachlässigende Eltern sind bemüht den zeitlichen Aufwand für Interaktionen mit ihrem Kind so klein wie möglich zu halten. Sie sind auf sich selbst bezogen und schenken dem Kind nur wenig Beachtung oder Mitspracherecht.
(4) Im autoritativen Erziehungsstil sind die Eltern bestrebt, die kindliche Selbstständigkeit zu fördern. Sie interagieren emotional fürsorglich und fungieren als Ansprechpartner und Stütze für ihr Kind. Dieser Erziehungsstil zeichnet sich durch Zuwendung bei gleichzeitiger Lenkung und Kontrolle des kindlichen Verhaltens aus (vgl. Alt 2008, S. 127; Seel und Hanke 2015, S. 607-608).
Die elterlichen Haltungen und Handlungen werden durch ihren Sozialraum geprägt. Damit bildet die Herkunftsfamilie den Rahmen für die Selbstkonzeptentwicklung des Kindes. Das Kind übernimmt die sozialen Abläufe in seine internen Arbeitsmodelle und bildet Schemata der optimalen Anpassung an seinen individuellen biografischen Lebensraum. Die Lebensweise der Eltern überträgt sich durch die Art des Umgangs und der Kommunikation miteinander direkt auf die Kinder. Kommunikation in Form von Sprache projiziert die Realität und erschafft gleichzeitig eine neue Wirklichkeit, indem das Denken strukturiert und Assoziationen und Gefühle gelenkt werden (vgl. Bauer 2007, S.69; Bründel und Hurrelmann 2017, S. 79, 187; Sch- nerring und Verlan 2020, S. 92-98; Funcke und Hildenbrand 2018, S. 230).
Bei der „Wahl“ des Erziehungsstils können der sozioökonomische Status und die Situation der Familie eine Rolle spielen. Eltern mit niedrigem sozioökonomischem Status erziehen ihre Kinder häufiger autoritär als Eltern, welche besser situiert sind. Diese beziehen Kinder eher ein und interagieren mit ihnen auf Augenhöhe, fördern selbstgesteuertes und autonomes Verhalten ihres Kindes. Darüber hinaus erhöht ökonomischer Druck die Wahrscheinlichkeit von Stresssituationen, Streitigkeiten, psychischen Belastungen und Erkrankungen innerhalb der Familie. Dieser Umstand wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die elterliche Energie aufgebraucht ist und keine Reserven für sensitiven und feinfühligen Umgang mit dem Kind zur Verfügung stehen. Psychische Auffälligkeiten, unreguliertes Verhalten, Straffälligkeit und Drogenkonsum bei Kindern und Jugendlichen korrelieren häufig mit fehlender Unterstützung seitens der Eltern in Verbindung mit wirtschaftlicher Not und einer schlechten Wohngegend. Die Qualität der Bindungsbeziehungen und infolgedessen die Qualität der Erziehung sind besonders bei Familien, die an der Armutsgrenze leben eingeschränkt. Kinderarmut beläuft sich in der Bundesrepublik Deutschland auf 20,5 Prozent (vgl. Butterwege und Butterwegge 2021, S. 50). Die Einkommensungleichheiten der Eltern nehmen seit den 1980er Jahren zu.
[...]
- Quote paper
- Christine Bechtold (Author), 2022, Die Entwicklung des Selbstkonzeptes in der frühen Kindheit. Der Einfluss und die Auswirkungen der Eltern-Kind-Interaktion auf das Selbstbild des Kindes, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1353303
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.