Tragen Kindertagesstätten zur Überwindung sozialer Ungleichheiten bei oder reproduzieren sie diese sogar? In der folgenden Arbeit werden Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheiten einerseits und der Kompensation derselbigen andererseits in Kindertagesstätten diskutiert. Dafür werden zu Beginn die wichtigsten Begriffe definiert sowie die Theorie Pierre Bourdieus zur Entstehung sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem erläutert. Abschließend an die Diskussion erfolgt im Rahmen des Fazits eine Auswertung sowie ein Ausblick.
Spätestens die internationale Vergleichsstudie PISA im Jahr 2000 lenkte Aufmerksamkeit auf bestehende Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem. Sie stellte eine Korrelation zwischen sozialer Herkunft und schulischer Laufbahn fest. Zahlreiche darauffolgende Studien belegten diesen Zusammenhang und untersuchten dabei vor allem den Übergang von Primar- zu Sekundarstufe. Seit Verankerung des Bildungsauftrages für Kindergärten im Kinder- und Jugendhilfegesetz 1990 gerät auch der Elementarbereich als erste Instanz des deutschen Bildungssystems zunehmend in den Fokus. Damit einher geht die Frage nach sozialen Ungleichheiten in den Jahren vor Schuleintritt. Bildung "von Anfang an" wird als Schlüssel zur "effektive[n] Ausschöpfung aller humanen Ressourcen und Potentiale" und damit zur Verbesserung des generellen gesellschaftlichen Bildungsniveaus sowie zur Überwindung sozialer Ungleichheiten betrachtet. Laut Studien zur Wirkung früher Bildung führt der Besuch eines Kindergartens zu höheren Bildungsabschlüssen sowie höheren Lebenseinkommen. Nicht zuletzt das 2019 in Kraft getretene "Gute-Kita-Gesetz" lässt große Hoffnungen schöpfen für eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung.
Inhalt
1 Einleitung
2 Soziale Ungleichheit in der primären Bildungsinstanz Kita
2.1 Begriffsdefinitionen und Entstehung sozialer Ungleichheit nach P. Bourdieu
2.2 Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit
2.3 Mechanismen der Überwindung sozialer Ungleichheit
3 Fazit
Literaturverzeichnis
1 Einleitung
Spätestens die internationale Vergleichsstudie PISA im Jahr 2000 lenkte Aufmerksamkeit auf bestehende Ungleichheiten im deutschen Bildungssystem. Sie stellte eine Korrelation zwischen sozialer Herkunft und schulischer Laufbahn fest. Zahlreiche darauffolgende Studien belegten diesen Zusammenhang und untersuchten dabei vor allem den Übergang von Primar- zu Sekundarstufe. Seit Verankerung des Bildungsauftrages für Kindergärten im Kinder- und Jugendhilfegesetz 1990 gerät auch der Elementarbereich als erste Instanz des deutschen Bildungssystems zunehmend in den Fokus. Damit einher geht die Frage nach sozialen Ungleichheiten in den Jahren vor Schuleintritt. Bildung „von Anfang an“ wird als Schlüssel zur „effektive[n] Ausschöpfung aller humanen Ressourcen und Potentiale“ (Rabe-Kleberg 2010, S. 45) und damit zur Verbesserung des generellen gesellschaftlichen Bildungsniveaus sowie zur Überwindung sozialer Ungleichheiten betrachtet. Laut Studien zur Wirkung früher Bildung führt der Besuch eines Kindergartens zu höheren Bildungsabschlüssen sowie höheren Lebenseinkommen (vgl. Berth 2013, S. 95 f.). Nicht zuletzt das 2019 in Kraft getretene „Gute-Kita-Gesetz“ lässt große Hoffnungen schöpfen für eine Verbesserung der frühkindlichen Bildung. (vgl. Rabe-Kleberg 2010, S. 45f.; Kuger/Peter 2019, S. 14 ff.)
Doch tragen Kindertagesstätten tatsächlich zur Überwindung sozialer Ungleichheiten bei oder reproduzieren sie diese sogar? In der folgenden Arbeit werden Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheiten einerseits und der Kompensation derselbigen andererseits in Kindertagesstätten diskutiert. Dafür werden zu Beginn die wichtigsten Begriffe definiert sowie die Theorie Pierre Bourdieus zur Entstehung sozialer Ungleichheiten im Bildungssystem erläutert. Abschließend an die Diskussion erfolgt im Rahmen des Fazits eine Auswertung sowie ein Ausblick.
2 Soziale Ungleichheit in der primären Bildungsinstanz Kita
2.1 Begriffsdefinitionen und Entstehung sozialer Ungleichheit nach P. Bourdieu
Stehen größeren Personengruppen relativ dauerhaft gesellschaftlich relevante Ressourcen ungleich zu anderen Gruppen zur Verfügung, wird von sozialer Ungleichheit gesprochen (vgl. Krause 2020, S. 812). Bildungsungleichheit umfasst eine Form der sozialen Ungleichheit, bei der die ungleiche Verteilung von Ressourcen im Bereich der Bildung gemeint ist. Es beschreibt die Korrelation zwischen sozialer Herkunft und der individuellen Bildungsbiografie (vgl. Schlicht 2011, S. 29 f.). Gegenüber der Bildungsungleichheit steht die Chancengleichheit im Bildungswesen. Diese bedeutet, „dass jedes Kind unabhängig von seiner Herkunft, seinem Geschlecht, seiner kulturellen und ethnischen Zugehörigkeit sowie dem sozialen Status seiner Familie optimale Entwicklungsmöglichkeiten hat und seine Potenziale entfalten kann.“ (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016, S.7). Gleiche Chancen in Institutionen des Elementarbereichs ermöglichen Kindern gleiche Startbedingungen für ihre schulische und berufliche Laufbahn sowie für gesellschaftliche Teilhabe.
Einer der populärsten Soziologen, der sich mit der Entstehung sozialer Ungleichheiten auseinandersetzte, ist Pierre Bourdieu. Sein millieuspezifisches Erklärungsmodell beruht auf der Grundlage von Relationen zwischen unterschiedlichen sozialen Positionen und habituell verankerten Lebensstilen. Er prägte dabei den Begriff des Habitus als Kennzeichnung von kollektiven Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata. Der Habitus einer Person wird bestimmt von seiner Position im sozialen Raum, welche durch objektive Strukturen, wie bspw. den Wohnort, geprägt wird. Individuelle alltägliche Handlungsweisen werden vom Habitus strukturiert und entscheiden darüber, wie eine Person sich selbst und ihre Umwelt wahrnimmt. Weitere zentrale Aspekte Bourdieus Theorie sind die Kapitalarten. Soziale Ungleichheit ist demnach nicht nur an ökonomisches Kapital, sondern auch an kulturelles und soziales Kapital geknüpft. Ökonomisches Kapital umfasst Eigentum und Vermögen, soziales Kapital bezeichnet soziale Beziehungen sowie damit einhergehende Ressourcen. Das kulturelle Kapital untergliedert Bourdieu in drei weitere Arten, welche Bildung, Wissen, kulturelle Güter und Bildungsabschlüsse beinhalten. Auf Grundlage der Menge und Struktur dieser Kapitalien, über die eine Person verfügt, definiert sich ihre Position im sozialen Raum. (vgl. Burzan 2011, S. 125-135). In Bezug auf soziale Ungleichheiten unter Kindern, lässt sich feststellen, dass Eltern den Habitus ihres Kindes sowie seine soziale Position im Raum stark determinieren. Durch ihren eigenen Habitus vermitteln sie ihrem Kind, meist unbewusst, ein bestimmtes kulturelles Kapital, ein Wertesystem, Verhaltens- und Einstellungsmuster. Der Habitus wird daher meist über mehrere Generationen weitergegeben und lässt sich nur langfristig verändern. (vgl. Beyer 2013, S. 36 ff.)
2.2 Mechanismen der Reproduktion sozialer Ungleichheit
Inzwischen steht es weitgehend außer Frage, dass der Bildungserfolg in Zusammenhang mit der sozialen Herkunft steht. Bereits in Kindertagesstätten sind Reproduktionsmechanismen sozialer Ungleichheiten aufzufinden. Die ersten sozialen Ausschlussprozesse beginnen schon vor dem eigentlichen Eintritt in den Kindergarten: beim Zugang. Trotz des Rechtsanspruchs auf einen Kitaplatz seit 1996 erfolgt Studien zufolge sowohl die Verteilung als auch Inanspruchnahme in Abhängigkeit der sozialen Herkunft. Demnach nehmen bspw. Eltern mit Migrationshintergrund, mit niedrigem Bildungsniveau oder aus unteren Einkommensschichten deutlich seltener einen Platz für ihr Kind in Anspruch als Eltern mit akademischem Abschluss (vgl. Kreyenfeld 2004, S. 103 f.). Zusätzlich dazu besteht im Kindergartensystem bis heute das Problem der Knappheit an verfügbaren Plätzen. In Gebieten mit stark begrenztem Kontingent an Kitaplätzen, werden diese nach bestimmten Kriterien verteilt. Auch an dieser Stelle öffnet sich die soziale Schere, da Kinder aus sozial schwächeren Familien deutlich seltener einen Betreuungsplatz erhalten. Vor allem im Alter von ein bis drei Jahren entscheiden die Bildung der Mutter, die Erwerbstätigkeit der Eltern, das Armutsrisiko sowie der Migrationshintergrund darüber, ob ein Kind eine Kita besucht (vgl. Kuger/Peter 2019, S. 17).
Hinzu kommt die Trägerstruktur deutscher Kindergärten. Aufgrund unterschiedlicher Qualitätsstandards sowie kostenpflichtiger privater Kindergärten erfolgt eine soziale Segregation (vgl. Kreyenfeld 2004, S. 99 f.). Kinder aus einkommensschwachen Familien besuchen Einrichtungen mit geringerer Qualität als Kinder aus einkommensstarken Familien. Die Qualität der Kita, die ein Kind besucht, ist demzufolge determiniert vom Einkommen der Eltern. So besuchen Kinder aus ähnlichen sozialen Milieus gemeinsam eine Einrichtung und es entstehen regional sogenannte „Brennpunkt-Kitas“. Diese Segregation führt zudem dazu, dass insgesamt besonders Kinder aus Elternhäusern, in denen sie in ihrer Entwicklung bereits gut gefördert werden, sowie Kinder mit Entwicklungsvorsprüngen am meisten von früher Förderung profitieren.
Über diese strukturellen Mechanismen der Reproduktion hinaus, lassen sich im pädagogischen Bereich ebenfalls Defizite finden. Eine Studie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) sowie Untersuchungen von Studierenden und Promovierenden weisen auf diskriminierende Haltungen und Handlungen der Erzieher*innen gegenüber sozial schwächeren Kindern und ihren Eltern hin. Pädagogische Fachkräfte ziehen schnell voreilige Schlüsse, es sind Mechanismen der Zuschreibung und Stereotypisierung beobachtbar. Die Studie des DJIs zeigte bspw., dass mit bestimmten Eltern keine regelmäßigen Gespräche stattfinden. Die Leiter*innen der Einrichtungen gaben als Gründe hierfür Sprachprobleme, mangelndes Interesse, psychische Probleme sowie Armut der Familien an. Vor allem mit Eltern mit Migrationshintergrund herrscht oft eine schlechte Zusammenarbeit. (vgl. Rabe-Kleberg 2011, S. 52; Beyer 2013, S. 46, 234 f.)
Auch im pädagogischen Handeln mit den Kindern weisen Untersuchungen darauf hin, dass Kinder aus bildungsärmeren Milieus anders behandelt werden. Es zeigt sich ein Zusammenhang zwischen den Wertvorstellungen der pädagogischen Fachkraft und ihrer Wahrnehmung von Verhaltensweisen der Kinder. In Abhängigkeit ihrer sozialen Herkunft zeigen manche Kinder bspw. mehr Interesse an bildungsnahen Themen als andere und werden entsprechend positiver wahrgenommen. Diese Zuschreibungen lassen vermuten, dass sich die Einstellung der pädagogischen Fachkraft gegenüber den Kindern in ihrem professionellen Handeln widerspiegelt. Sie erhalten Anerkennung nicht für sich als Person, sondern für ihre spezifischen Verhaltensweisen. Kinder aus bildungsstärkeren Familien werden daher möglicherweise mehr gefördert als Kinder aus bildungsschwächeren Familien, was soziale Ungleichheiten reproduziert und verstärkt. (vgl. Rabe-Kleberg 2011, S. 52; Beyer 2013, S. 46, 234 f.)
Im vorschulischen Bereich zeigt sich ebenfalls, dass von einer Überwindung sozialer Ungleichheiten noch nicht gesprochen werden kann. Insgesamt verbessern sich zwar die Bildungschancen der Kinder, die eine Einrichtung besucht haben. Aufgrund des selektiven Zuganges zur Kindertagesbetreuung und Vorschule sowie mangelnder Qualität, profitieren laut Studien sozial benachteiligte Kinder jedoch deutlich weniger von der vorschulischen Bildung als Kinder aus sozial stärkeren Familien. (vgl. Becker/ Lauterbach 2004, S. 152)
Es lässt sich feststellen, dass eine eher universalistische Politik vorherrscht und die kompensatorische Funktion von Kindertagesstätten noch nicht ausgereift ist. Es scheint das Missverständnis zu bestehen, dass eine Neutralität gegenüber der gesellschaftlichen Lage der Kinder als Gleichbehandlung aller verstanden wird. Durch das „Übersehen“ unterschiedlicher Voraussetzungen der Kinder und fehlender Förderungen entsprechend dieser, werden Kindern gleiche Bildungschancen bei Schuleintritt verwehrt. (vgl. Bertram 2013, S. 102 f.)
2.3 Mechanismen der Überwindung sozialer Ungleichheit
Betrachtet man die andere Seite der Medaille, kann der Kindergarten auch als Ort der Überwindung sozialer Ungleichheit fungieren. Die Kita als erste Stufe des Bildungssystems hat das Ziel, Kinder von Beginn an in ihren Bildungsprozessen zu fördern und durch ein kompensatorisches Angebot gleiche Bildungschancen zu schaffen (vgl. Beyer 2013, S. 41). Die positive Wirkung eines Kindergartenbesuchs für die weitere Entwicklung eines Kindes konnte bereits mehrfach nachgewiesen werden. Interaktionen in den Jahren vor Schuleintritt legen die Grundlage für die weitere intellektuelle Entwicklung. Bei vorherrschenden Defiziten an Anregungspotenzialen und damit mangelnden Entwicklungsmöglichkeiten im Elternhaus, können Kindertagesstätten kompensierend wirken. Besonders die Vorschule bietet Entfaltungsmöglichkeiten und fördert Potenziale, Sprach-, Lese- und Lernkompetenzen sowie die Motivation zur Leistungsbereitschaft (vgl. Becker/Lauterbach 2004, S. 129). Vor allem für Kinder mit Migrationshintergrund, in deren Elternhaus meist nur die Muttersprache gesprochen wird, ist der Kindergartenbesuch zum Erlernen der deutschen Sprache als Grundlage für weitere Bildungsprozesse essenziell. Studien zeigen, dass sich Kinder, die einen Kindergarten besuchen, durch eine erfolgreichere Bildungslaufbahn, damit verbundene höhere Abschlüsse und höheres Lebenseinkommen auszeichnen (vgl. Bertram 2013, S. 95 ff.). Dieser Effekt der vorschulischen Bildung zeigt sich bei „Arbeiterkindern“ jedoch deutlich ausgeprägter als bei Kindern „an- und ungelernter Arbei- ter[*innen]“ (vgl. Beyer 2013, S. 42).
Darüber hinaus können pädagogische Fachkräfte, als Bezugsperson eines Kindes, kompensatorisch für wenig feinfühlige Eltern wirken. Das Interaktionsverhalten der Erzieher*innen beeinflusst das Bindungsverhalten des Kindes, kann ein geringes Empathievermögen der Eltern kompensieren und sich entsprechend positiv auf die Entwicklung des Kindes auswirken (vgl. ebd., S. 41).
Eine Studie aus England zeigt des Weiteren die kompensatorische Funktion von Kindertagesstätten bei einer gezielten Einsetzung von Förderprogrammen. Soziale benachteiligte Kinder, die eine hoch qualitative Kita besuchen und spezielle Förderung erhalten, profitieren davon signifikant. Sie zeigen in der Grundschule mehr Selbstständigkeit, geringeres antisoziales Verhalten und bessere Schulleistungen in der fünften Klasse. (vgl. ebd., S. 42 f.)
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- Anonymous,, 2022, Der Kindergarten als Ort der Reproduktion oder Überwindung sozialer Ungleichheit?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1351714
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