Eine Äquivalenz der Schwerpunkte des Romans hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Judentum, der Darstellung eines jüdischen Ghettos und Jurek Beckers erste Lebensjahre in einem solchen ist augenscheinlich. Doch kann man das 1967 von Jurek Becker geschriebene Drehbuch „Jakob der Lügner“ wirklich als einen autobiografischen Verarbeitungsversuch betrachten? Als Versuch also, das Gefühl des Einzelnen in einer großen Masse – eingesperrt, überwacht und mundtot – in den eigenen Kontext zu setzen und dadurch eine Eigenrehabilitation herbeiführen zu wollen?
Jurek Beckers ganz eigene Einstellung zum Judentum ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt für das Verstehen dessen, was der Roman vermitteln will.
Inhaltsverzeichnis
1. Rezeptionsaspekte des Romans „Jakob der Lügner“
2. Identifikation mit dem Jüdischen
2.1 Die Figur Kowalski
2.2 Die Gebrüder Schtamm
2.3 Leonard Schmidt
2.4 Jakob Heym
3. Das textinterne Judenbild vs. das „historische Deutsche“
Quellen
1. Rezeptionsaspekte des Romans „Jakob der Lügner“
Zu Anfang soll geklärt werden, wodurch Jurek Becker zu diesem, seinem wohl größten Werk inspiriert wurde und welche Aspekte es für eine tiefergehende Rezeption durchaus zu beach-ten gilt.
Eine Äquivalenz der Schwerpunkte des Romans hinsichtlich der Auseinandersetzung mit dem Judentum, der Darstellung eines jüdischen Ghettos und Jurek Beckers erste Lebensjahre in einem solchen ist augenscheinlich. Doch kann man das 1967 von Jurek Becker geschriebene Drehbuch „Jakob der Lügner“ wirklich als einen autobiografischen Verarbeitungsversuch betrachten? Als Versuch also, das Gefühl des Einzelnen in einer großen Masse – eingesperrt, überwacht und mundtot – in den eigenen Kontext zu setzen und dadurch eine Eigenrehabilita-tion herbeiführen zu wollen? Man sollte meinen, dass dies nahe liegt, doch war der Autor für rekapitulierbare, explizite Erinnerungen an ein solches Ghettoleben zu jung; es handelt sich hier um den Zeitraum ab seiner Geburt, also 1937 bis zum Jahre 1939.1
Trotz oder gerade aufgrund nicht vorhandener Erinnerungen ist es Becker ein Bedürfnis, in eine solche Welt einzutauchen, was ihm mithilfe der Schriftstellerei zu gelingen vermag, denn „ohne Erinnerungen an die Kindheit zu sein, das ist, als wärst du verurteilt, ständig eine Kiste mit dir herumzuschleppen, deren Inhalt du nicht kennst“2.
Ein weiterer Aspekt für die Romangrundlage ist sicherlich die Geschichte, die der Autor von seinem Vater Max Becker erfahren hat. Dieser bat ihn im Anschluss, über jemand Außerge-wöhnliches zu schreiben. Die Geschichte: „Ich habe einen Mann gekannt, der hat im Ghetto Radio gehört. Weißt du, was das bedeutet? Das war bei Todesstrafe verboten. Der hat Radio London oder Radio Moskau oder was weiß ich gehört und hat die guten Nachrichten weiter verbreitet, und das ist solange gegangen, bis ein Spitzel ihn denunziert hat, und dann ist er erschossen worden“3. Sowohl das Motiv des Radios als auch der vermeintliche Held und des-sen tragisches Ende haben Becker derart beeinflusst, dass er sein Drehbuch stark daran an-lehnte. Dass der Held in Beckers Umsetzung den Namen Jakob trägt, ist kein Zufall – Jurek Becker wies darauf hin, dass es einen Zusammenhang mit der biblischen Geschichte von Jakob und dessen Betrug an Esau gebe.4 In dieser wird beschrieben, wie Jakob den Segen des Erstgeborenen, also den Vorzug vor seinem Bruder Esau durch eine Lüge erhält und damit am Ende zum Wohle aller beiträgt. Dieses Motiv des Lügens aus Barmherzigkeit übertrug Becker mit Jakob in seine Geschichte.
Nachdem das Drehbuch zu „Jakob der Lügner“ 1968 abgelehnt wurde, arbeitete Becker es zum Roman um. 1969 dann erschien dieser und begründete seinen Ruhm als Prosaschriftstel-ler. Ironisch wirkt die Tatsache, dass der Roman dann doch verfilmt wurde und sogar eine Oscar- Nominierung erhielt.
Jurek Beckers ganz eigene Einstellung zum Judentum ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt für das Verstehen dessen, was der Roman vermitteln will. Er identifizierte sich nie mit dieser ihm scheinbar aufgebrannten religiösen Zugehörigkeit, denn wenn man ihn danach fragte, so ant-wortete er: „Meine Eltern waren Juden“5. Sein distanziertes Verhältnis mündet sogar fast in einer Ablehnung jeglicher jüdischer Attribute, denn er verstand sie als eine Mahnung, eine Schuld begleichen zu müssen, die er nie auf sich genommen hat.6 Damit macht er sehr deut-lich, dass eine Identifizierung mit dem Judentum eine zu komplexe Identität mit sich bringt, in der er sich nicht einzuordnen bereit war. Aber genau dieses Problem des „Aufstempelns“ zieht sich durch seinen Roman, ganz abgesehen von dem denunzierenden Judenstern. Seine Figuren nehmen unmissverständlich Stellung zu ihrem Verhältnis zum Judentum und überra-schen den Leser teilweise mit völliger Ablehnung, zum Teil purem Atheismus. Dies lässt sich bei der Beleuchtung einzelner Figuren veranschaulichen.
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1 Vgl. Heidelberger-Leonard, Irene: Schreiben im Schatten der Shoah, in: Text + Kritik. Jurek Becker, hg. von Heinz Ludwig Arnold. München 1992, S. 19.
2 In: „Das Ghetto in Lodz 1940-1944“, Wien 1991, S.16.
3 Werkstattgespräch mit Jurek Becker. In: Graf, Konietzny 1991, S. 59.
4 Vergleiche Schenke, Manfred Frank: ...und nächstes Jahr in Jerusalem?: Darstellung von Juden und Judentum in Texten, Frankfurt am Main 2002, S. 254 ff.
5 Heidelberger-Leonard, in: Text + Kritik. S. 21.
6 Ebd.
- Arbeit zitieren
- René Ferchland (Autor:in), 2006, Der Jude im Text „Jakob der Lügner“, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/135138
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