Dass sich hinsichtlich Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen in der Zeit des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Raum einiges veränderte, steht außer Zweifel. Daher galt der Erste Weltkrieg lange Zeit als „Motor der Emanzipation“ . Durch die Etablierung weiblicher Erwerbsarbeit in vermeintlichen „Männerberufen“ wurde der Weg für das allgemeine Wahlrecht für Frauen in Österreich 1918 geebnet. Diese durchaus positiven Schlüsse aus einer Zeit voller Leid wurden in den letzten Jahren relativiert, da dieses Narrativ doch zu sehr andere Blickwinkel ausblendete.
Trotzdem steht außer Frage, dass Frauen durch den Alltag in der Kriegswirtschaft in neue männerdominierte Sphären eindringen konnten. Wenn jedoch diese monokausale Interpretation zu einfach ist, stellt sich die Frage, inwieweit der Erste Weltkrieg nun zur Emanzipation von Frauen beigetragen hat? Wie sah der Alltag von Frauen in der Kriegswirtschaft und an der Heimatfront aus? Da oft von einer „Rolle der Frau“ gesprochen wird: kann eine genaue Rollenzuschreibung der Frau überhaupt definiert werden? Wie lässt sich die Dichotomie „Front“ / „Heimatfront“ aufbrechen?
Der folgende Artikel untersucht den Alltag von Frauen an der Heimatfront. Durch die Abwesenheit vieler Männer, die an der Front kämpften, veränderte sich der Alltag zuhause erheblich. Dabei ergaben sich nicht nur Chancen, sondern es entstanden auch viele Probleme. Ein zentraler Fokus wird auf die Frauenerwerbsarbeit in der Kriegswirtschaft gelegt, die ja als „Motor der Emanzipation“ galt. Wie sah der Alltag wirklich aus? Welche Probleme ergaben sich mit der Doppel- bzw. Dreifachbelastung durch Arbeit, Kindererziehung und Haushalt? Kam es zu einer Gleichstellung der Geschlechter?
Frauenalltag in der Kriegswirtschaft
Einleitung
In der grotesken Komödie „Les mamelles de Tirésias“ greift Guillaume Apollinaire 1918 einige große gesellschaftliche Veränderungen, die sich im Laufe des Ersten Weltkrieges ereignet haben, auf. Im Zentrum stehen die „Umwälzung der Geschlechterverhältnisse“ und die „Desintegration der Körper“.1In diesem aufsehenerregenden Theaterstück wirft die Protagonistin Thérèse ihre Brüste ins Publikum und verwandelt sich so in den Mann Tirésias. Damit wird die ideologische Debatte über die sehr niedrige Geburtenrate thematisiert. Thérèses Mann übernimmt die Fortpflanzung von nun an und gebiert 49.051 Kinder an einem einzigen Tag.2 Dass sich hinsichtlich Geschlechterrollen und Geschlechterverhältnissen in der Zeit des Ersten Weltkriegs im deutschsprachigen Raum einiges veränderte, steht außer Zweifel. Daher galt der Erste Weltkrieg lange Zeit als „Motor der Emanzipation“3. Durch die Etablierung weiblicher Erwerbsarbeit in vermeintlichen „Männerberufen“ wurde der Weg für das allgemeine Wahlrecht für Frauen in Österreich 1918 geebnet. Diese durchaus positiven Schlüsse aus einer Zeit voller Leid wurden in den letzten Jahren relativiert, da dieses Narrativ doch zu sehr andere Blickwinkel ausblendete. Trotzdem steht außer Frage, dass Frauen durch den Alltag in der Kriegswirtschaft in neue männerdominierte Sphären eindringen konnten. Wenn jedoch diese monokausale Interpretation zu einfach ist, stellt sich die Frage, inwieweit der Erste Weltkrieg nun zur Emanzipation von Frauen beigetragen hat? Wie sah der Alltag von Frauen in der Kriegswirtschaft und an der Heimatfront aus? Da oft von einer „Rolle der Frau“ gesprochen wird: kann eine genaue Rollenzuschreibung der Frau überhaupt definiert werden? Wie lässt sich die Dichotomie „Front“ / „Heimatfront“ aufbrechen? Der folgende Artikel untersucht den Alltag von Frauen an der Heimatfront. Durch die Abwesenheit vieler Männer, die an der Front kämpften, veränderte sich der Alltag zuhause erheblich. Dabei ergaben sich nicht nur Chancen, sondern es entstanden auch viele Probleme. Ein zentraler Fokus wird auf die Frauenerwerbsarbeit in der Kriegswirtschaft gelegt, die ja als „Motor der Emanzipation“ galt. Wie sah der Alltag wirklich aus? Welche Probleme ergaben sich mit der Doppel- bzw. Dreifachbelastung durch Arbeit, Kindererziehung und Haushalt? Kam es zu einer Gleichstellung der Geschlechter? Der erste Abschnitt beschäftigt mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges und den vielen raschen Veränderungen. Im zweiten Kapitel wird der Einstieg von Frauen in die Kriegswirtschaft unter die Lupe genommen. Der dritte Abschnitt schildert die Arbeitsbedingungen von Frauen, die in der Kriegswirtschaft tätig waren. Das vierte Kapitel stellt die Frage, inwieweit der Erste Weltkrieg als „Motor der Emanzipation“ gesehen werden kann. Abschließend wird kurz das Kriegsende thematisiert.
Ausgangssituation
Die Erinnerungskultur an den Ersten Weltkrieg gestaltet sich heute vor allem durch Kriegerdenkmäler, die in fast jeder Gemeinde an prominenten Orten stehen. Manche kennen auch die Bildikone der „Frau in der Straßenbahn“ als ein Symbol für weibliche Errungenschaften im Ersten Weltkrieg. Dies führt in der Folge zu einer erheblichen Reduzierung von Kriegserinnerungen. Susanne Rolinek sieht den Grund u. a. dahinter, dass Kämpfe an der Front heroische Heldengeschichten hervorrufen, wohingegen das Leben an der Heimatfront nur bedrückende Erzählungen von Not und Entbehrungen zu bieten hatte.4Gunda Barth-Scalmani appelliert, dass der Krieg „nicht nur als militärisch-operativer Vorgang, sondern als ein vielschichtiges Geschehen mit komplexen Auswirkungen auf die Gesellschaft“5gesehen werden muss. Nahezu die Hälfte aller auf Bauernhöfen Arbeitenden waren Frauen. Zu Kriegsbeginn fielen auf einen Schlag rund ein Drittel aller männlichen Arbeitskräfte weg.6Dies führte unweigerlich zu einer Vermischung der dominierenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Die Kriegspropaganda musste schnell handeln und veranlasste, etliche Zeitungsberichte, Leitartikel und Leserbriefe, die die nun immens wichtige Leistungsbereitschaft von Frauen hervorhob, zu veröffentlichen. Der Begriff der „Heimatfront“ entstand für die gesamte Mobilisierung „hinter der Front“.7Die Frauenrechtlerin Helene Lange merkte aber auch an, dass Frauen „den Ruf der Zeit an ihre Kraft, ihre Mitarbeit teils wie eine lang ersehnte Berufung, teils wie eine neue, hinreißende Forderung“ annahmen.8Der Enthusiasmus ist darauf zurückzuführen, dass das Fehlen vieler Männer Frauen die Chance bot, erwerbstätig und selbstständig zu werden. Vor allem in den Hauptstädten wurde der Kampf an der „Heimatfront“ schnell zur Pflicht, wohingegen Frauen auf dem Land der Propaganda zunächst skeptisch gegenüberstanden. Dennoch wurden nahezu alle Frauen im Sinne des „Volksganzen“ aufgefordert, höchste Opferbereitschaft an den Tag zu legen und ihre Rolle einzunehmen und damit verpflichteten sich bald alle, im Krieg tätig zu werden.9Die Aufrechterhaltung der „Heimatfront“ wurde als „heilige Arbeit“10für Frauen tituliert. Somit bestand das Idealbild der Propaganda zur Mobilisierung zum „totalen Krieg“ im tapfer für die Familie und das Vaterland kämpfenden Mann und der dienenden, opferbereiten Frau.11 Da nun aber auch die männerdominierten Arbeiten vor allem an den Bauernhöfen hinzukamen, überschritten Frauen häufig schnell ihr Leistungspensum. Die Frau eines Soldaten bat in einem Brief um offizielle Unterstützung, weil ihre Tochter lungenkrank sei, sie sich Grundnahrungsmittel nicht mehr leisten könne, ihre Gesundheit durch die viele Arbeit im großen Haushalt stark geschwächt sei und sie so nicht mehr einer Erwerbsarbeit nachgehen könne. Außerdem musste sie ihre Schweine schlachten und mit dem Gedanken, dass ihr Mann in Lebensgefahr schwebe, leben.12In heutigen Zeiten würde von einem, damals noch nicht bekannten, Burnout gesprochen werden.13Frauen mussten außerdem auf einen Schlag alle wirtschaftlich relevanten Entscheidungen selber treffen. Gleichzeitig forderte der Staat aufgrund von Strafzöllen und erheblicher Nahrungsmittelknappheit planwirtschaftliche Erträge ein, ohne jedoch die dazu nötigen Mittel, wie Dünger oder Arbeitskräfte bereitzustellen.14Zeitgleich sprang der Staat aber auch als Helfer ein und zahlte aufgrund der Abwesenheit der eingezogenen Männer einen „Unterhaltbeitrag“, der jedoch mit der hohen Inflation nicht mithalten konnte.15Frauen drangen daher in weitere vorher männerdominierte Berufe vor. So wurden sie Straßenbahnfahrerinnen oder Feuerwerhrfrauen. Dass dieser radikale Umschwung schnell Kritik von konservativer Seite und der Kirche auf den Plan rief, ist eine logische Folge. Obwohl Frauen wichtige und dringend notwendige Arbeit leisteten, wurden sie hosentragend als „mannstoll“ beschimpft.16Auch die zunächst pathetischen Zeitungsberichte verschwanden schnell wieder. Denn Konservative meinten, in diesen emanzipatorischen Entwicklungen „wohne eine Gefahr für das „Wesen“ oder die „Natur der Frau“ inne.17
Einstieg in die Kriegswirtschaft
Thomas Hellmuth nennt zwei wichtige Punkte, die bei einer Studie zur Kriegswirtschaft nicht fehlen dürfen: „die Umstellung der Industrie auf Kriegsproduktion und die damit verbundenen ökonomischen und sozialen Folgen, zum anderen die […] Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln und Gütern des täglichen Bedarfs“.18Durch diese rasche Umstellung profitierte vor allem die Metall-, Eisen- und Stahlindustrie am meisten, wohingegen andere Sektoren einen erheblichen Rückgang der Produktion verzeichneten.19Grundsätzlich ist die Form der Beteiligung von Frauen an der „Heimatfront“ differenziert zu betrachten. Je nach Stand und Klasse hatten Frauen verschiedene Möglichkeiten. Die obere Bevölkerungsschicht organisierte sich in Hilfsvereinen und half in Form von Pflege, Kochen und Nähen.20Adelige und großbürgerliche Frauen strickten aus karitativen Zwecken.21Diese Freiwilligenarbeit ist strikt von der Erwerbsarbeit in der Kriegsindustrie abzugrenzen. Neben Frauen, die ihren Arbeitsplatz zuhause oder am Bauernhof hatten, gingen auch viele Frauen schon vor Kriegsbeginn einer Erwerbsarbeit nach. Diese waren häufig in Tourismus oder in der Textilindustrie tätig. Die meisten weiblichen Kriegsarbeiterinnen waren junge Frauen im Alter von 18 bis 25 Jahren. Kriegsbedingt stießen dann auch viele Witwen dazu.22 Aufgrund der eklatanten Fehlkalkulation, die einen schnellen Krieg prognostizierte, war der gesamte Munitionsvorrat binnen sechs Wochen verschossen.23Somit mussten nun schnell Firmen gefunden werden, die Rüstungsprodukte produzieren. Kriegsbedingt nahm der Tourismus stark ab und durch die alliierten Blockademaßnahme fehlte es an unzähligen Rohstoffen, die für die Textilherstellung notwendig waren. Die noch übrig gebliebenen Textilfabriken wurden der Heeresleitung unterstellt und produzierten nun ausschließlich kriegsrelevante Ausrüstung. Trotz des Arbeitskräftemangels in der industriellen Arbeitswelt wurden zunächst kranke oder verletzte Soldaten eingegliedert. Erst als das auch nicht mehr reichte, begann man, Frauen für diesen Sektor anzuwerben.24 Der Grund für den Einstieg vieler Frauen in die Kriegswirtschaft ist sehr unterschiedlich. Zum einen suchten nun vielfach in die Arbeitslosigkeit gerutschte Frauen neue Arbeit in der Metall- und Maschinenindustrie, die durch den enormen Zuwachs der Rüstungsindustrie unzählige Arbeitskräfte suchte, denn viele Frauen hatten durch den personellen Aderlass in der Textilindustrie und im Tourismussektor mit existenziellen Problemen zu kämpfen. Zum anderen war für viele die Arbeit in Fabriken, die sehr anstrengend war, trotzdem noch eine Erleichterung im Vergleich zu den vorherigen Arbeitsstellen als Landarbeiterinnen oder Dienstmädchen. Außerdem konnten sich kriegsbedingt auch viele Bessergestellten keine Hausangestellte mehr leisten. Frauen aus höheren Schichten wechselten oft in die Militärverwaltung.25Frauen übernahmen Tätigkeiten in Geschossdrehereien, Schlossereien, bei Bahnbauten, als Müllerinnen, Straßenreinigerinnen, Lastenträgerinnen und in Elektrizitätswerken übernahmen sie sogar Maschinendienste. Nun waren die Tätigkeiten von Frauen in zuvor männerdominierten Berufen wieder gefragt.26Insgesamt begannen in Österreich circa eine Million Frauen in kriegsrelevanten Fabriken zu arbeiten. Das waren rund die Hälfte aller Arbeiter in staatlichen Fabriken.27
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1Krivaneč, Eva: Unterhaltungstheater als Medium der Verhandlung von Geschlechterrollen im Ersten Weltkrieg. In: Martina Thiele, Tanja Thomas und Fabian Virchow (Hrsg.): Medien – Krieg – Geschlecht. Affirmationen und Irritationen sozialer Ordnungen. Wiesbaden 2010, S. 135–152, hier: S. 145.
2Vgl. ebd., S. 145.
3Kruse Wolfgang, Frauenarbeit und Geschlechterverhältnisse. In: Bundeszentrale für politische Bildung. URL: https://www.bpb.de/themen/erster-weltkrieg-weimar/ersterweltkrieg/155330/frauenarbeit-und-geschlechterverhaeltnisse/ [Zugriff: 31.12.2022].
4Rolinek, Susanne: „Soldatinnen“ der Heimatfront. Frauen im Ersten Weltkrieg. In: Oskar Dohle und Thomas Mitterecker (Hrsg.): Salzburg im Ersten Weltkrieg. Fernab der Front – dennoch im Krieg. Wien, Köln, Weimar 2014, S. 91–106, hier: S. 95
5Barth-Scalmani, Gunda: Frauen. In: Hermann J. W. Kuprian und Oswald Überegger (Hrsg.): Katastrophenjahre: der Erste Weltkrieg. Innsbruck 2014, S. 83–112, hier: S. 83.
6Vgl. ebd., S. 87f.
7Hämmerle, Christa: Heimat/Front. Geschlechtergeschichte/n des Ersten Weltkriegs in Österreich-Ungarn. Wien, Köln, Weimar 2014, hier: S. 12.
8Zitiert nach: Schaser, Angelika: Frauenbewegung in Deutschland 1848–1933, Darmstadt 2006, S. 83.
9Vgl. Krivaneč, S. 136.
10Rolinek, S. 91.
11Vgl. ebd., S. 91.
12Kammeier, Heinz-Ulrich:Der Landkreis Lübbecke und der 1. Weltkrieg. Alltagserfahrungen in einem ländlichen Raum Ostwestfalens. Rahden/Westf. 1998, S. 29.
13Vgl. Barth-Scalmani, S. 89.
14Vgl., ebd., S. 89.
15Hanisch, Ernst: Alltag im Krieg. Erfahrungen an der Heimatfront. In: Oskar Dohle und Thomas Mitterecker (Hrsg.): Salzburg im Ersten Weltkrieg. Fernab der Front – dennoch im Krieg. Wien, Köln, Weimar 2014, S. 33–46, hier: S. 38.
16Vgl. Barth-Sclamani, S. 91.
17Hämmerle, S. 14.
18Hellmuth, Thomas: „Acker und Wiesen wissen nichts von Patriotismus“. Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg. In: Oskar Dohle und Thomas Mitterecker (Hrsg.): Salzburg im Ersten Weltkrieg. Fernab der Front – dennoch im Krieg. Wien, Köln, Weimar 2014, S. 47–60, hier: 47.
19Vgl. Hellmuth S. 48.
20Epkenhans, Michael: Der Erste Weltkrieg: 1914-1918. Stuttgart 2015, hier: S. 159.
21Rolinek, S. 98.
22Thom, Deborah: Gender and Work. In: Susan R. Grayzel und Tammy M. Proctor (Hrsg.): Gender and the Great War. Oxford 2017, S. 46–66, hier: S. 53.
23Vgl. ebd., S. 167.
24Willis, Angelika: Arbeiterschaft und Kriegswirtschaft. In: Hermann J. W. Kuprian und Oswald Überegger (Hrsg.): Katastrophenjahre: der Erste Weltkrieg. Innsbruck 2014, S. 177–194, hier: S. 177.
25Vgl. Epkenhans, S. 159.
26Vgl. Barth-Sclamani., S. 95.
27Vgl. Thom, S. 52.
- Quote paper
- Nico Türk (Author), 2023, Frauenalltag in der Kriegswirtschaft des Ersten Weltkrieges, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1352558
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