Die vorliegende Masterarbeit befasst sich mit Ansätzen zur Begleitung der Angehörigen psychisch Kranker, die sich im Rahmen konstruktivistischer Erwachsenenbildung ergeben. Um die Forschungsfrage beantworten zu können, erfolgte eine umfangreiche Analyse aktueller Fachliteratur.
Menschliches Leben besteht aus Zäsuren und Umbrüchen. Diese Krisen, Ungewissheiten und Risiken erfordern dabei permanente Lern- und Veränderungsprozesse auch im Erwachsenenalter. Für Erwachsenen Angehörige von psychisch Kranken bedarf es entsprechenden jeweils umfassenden Anpassungsleistungen, die als zentrale Bildungsvorgänge angesehen werden können, welche dabei stets eine Weiterentwicklung und Differenzierung bewährter und vertrauter Deutungsmuster implizieren. Aus einer konstruktivistischen Sichtweise heraus entstehen hier Gelegenheiten, Wirklichkeitskonstruktion zu überdenken, sie zu vergleichen, anzureichern und neue Wirklichkeiten kennenlernen.
Angehörige können hierbei in ihren Erkundungsbewegungen begleitet werden.
So werden zum Beispiel bereits im Rahmen von Psychoedukation, Angehörigengruppen und Selbsthilfegruppen Bereiche der Erwachsenenbildung in Anspruch genommen, jedoch ohne eine explizite Bezugnahme auf die entsprechende Profession. Pädagogische bzw. erwachsenenpädagogische Dimensionen werden damit einhergehend weder einbezogen noch kritisch reflektiert. Die jeweiligen Curricula und Manuale sind bisher aus einer psychiatrischen Praxis heraus von Medizinern und Psychologen verfasst worden. Inhalte, Gestaltung und Durchführung werden insofern von klinisch notwendigen Sachverhalten dominiert. Pädagogisches, insbesondere auch konstruktivistisch-pädagogisches Geschehen im Sinne von Lern- und Bildungsprozessen, spielt dabei jedoch eine geringe Rolle. Auch eine Vernetzung mit einer Gesundheitsbildung für Erwachsene ist bisher nur wenig ausgeprägt.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
1.1 Problembeschreibung
1.2 Fragestellung
2 Begriffsannäherung
2.1 Psychische Erkrankung
2.2 Konstruktivismus
2.3 Erwachsenenbildung
3 Methodik
4 Psychische Erkrankungen als Teil des menschlichen Lebens
4.1 Angehörige von psychisch Kranken als Hilfsbedürftige und als Helfende
5 Pädagogische Angehörigenarbeit im Kontext psychischer Erkrankungen
5.1 Beratung als psychosoziale und als pädagogische Intervention
5. 2 Professionelle Begleitung von Angehörigengruppen
5.3 Perspektiven der Angehörigenselbsthilfe
5.4 Angehörigenarbeit im Rahmen von Psychoedukation und Trialog
6 Konstruktivistische Sichtweisen als verbindende Elemente
6.1 Menschliche Wahrnehmung, Kognition und Emotion
6.2 Menschliche Kommunikation und soziale Systeme
6.3 Lernen, Wissen und Wahrheit aus konstruktivistischer Sicht
7 Facetten der Erwachsenenbildung
7.1 Subjektorientierung, biografisches Lernen, lebenslanges Lernen
7.2 Erwachsenenbildung im Kontext von Gesundheit und Prävention
8 Konstruktivistische Erwachsenenbildung
8.1 Konstruktivistische Lernberatung und Lernbegleitung
8.2 Konstruktivistische Didaktik und Methodik
8.3 Konstruktivistische Erwachsenenbildung in digitalen Wirklichkeiten
9 Zusammenfassung, Gegenüberstellung und Diskussion
9.1 Der gesellschaftliche Blickwinkel
9.2 Der pädagogische Blickwinkel
10 Fazit und Ausblick
Literatur
Zusammenfassung
Angehörige von psychisch kranken Menschen durchleben häufig schwierige Anpassungsprozesse in der Auseinandersetzung ihres eigenen Lebensvollzuges, den Bedürfnissen ihrer psychisch Kranken Angehörigen und den entsprechenden gesellschaftlichen Sichtweisen, Gegebenheiten und Erwartungen. Inzwischen haben sich dahingehend verschiedene Unterstützungsmöglichkeiten herausgebildet, wobei sich insbesondere die soziale Psychiatrie mit der Begleitung der Angehörigen psychisch Kranker in vielfältiger Weise beschäftigt. Die vorliegende Masterarbeit befasst sich mit Ansätzen zur Begleitung der Angehörigen psychisch Kranker, die sich im Rahmen konstruktivistischer Erwachsenenbildung ergeben. Um die Forschungsfrage beantworten zu können, erfolgte eine umfangreiche Analyse aktueller Fachliteratur. Im Endergebnis zeigen sich sowohl indirekte als auch direkte Ansätze zur Begleitung: Indirekt, durch die Erweiterung von Bildungsprozessen zur Förderung der gesellschaftlichen Teilhabe, die verstärkte Vernetzung und Kooperation verschiedener Fachleute, Professionen und die Versorgungssysteme und durch die Störung scheinbar nicht hinterfragbarer Wahrheiten, Grundsätze, Normen und Werte. Direkte Ansätze ergeben sich durch die Ausarbeitung und Gestaltung von Beratungs- und Gruppenprozessen und durch die damit einhergehenden didaktischen und methodischen Potentiale. Die Arbeit zeigt verschiedene weiterführende Forschungsansätze auf: Unter anderem kann zuerst eine eher praxisnahe, konzeptionelle Weiterführung Zielführend sein.
Gender Erklärung
Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird in der vorliegenden Arbeit die gewohnte männliche Sprachform bei personenbezogenen Substantiven und Pronomen verwendet. Dies impliziert jedoch keine Benachteiligung anderer Geschlechter, sondern soll im Sinne der sprachlichen Vereinfachung als geschlechtsneutral zu verstehen sein.
„So viel wird im täglichen Leben einfacher, wenn du Konstruktivist bist“ (Ernst von Glasersfeld)
1 Einleitung
Wir alle sind Angehörige, dieses Axiom bedarf keines Beweises (Seifert, Peukert & Bom- bosch, 2005, S. 1). Betrachtet man gleichzeitig die Häufigkeit psychischer Erkrankungen - fast jeder Zweite ist irgendwann in seinem Leben davon betroffen (Möller, Laux & Kapfhammer, 2018, S. 144) - so wird klar, dass wir alle auch Angehörige von Menschen mit psychischen Erkrankungen sind (Psota, 2020, S. 12); (Scherer & Lampert, 2017, S. 7).
Lange Zeit basierte dabei die Behandlungsphilosophie psychischer Erkrankungen auf der Idee, dass die engsten Angehörigen einen dominanten verursachenden Einfluss auf die Erkrankung haben (Amsler, 2004, S. 430). Mittlerweile hat sich die Rolle der Angehörigen in der psychiatrischen Versorgung jedoch stark verändert (Scherer & Lampert, 2017, S. 12) und es wird wahrgenommen, dass sie einen wesentlichen Teil zur Bewältigung der Krankheit und zur Unterstützung der psychisch Kranken im Alltag leisten (Gutmann, 2019, S. 34); (Schädle-Deininger, 2010, S. 82). Diese soziale Einbindung der Betroffenen kann für die Angehörigen gleichzeitig vielfältige und auch schwerwiegende Belastungen bedeuten, unter anderem gesundheitlich, emotional, beruflich und finanziell. Oft sind auch externe Beziehungen beeinträchtigt und Diskriminierung und Ablehnung wird erlebt (Gühne, 2019, S. 66). Ebenso besteht ein allgemeines Informationsdefizit sowohl auf Seiten der Angehörigen als auch in der Gesamtgesellschaft im Hinblick auf Wissen über die Erkrankungen, den Umgang mit den Betroffenen und die Hilfsmöglichkeiten (K. Dörner, Egetmeyer & Koenning, 2014, S. 126); (Psota, 2020, S. 13). Das hierin bestehende komplexe Aufgabengeflecht aus Bewältigung und Hilfestellung kann dabei kaum ein Angehöriger ganz für sich alleine bewältigen (Seifert et al., 2005, S. 12). Entsprechende Angehörigenarbeit wird dabei oft im Kontext einer medizinisch-psychologischen Behandlung verortet. Doch geht diese weit über den direkten Einbezug in die Fallarbeit hinaus und bedeutet insgesamt eine Vernetzung von Fachleuten unterschiedlichster Arbeitsfelder (Scherer & Lampert, 2017, S. 129). Derartige Hilfestellungen bieten Akteure aus verschiedenen Fachdisziplinen, u.a. aus Psychologie, Pädagogik, Medizin und Pflege (Schleider, 2011, S. 79-82); (Rüsch, Heland-Graef & Berg-Peer, 2021, S. 194).
Auch Erwachsenenbildung kann eine Begleitung bei der Bewältigung dieser oft krisenhaften Lebenslaufpassagen anbieten (Arnold, Nuissl & Rohs, 2021, S. 84). In ihrer hier aktuell einflussreichen konstruktivistischen Ausprägung (Ameln, 2004, S. 1); (Pätzold, 2013, S. 22) ergeben sich dabei auch Anschlussmöglichkeiten an eine systemisch-konstruktivistische Psychologie und Psychotherapie (Siebert, 2016, S. 99); (Watzlawick & Nardone, 2018, S. 59); (Westmeyer, 1999, S. 507); (Zirkler, 2001, S. 146-147). Von pädagogisch-konstruktivistischen Sichtweisen ausgehend sollen in der vorliegenden Arbeit entsprechende erwachsenenbildnerische Potentiale in den Fokus gerückt werden.
1.1 Problembeschreibung
Menschliches Leben besteht aus Zäsuren und Umbrüchen. Diese Krisen, Ungewissheiten und Risiken erfordern dabei permanente Lern- und Veränderungsprozesse auch im Erwachsenenalter (Siebert & Rohs, 2017, S. 13). Für Erwachsenen Angehörige von psychisch Kranken bedarf es entsprechenden jeweils umfassenden Anpassungsleistungen, die als zentrale Bildungsvorgänge angesehen werden können, welche dabei stets eine Weiterentwicklung und Differenzierung bewährter und vertrauter Deutungsmuster implizieren (Arnold, 2018, S. 87). Aus einer konstruktivistischen Sichtweise heraus entstehen hier Gelegenheiten, Wirklichkeitskonstruktion zu überdenken, sie zu vergleichen, anzureichern und neue Wirklichkeiten kennenlernen (Siebert, 2002, S. 34).
Angehörige können hierbei in ihren Erkundungsbewegungen begleitet werden. So werden zum Beispiel bereits im Rahmen von Psychoedukation, Angehörigengruppen und Selbsthilfegruppen Bereiche der Erwachsenenbildung in Anspruch genommen, jedoch ohne eine explizite Bezugnahme auf die entsprechende Profession. Pädagogische bzw. erwachsenenpädagogische Dimensionen werden damit einhergehend weder einbezogen noch kritisch reflektiert. Die jeweiligen Curricula und Manuale sind bisher aus einer psychiatrischen Praxis heraus von Medizinern und Psychologen verfasst worden. Inhalte, Gestaltung und Durchführung werden insofern von klinisch notwendigen Sachverhalten dominiert. Pädagogisches, insbesondere auch konstruktivistisch-pädagogisches Geschehen im Sinne von Lern- und Bildungsprozessen, spielt dabei jedoch eine geringe Rolle (Englert & Englert, 2007, S. 25); (Walther, 2011, S. 13). Auch eine Vernetzung mit einer Gesundheitsbildung für Erwachsene ist bisher nur wenig ausgeprägt.
Daraus ergeben sich nun erste Begründungen die erwachsenenpädagogische Expertise deutlicher einzubeziehen. Entsprechende, bereits angedeutete konstruktivistische Grundlagen überspannen dabei bereits weite Bereiche beteiligter Professionen und Strukturen. Insofern bietet sich ein entsprechender Blickwinkel , bzw. ein entsprechender Schwerpunkt an. Im Weiteren sollen nun mögliche Ansätze aufgezeigt werden. Den Fixpunkt der gesamten Arbeit stellt dabei die nachfolgende Forschungsfrage dar.
1.2 Fragestellung
Welche Ansätze zur Begleitung von Angehörigen psychisch Kranker eröffnen sich im Rahmen konstruktivistischer Erwachsenenbildung?
2 Begriffsannäherung
In den Abschnitten 2.1 bis 2.3 soll nun zuerst eine Annäherung an die für diese Arbeit relevanten Hauptbegriffe „psychische Erkrankung“, „Konstruktivismus“ und „Erwachsenenbildung“ erfolgen.
2.1 Psychische Erkrankung
Der aus dem altgriechischen stammende Begriff "Psyche" meint die Gesamtheit des menschlichen Wahrnehmens, Denkens und Fühlens (Psota, 2020, S. 11). Mit den „Erkrankungen der Psyche“ (engl. mental diseases) beschäftigt sich die „Psychiatrie“ (griech. psyche=Seele und iatros=Arzt) als „Seelenheilkunde“ (Bienstein, Weber & Bienstein, 2014, S. 119). Ein Mensch gilt nach aktueller Lesart als „psychisch krank“, wenn er sich subjektiv krank fühlt, er also unter seinem Verhalten leidet, und damit einhergehend Hilfe nötig ist; wenn er gestörte Funktionen zeigt, die ihm selbst unter Umständen nicht mehr einsichtig sind, die aber von anderen als solche wahrgenommen werden; wenn er Symptome aufweist, die innerhalb der Psychiatrie eindeutig als bekannte Krankheitserscheinungen klassifiziert werden (Vetter, 2007, S. 9). Jedoch zeigt sich der Begriff der „psychischen Erkrankung“ immer noch als vielleicht wichtigster und gleichzeitig umkämpftester Schlüsselbegriff innerhalb des gesamten psychiatrischen Aufgabenbereiches (Watzlawick, 2008, S. 162). Insofern gibt es tatsächlich verschiedene Konstrukte, was unter „psychischer Erkrankung“ zu verstehen ist (Ruf, 2005, S. 13).
Als besonders einflussreich erweist sich hier weiterhin ein medizinisch-biologisches und auch betont somatisches Krankheitsmodell (Faulbaum-Decke, 2010, S. 13); (Rüsch et al., 2021, S. 33); (Stindl-Nemec, 2001, S. 8), mit einer entsprechenden therapeutischen, wissenschaftlichen und didaktischen Praxis (Bock, 2014, S. 267). Treten aus dieser Sichtweise heraus Beschwerden oder Probleme auf, wird eine Person als krank eingestuft. In dem Bestreben, Krankheiten zu vermeiden, bzw. zu beseitigen, konzentriert sich auch die zugehörige Forschung auf die Ursachen von Krankheiten und die Behebung der daraus resultierenden Defekte. Dementsprechend stehen in der Zusammenschau die Beschwerden und Symptome der Betroffenen im Mittelpunkt (Löhr, 2016, S. 16). Eine Auseinandersetzung mit der Krankheit aus einer „Es-Perspektive“ zeichnet diesen Blickwinkel aus. Hier wird das von einer medizinisch-psychologischen Norm abweichende klar definiert und kategorisiert (Walther, 2011, S. 41).
Konstruktivistische Modelle erklären psychische Krankheiten nicht mono-kausal und linear-kausal, also als Defekt, der einfach zu beseitigen wäre. Vielmehr werden sie hier als Symptom für eine Störung im Gesamtsystem Mensch/Umwelt verstanden (Kösel, 2002, S. 27). Krankheiten sind Konstrukte und setzen die Unterscheidung zwischen krank und gesund voraus. Dabei wird diese Unterscheidung von einem Beobachter getroffen, der damit die Krankheit konstruiert. Krankheit ist damit ein Merkmal der Beobachtung (Ruf, 2005, S. 26). Auch wird jedem Menschen die Konstruktion seiner eigenen Wirklichkeit zugebilligt und Aussagen professionell Helfender sind nicht wahrer als die Aussagen der Betroffenen. Insofern fällt es schwer, Anderen so etwas wie „Verrücktheit“ zuzuschreiben (Watzlawick, 2018, S. 311-312). Aus konstruktivistischer Sicht ist davon auszugehen, dass professionelle Helfer also nicht die Experten für "richtige Lösungen" sind, sondern zusammen mit den Betroffenen auf die Suche nach vielleicht "passenderen Lösungen" für ihr Leben gehen können. Man kann so den psychisch Kranken als Menschen sehen, der bei der Lösung einer altersgemäßen Lebensaufgabe in eine potentielle Sackgasse geraten ist (Ruf, 2005, S. 29). Auch eine Therapie bedeutet insofern eine Intervention in der Bedeutung und keine Prozedur zur Linderung unerwünschter Symptome oder ein Training adäquater Bewältigungsmechanismen (Neimeyer, 2013, S. 19).
Ein integrativer Ansatz zur Erklärung der Ursachen psychischer Erkrankungen lässt sich anhand des in der Psychiatrie verbreiteten „Vulnerabilitätskonzeptes“ erkennen. Dieses geht von einer multifaktoriellen Entstehung psychischer Erkrankungen aus, mit genetischen, biologischen, neurophysiologischen, psychologischen und sozialen Variablen auf einer systemtheoretischen Grundlage (Walther, 2011, S. 22-23). Die Bewältigung psychischer Erkrankungen erfolgt hierbei durch eine Zusammenarbeit von Kranken, Angehörigen, professionell Helfenden und der Gemeinschaft der nicht Betroffenen (Finzen, 2020, S. 12).
2.2 Konstruktivismus
Eine "Konstruktion“ (lat. construere=bauen) bezeichnet sowohl den Prozess, in welchem Artefakte zu einem Artefakt höherer Ordnung zusammengefügt werden, als auch das Produkt, welches aus diesem Prozess hervorgeht, wobei ein „Konstrukt“ etwas nicht direkt fassbares ist und sich u.a. auf Eigenschaften oder Phänomene bezieht, welche auch nicht direkt beobachtbar sind (Aeppli, Gasser & Gutzwiller, 2016, S. 126); (Rusch & Schmidt, 2000, S. 180).
Davon abgeleitet dient der Begriff „Konstruktivismus“ als zusammenfassende Bezeichnung für verschiedene erkenntnis- und systemtheoretische sowie kognitionspsychologische und wissenssoziologische Ansätze, die davon ausgehen, dass Menschen über keinen unmittelbaren Zugang zu der sie umgebenden „Realität“ verfügen (Arnold, 2010, S. 173). „Konstruktivismus“ und „Systemtheorie“ stellen dabei Bezeichnungen für unterschiedliche Aspekte eines einzigen Theoriezusammenhangs dar. Sie gehören also zu ein und demselben Modell (Wasser, 2022, S. 44). Insofern sind die Begriffe "Systemisch" und "Konstruktivistisch" prinzipiell konvertibel. Eine Verkürzung auf "systemisch" oder "konstruktivistisch" hat dabei meist pragmatische Gründe. So können Wortungetüme wie z.B. „systemisch-konstruktivistisch“ vermieden werden (Huschke-Rhein, 2003, S. 7). In der vorliegenden Arbeit wird insofern der Begriff „Konstruktivismus“ als grundlegend angesehen und schließt auch „Systemische“ Theorien mit ein.
Der „Konstruktivismus“ als eine einheitliche Theorie, Schule oder Denkrichtung existiert dabei nicht. Er integriert vielmehr zahlreiche verschiedene Ansätze (Haan & Rülcker, 2009, S. 7); (Lindemann, 2006, S. 13); (Wasser, 2022, S. 10). Vorausgehende, den Konstruktivismus nachhaltig beeinflussende Ideen lieferten u.a. Locke, Berkeley, Hume und Kant. Ebenso Darwin, Nietzsche, Wittgenstein und Piaget (Glasersfeld, 2008, S. 94); (Kleve, 2010, S. 18). Konstruktivistische Modelle und Theorien wurden dann in der Folge in unterschiedlichen Disziplinen entwickelt: Z. B. durch von Glasersfeld aus der Philosophie und von Foerster aus der Kybernetik heraus (beide radikaler Konstruktivismus), durch Maturana, Varela und Roth aus einer Biologischen, bzw. Neurobiologischen Sichtweise heraus (radikaler- und neurobiologischer Konstruktivismus), durch Luhmann, Berger und Luckmann aus der Soziologie heraus (Systemtheoretischer Konstruktivismus, Sozialkonstruktivismus), durch Watzlawick aus Psychologie und Psychotherapie heraus (radikaler Konstruktivismus), durch Arnold und Reich aus der Pädagogik heraus (Emotionaler Konstruktivismus, Interaktionistischer Konstruktivismus), uvm. (Arnold, 2019a, S. 22); (Kraus, 2013, S. 18); (Siebert & Rohs, 2017, S. 54).
Solche konstruktivistischen Ansätze gehen grundsätzlich davon aus, dass Wahrnehmung sich nicht in den Sinnesorganen vollzieht, sondern in spezifischen Hirnregionen. Wahrnehmung ist demnach auch Bedeutungszuweisung (Schmidt, 2003, S. 13-14). Entsprechende Aussagen und Beschreibungen sind daher auch nicht als objektive Abbildung von „Realität“ zu verstehen, sondern als grundsätzlich abhängig von der Perspektive eines Beobachters und damit auch als subjektgebunden aufzufassen (Levold & Wirsching, 2021, S. 58). Der Begriff „Realität“ benennt dabei nach konstruktivistischer Lesart die physikalische Welt, der Begriff „Wirklichkeit“ wiederum die subjektiv konstruierten Lebenswirklichkeiten. „Wirklichkeit“ wird also konstruiert in der Auseinandersetzung mit „Realität“ (Kraus, 2013, S. 21). Der Konstruktivismus bestreitet jedoch nicht das Vorhandensein einer physikalischen „Realität“ und er behauptet folglich auch nicht, dass es keine Welt und keine anderen Menschen gibt, sondern er macht lediglich grundsätzliche Zweifel bezüglich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit geltend. Der Zugang zur „Realität“ ist demnach immer unüberwindbar von unseren eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten, unseren Kognitionen und Emotionen abhängig (Glasersfeld, 2008, S. 224); (Kraus, 2013, S. 15); (Siebert & Rohs, 2017, S. 51).
2.3 Erwachsenenbildung
Die Begriffe „Erwachsenenbildung“, „Erwachsenenpädagogik“, „Andragogik“ und auch „Weiterbildung“ werden häufig synonym gebraucht (Riedl & Schelten, 2013, S. 27), wobei der Begriff der „Andragogik“ (griech. aner = Mann, Mensch und ago = ich führe, leite) wörtlich übersetzt „Männerführung“ bedeutet (Reischmann, 2016, S. 19-27); (Seekatz, 1999, 1). In der vorliegenden Arbeit wird „Erwachsenenbildung“ als Hauptbegriff verwendet.
Die „Erwachsenenbildung“ ist durch ihren Bezug auf das Lernen in einem bestimmten Lebensalter definiert (Arnold, 2019c, S. 13); (Dinkelaker & Hippel, 2015, S. 15). Sie ist der Bereich der Pädagogik/Erziehungswissenschaft, der sich mit der Konzeptualisierung und der Erforschung der Bildung und des Lernens Erwachsener beschäftigt. Als etablierte Disziplin ist sie allerdings noch vergleichsweise jung. So wurden erst seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland erwachsenenpädagogische Professuren geschaffen. Ihre Spezialisierung sowie die wissenschaftspolitische Ausdifferenzierung ist in anderen europäischen und außereuropäische Ländern in der Regel wesentlich geringer ausgeprägt. Teilweise werden entsprechende Fragestellungen auch stärker unter einem sozialpädagogischem Fokus analysiert (Arnold, 2010, S. 90); (Din- kelaker & Hippel, 2015, S. 11). Die KMK und der Deutsche Städtetag beschreiben die Aufgaben von Erwachsenenbildnern als Erarbeitung und Erstellung von pädagogischen Konzepten, Lernzielkatalogen und Stoffplänen, als Beratung von nebenamtlichen Mitarbeitern und Teilnehmern, sowie als Auswahl und Planung der passenden Lehr-Lernverfahren (Thesing, 2001, S. 246).
Aus Erziehungswissenschaftlicher Perspektive ist das Erwachsenenalter dabei als eine Phase der Weiterentwicklung zu verstehen, in der sich das Verhältnis des Individuums zu sich selbst und zu seiner Umwelt durch die Bewältigung altersbezogener Anforderungen und die Auseinandersetzung mit seiner Umwelt verändert (Dinkelaker & Hippel, 2015, S. 28). Erwachsenenbildung findet damit einerseits auf einer organisierten und interpersonellen Ebene statt, durch Anleitung, Begleitung und Hilfen zur Bildung, durch Kompetenzentwicklung und Selbstverwirklichung und zur fachlichen Fortbildung und Umschulung. Andererseits auch auf der Ebene informeller Lernprozesse (Arnold et al., 2021, S. 9). Das Lernen Erwachsener ist prinzipiell biografisches Lernen. Insofern beginnt kein Lernprozess in der Erwachsenenbildung bei null. Lernstile, Lernmotive, Lernbarrieren sind biografisch verwurzelt (Siebert & Rohs, 2017, S. 69). Die Themen in der Erwachsenenbildung sind hierbei vielfältig, so u.a. Politik, Kunst und Kultur, Sprachen, Technik, berufliche Weiterbildung, Gesundheit, uvm. (Arnold, Krämer-Stürzl & Siebert, 2011, S. 45); (Faulstich & Zeuner, 2010, S. 15).
Die Erwachsenenbildung steht seit den 80er Jahren gleichzeitig auch im Zeichen einer verstärkten Hinwendung zu den Teilnehmenden bzw. zur Subjekt- und Erfahrungsorientierung. Also eine Wende hin zum Alltag, zur subjektiv gedeuteten Lebenswelt (Arnold et al., 2021, S. 83). Diese neuen „Lehr-Lernkulturen“ zeichnen sich vor allem durch ein stärker selbstgesteuertes Lernen der Teilnehmenden aus und weisen den Lehrenden in diesem Zusammenhang ebenso neue Aufgaben zu, wie z.B. die der Moderation, der Beratung, der Begleitung und des Arrangements von Lerngelegenheiten (Arnold & Schüßler, 2020, S. 1). Damit einhergehend werden in der Erwachsenenbildung aktuell mehrere Varianten pädagogischer Lernkonzepte diskutiert, so u.a. die subjektwissenschaftliche Theorie, die biografische Lerntheorie und die konstruktivistische Lerntheorie (Dinkelaker & Hippel, 2015, S. 51).
3 Methodik
Die vorliegende Arbeit nähert sich dem Thema aus einer pädagogischen Perspektive an, wobei gleichzeitig Aspekte der Psychologie, Philosophie, Neurobiologie und auch der Soziologie einbezogen werden. Erkenntnistheoretisch basiert die Arbeit auf dem radikalen Konstruktivismus Ernst von Glasersfelds, Heinz von Försters und Paul Watzlawicks. In Hinblick auf die verschiedenen konstruktivistischen Sichtweisen ist die hier dargestellte Auswahl an Theorien und Modellen sowie der Autorinnen und Autoren, die diese entwickelt haben, dabei zwangsläufig selektiv.
Davon ausgehend werden die Problemstellungen der Angehörigen psychisch Kranker anhand von Fachinformationen auf erwachsenenpädagogische Überlegungen hin verdichtet und entlang einer verbindenden konstruktivistischen Basis die Fragestellung betreffend aufbereitet. Grundlage für die Beantwortung der Forschungsfrage ist die Auseinandersetzung mit entsprechender wissenschaftlicher Fachliteratur. Die Forschungsfrage selbst wurde dabei bewusst mit dem Verb „begleiten“ und nicht „helfen“ versehen. Dies entspricht auch hier einem konstruktivistischen Verständnis von Pädagogik. Die Auswahl und Auswertung der Literatur erfolgte insofern nach wissenschaftlicher Relevanz aus Autorensicht. Um möglichst viele relevante Publikationen für eine Literaturanalyse zu erfassen, wurde in verschiedenen, relevanten wissenschaftlichen Datenbanken bzw. Online-Portalen gesucht: Scholar.google, SpringerLink, PubMed, gbv, ERIC, Die, DGfE, Erwachsenenbildung.at, Fachportal Pädagogik. Im Zuge dessen wurden Publikationen anhand der Schlagwörter „konstruktivistische Erwachsenenbildung“, „Angehörigenarbeit in der Psychiatrie“, „Konstruktivismus“, und „Lernen aus konstruktivistischer Sicht“, gesichtet. Nach einer ersten Analyse wurde die Suche mittels der Schlagwörter „Gesundheitspädagogik“, „Stigmatisierung und psychische Erkrankung“, „Angehörigengruppen in der Psychiatrie“, „Psychoedukation“, „Krankheit als Bildungsanlass“ erweitert. Schlussendlich fanden 142 Quellen in der vorliegenden Arbeit Verwendung.
Für die systematische Beantwortung der Fragestellung ist die dargelegte Masterarbeit in insgesamt zehn Kapitel gegliedert. Ausgehend von Einleitung und Problembeschreibung widmet sich Kapitel zwei einer Begriffsklärung. In diesem werden die zentralen Begriffe „psychische Erkrankung“, „Konstruktivismus“, und „Erwachsenenbildung“ in den Blick geholt. Das vierte Kapitel setzt psychische Erkrankungen und die Bedürfnisse und Potentiale der Angehörigen in Zusammenhang. Kapitel fünf greift verschiedene Formen der Angehörigenarbeit sowie deren Bedeutung und Besonderheiten für die Pädagogik bzw. die Erwachsenenbildung auf. Kapitel sechs befasst sich mit konstruktivistischen Vorstellungen. Insbesondere werden hier die jeweiligen kognitiven, emotionalen und kommunikativen Bestandteile eingearbeitet. Den abschließenden Teil dieses Kapitels bildet eine Betrachtung von Lernen, Wissen und Wahrheit aus konstruktivistischer Sicht. Mit Beginn des siebten Kapitels wird der Fokus der Arbeit auf das Lernen Erwachsener gelegt. Im achten Kapitel wird schließlich auf verschiedene konstruktivistische Ansätze in den Bereichen Beratung, Didaktik und Methodik hingeführt. In den Kapiteln neun und zehn sind die Ergebnisse der Ausarbeitung ersichtlich.
4 Psychische Erkrankungen als Teil des menschlichen Lebens
„Z u allen Zeiten wurde Wahnsinn als Abweichung von einer Norm verstanden, die ihrerseits als die endgültige, letzte Wahrheit angesehen wurde. Diese Wahrheit war so >>endgültig<<, daß schon ihre Infragestellung als Zeichen von Verrücktheit oder Bosheit galt" (Watzlawick & Nardone, 2018, S. 26).
Die voranstehenden Feststellungen Paul Watzlawicks berühren bereits zwei zentrale Aspekte in Hinblick auf den menschlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen. Einerseits die machtvolle Rolle gesellschaftlicher Zuschreibungen in ihrer Normierung von Gesundheit und - im speziellen psychischer - Krankheit, andererseits auch den Einbezug einer objektiven, unbedingt wahren Sichtweise als letztgültige Grundlage, um damit die Entstehung entsprechender Maßnahmen, Behandlungen, Einrichtungen, Institutionen und auch spezialisierten Berufen abzusichern.
Die Frage jedoch, was denn eigentlich „normal“ ist, muss offen bleiben (Gutmann, 2019, S. 59). Eine objektive und klare Definition von "Normalität", wie sie in der Psychiatrie angestrebt wird, ist indes gar nicht möglich, weil wir es in diesem Falle mit dem Wesen des Menschen zu tun haben. Und was der Mensch ist, ist letzten Endes eine metaphysische Frage, für die es auch keine abschließenden Beweise gibt (Watzlawick, 2007a, S. 58). „Nicht-normal-sein“, oder auch „Psychisch Anderssein“ war insofern auch nie einer rein naturwissenschaftlichen Betrachtung vorbehalten, sondern stand immer in Wechselwirkung mit religiösen, philosophischen und in jüngerer Zeit auch sozialwissenschaftlichen Theorien der menschlichen Psyche (Rusch & Schmidt, 2000, S. 52).
Gleichwohl prägt unser Menschenbild unser Handeln und unser Verständnis von psychischer Erkrankung (Bock, 2014, S. 10); (Wessel, 1996, S. 13). Und wie die Geschichte dabei lehrt, ist die Psychiatrie und damit auch die Sichtweise auf psychische Erkrankungen immer abhängig vom jeweiligen Gesellschaftssystem, in dem sie besteht. Daher waren z.B. psychiatrische Krankenhäuser lange Zeit vorrangig Orte der Verwahrung, der völligen Entprivatisierung des Einzelnen. Die damit verbundene Entrechtung fand ihren Höhepunkt in der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur, in der der vorherrschende Rassismus dazu führte, psychisch Kranke als Gefahr für den „gesunden Volkskörper“ zu sehen (K. Dörner et al., 2019, S. 33) und schließlich als „lebensunwert“ zu ermorden.
Eine erforderliche Neujustierung des Bildes vom „Psychisch kranken Menschen“ aufgrund der auch in der Nachkriegszeit weiterhin vorhandenen unmenschlichen Versorgungssituation der Betroffenen und ihrer Angehörigen lässt sich anschließend aufbauend auf vielfältigen, jahrzehntelangen gesellschaftlichen Entwicklungen und durch eine Bezugnahme auf die nationale und internationale Reformpsychiatrie nachzeichnen. So wurde seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts das traditionelle psychiatrische Verwahr- und Anstaltsmodell zunehmend in Frage gestellt. Von den Empfehlungen der 1975 fertiggestellten Psychiatrie-Enquete ausgehend - Verkleinerung der Kliniken, Einrichtung psychiatrischer Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern, starker Ausbau der ambulanten Versorgung, Stärkung von Psychotherapie und Sozialarbeit an den Kliniken und im ambulanten Bereich, Gleichstellung psychisch Erkrankter im Gesundheitssystem, bessere Kooperation verschiedener Versorgungs- und Unterstützungssysteme - entwickelte sich in der Folge bundesweit eine bunte Vielfalt von außerklinischen Diensten, Initiativen und Projekten und in der Folge auch entsprechende Verlagerungen klinischer Interventionen in die Gemeinden (Faulbaum-Decke, 2010, S. 148-153); (Gutmann, 2019, S. 68-69); (Rüsch et al., 2021, S. 24).
Anschließend an diese positiven Entwicklungen ist es aktuell bei der Begleitung der von psychischer Krankheit Betroffenen das Ziel, ihnen eine Rückkehr zu einem erfüllten und hoffnungsvollen Leben, eingebettet in ein soziales Umfeld, zu ermöglichen (Gühne, 2019, S. 10). Damit einhergehend wird eine auf das Individuum zentrierte und Kompetenzen ermöglichende Haltung betont. Dieser Fortschritt ist für den gesamten Bereich der psychiatrischen Versorgung und deren Akzeptanz in der Gesellschaft von hoher Bedeutung - und sie verändert auch die Rolle der Angehörigen. Die hier angesprochene Autonomie der Betroffenen wird inzwischen in der psychiatrischen Versorgung - die Urteilsfähigkeit der Erkrankten vorausgesetzt - als wichtiges Prinzip geachtet (Scherer & Lampert, 2017, S. 19). Dies schließt so beispielsweise auch die Teilhabe am Arbeitsleben mit ein - die Mehrheit der Menschen mit anhaltenden psychischen Krisen oder schweren psychischen Erkrankungen hat auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt besondere Schwierigkeiten. Hier tätig zu sein, Geld zu verdienen und damit eine ausreichende Absicherung für den Lebensunterhalt zu erhalten, auch umfänglich versichert zu sein, dies alles gehört zu den existenziellen Bedürfnissen aller Menschen, ob gesund, krank oder behindert (K. Dörner et al., 2019, S. 793). Gleichzeitig zeigt sich dabei, dass es keine allgemeingültigen Bewältigungsstrategien gibt. Menschen leiden individuell, sie entwickeln sich, sie verändern sich, sie entwickeln neue Bedürfnisse, sie suchen neue Wege. Das Leiden im zeitlichen Ablauf entfaltet sich insofern genauso dynamisch wie die Verhaltensweisen um das Leiden zu mildern (Amsler, 2004, S. 144).
Die Betroffenen und ihre Angehörigen stehen dabei im Rahmen der Krankheitsbewältigung vor der doppelten Herausforderung, sich nicht nur mit den Symptomen der Erkrankung auseinandersetzen zu müssen (u.a. mit tiefer Traurigkeit, Stimmenhören, Angst, Energieverlust oder Suizidalität), sondern gleichzeitig auch mit einer weiterhin vorhandenen gesellschaftlichen „Stigmatisierung“ aufgrund ihres „Andersseins“ (Amsler, 2004, S. 266); (Psota, 2020, S. 26); (Rüsch et al., 2021, S. 1). Der Begriff „Stigma“ (griech. = Brandmal, Wundmal) beschreibt hierbei das Zusammentreffen mehrerer Prozesse: Eine Etikettierung, eine stereotype Trennung in „uns“ und „sie“, Vorurteile, Statusverlust und Diskriminierung die in einem Machtgefälle stattfindet (Rüsch et al., 2021, S. 38-39). Gesellschaftliche Stigmatisierung beruht dabei in großen Teilen auf Unwissenheit und Angst. Unerfahrene stehen einer Erkrankung wie z.B. der Schizophrenie eher ratlos oder sogar verzweifelt gegenüber. Und wo solche Unklarheit besteht, da wachsen Vorurteile (Amsler, 2004, S. 266); (Finzen, 2020, S. 11); (K. Dörner et al., 2019, S. 690).
Die verschiedenen gesellschaftlichen Systeme haben dahingehend durch ihr jeweiliges Bild von psychischen Erkrankungen großen Einfluss darauf, wie gut es den Betroffenen Menschen gelingt, zu ihrer Erkrankung zu stehen und sie damit auch in ihr Leben zu integrieren. Jedoch fällt dies umso schwerer, je deutlicher psychische Erkrankungen assoziiert werden mit abwertenden Begriffen wie Unberechenbarkeit, Gefährlichkeit, Faulheit oder auch Unzurechnungsfähigkeit, usw. (Amsler, 2004, S. 267). Psychische Krankheiten werden dadurch seitens der Betroffenen weiterhin als Makel, sogar als Schande empfunden. Sie trauen sich dadurch oftmals kaum über ihre Leiden zu sprechen und treffen ebenso seitens ihrer Umgebung auf eine ängstliche Zurückhaltung, auf Unverständnis oder auch auf Ablehnung (K. Dörner et al., 2014, S. 28). Das Lebensgefühl vieler psychisch Kranker und ihrer Angehörigen ist insofern häufig weiterhin geprägt durch die Erfahrung, am Rande der Gesellschaft zu stehen (Amsler, 2004, S. 267); (Rüsch et al., 2021, S. 137).
4.1 Angehörige von psychisch Kranken als Hilfsbedürftige und als Helfende
Psychische Krankheiten sind Krankheiten, die sich in besonderem Maße in zwischenmenschlichen Beziehungen niederschlagen bzw. die zwischenmenschlich erlebt werden (Amsler, 2004, S. 347). Insofern zeigen sich, wie im vorangegangenen Abschnitt beschrieben, psychische Erkrankungen nicht nur als Symptome am Menschen, sondern auch als weitreichende Störungen in den sozialen Beziehungen (Bock, 2014, S. 268). Als erste, die von diesen Störungen betroffen sind, können Angehörige von psychisch Kranken dabei das krankheitsbedingte Verhalten der Betroffenen oft nicht nachvollziehen. Ratlosigkeit und Unverständnis sind an der Tagesordnung. Entsprechend negativ sind auch die Auswirkungen auf das Familienklima. Andererseits haben die Angehörigen ein hohes supportives Potential (Alsleben, 2016, S. 438) und damit eine wesentliche stabilisierende Funktion (Falkai, 2013, S. 22). Damit einhergehend kommt den Angehörigen eine entscheidende Bedeutung bei der konkreten Lebensgestaltung - und Bewältigung zu. Professionell Helfende sind hier zwar die Experten in Fragen von Behandlung, Beratung, Krankheit und Pflege, sie sind jedoch keine Experten, wenn es um das Zusammenleben mit den psychisch Kranken geht, denn dies sind die Angehörigen selbst (De- ger-Erlenmaier, 2006, S. 31).
Die Angehörigen, die als Personengruppe inzwischen nicht mehr auf eine bestimmte Familienstruktur eingegrenzt sind und neben Familienangehörigen (z.B. Eltern, Partner, erwachsene Kinder, Geschwister) auch andere relevante Bezugspersonen wie Freunde, Betreuer und Laienhelfer umfassen können (Alsleben, 2016, S. 5); (Sauter, Abderhalden & al., 2011, S. 553), leiden dabei insbesondere unter verschiedensten emotionalen Belastungen: Sie verspüren Schuldgefühle, Gefühle der Hilflosigkeit und der Trauer, hadern mit ihrer Alleinverantwortung für die Betroffenen, fühlen sich oft einsam und isoliert, versuchen sich mit einem auf und ab zwischen Hoffnung und Enttäuschung zu arrangieren, sind mit verschiedensten Ängsten konfrontiert (Angst vor Rückfall und Suizid der Erkrankten, Zukunftsängste, Verlustängste, Angst vor eigener Erkrankung und Vererbung an die Kinder) und erleben gleichzeitig auch Ablehnung durch die Erkrankten selbst (Bull & Poppe, 2015, S. 14); (K. Dörner et al., 2014, S. 27); (Pitschel-Walz & Bäuml, 2018, S. 17). (Rüsch et al., 2021, S. 161); (Schmid, Spiessl, Vukovich & Cording, 2003, S. 122). Daneben spielen auch die bereits vorher beschriebenen Ängste vor Stigmatisierung, die die Angehörigen auch oftmals selbst erleben, eine zentrale Rolle (Finzen, 2020, S. 174); (Rüsch et al., 2021, S. 139); (Scherer & Lampert, 2017, S. 18). Die Ange- hörigen werden dabei immer wieder mit Fragen konfrontiert: Was bedeutet diese Erkrankung? Woher kommt sie? Welche Ursachen hat sie? Wer ist dafür verantwortlich? Wer ist schuld daran (Finzen, 2020, S. 171)?
Die emotionale Problematik wird auch von lebenspraktischen bzw. strukturellen Auswirkungen des sozialen Umfeldes flankiert. Angehörige sind so u.a. mit Inaktivität oder auch übermäßiger Aktivität der Erkrankten konfrontiert, ebenso mit der Vernachlässigung des Äußeren oder auch der (- gemeinsamen) Wohnung, mit der Störung familiärer Alltagsroutinen, mit einem gestörten Tag/ Nachtrhythmus, oder auch mit ungenügender oder falscher Ernährung und nicht zuletzt mit einem oftmals merkwürdigem Kontaktverhalten (K. Dörner et al., 2014, S. 26). Das gesamte Selbstverständnis des sozialen Gefüges kann damit in Frage gestellt sein und die ganze Lebensplanung der Angehörigen und die bisherigen Rollenverteilungen müssen oftmals überdacht und gegebenenfalls verändert werden (Bull & Poppe, 2015, S. 19). Nicht wenige Angehörige reagieren dahingehend auch mit einem Rückzug aus bisher vertrauten Lebensbereichen (Psota, 2020, S. 29). Von den durch die Erkrankung verursachten zusätzlichen finanziellen Belastungen abgesehen ergeben sich stressbedingt auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit der Angehörigen (- die psychische Belastung der Angehörigen liegt doppelt so hoch wie in der Normalbevölkerung) (Amsler, 2004, S. 430-431); (Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker, 2009, S. 23).
Das schon in der Einleitung angedeutete, Informationsdefizit trifft dabei häufig auch auf professionell Helfende, die aus vielerlei Gründen nur ungenügend über die Erkrankungen und ihre Folgen aufklären. Oft bleibt für die Angehörigen so nur der Griff zu Fachbüchern, Ratgeberliteratur und die Suche in Internetforen übrig (auch um sich Wissen und Sprache des psychiatrischen Fachbereiches anzueignen). Was sie dort lesen, verursacht jedoch oft eine noch größere Hilflosigkeit (K. Dörner et al., 2014, S. 29-30); (Faulbaum-Decke, 2010, S. 137); (Finzen, 2020, S. 170). Angehörige leiden insofern unter der Unfähigkeit der Psychiatrieexperten, ihre elementaren Probleme und Leiden zu begreifen (Finzen, 2013, S. 137). Und die daraus entstehende Verunsicherung hat wiederum einen tiefgreifenden Einfluss auf den Umgang mit den Betroffenen (Gutmann, 2019, S. 34). Auch die grundsätzlich als positive anzusehende zunehmende Verlagerung der psychiatrischen Therapie aus den Kliniken in teilstationäre und ambulante Einrichtungen erhöht oftmals die alltägliche Belastung der Angehörigen (Möller, Laux, Deister & Braun-Scharm, 2009, S. 557). So wird z.B. inzwischen ein Großteil der chronisch psychisch Kranken in Deutschland durch ihre nächsten Angehörigen betreut (Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker, 2009, S. 209).
Den Belastungen und Sorgen der Angehörigen kann zuerst die wertvolle emotionale Unterstützung, die sie den Erkrankten leisten gegenübergestellt werden. Angehörige sind grundsätzlich wichtige Vertrauenspersonen. Sie erleichtern es damit den Betroffenen ihre Krankheitssymptome zu bewältigen. Oft sind sie dabei auch die einzigen verbleibenden Bezugspersonen (Bull & Poppe, 2015, S. 21-23). Inzwischen gelten Angehörige ebenso als wichtige Ko-therapeuten, die einen beachtlichen Beitrag zur Therapie der Patienten leisten (Rössler & Lauber, 2004, S. 424) und dabei insbesondere für die Bewältigung immer wieder auftretender psychischer Krisen eine wichtige Ressource darstellen (Bull & Poppe, 2015, S. 17).
Angehörige können auch dabei helfen, die Betroffenen in eine sinngebende Tagesstruktur einzubinden, sie immer wieder zu motivieren und so auch die Autonomie der Betroffenen zu fördern. Angehörige helfen den Betroffenen auch dabei, Veränderungen besser zu akzeptieren, ebenso können neue Rollen besser akzeptiert werden. Beide Seiten, Betroffene und Angehörige, können sich so besser mit den veränderten Erwartungen und Hoffnungen bezüglich Gesundheit und Lebenserwartung auseinandersetzen (Bull & Poppe, 2015, S. 24-25). Für psychisch kranke Menschen sind ihre Familien im Endeffekt also der größte Hilfeverbund, der größte Anbieter von Wohnraum, der größte Anbieter von häuslicher psychiatrischer Pflege, der größte Sozial- und Pflegedienst, die mit Abstand größte Agentur für Freizeitgestaltung, Garant für verlässliche dauerhafte soziale Kontakte, und nicht zuletzt verlässlicher finanzieller Rückhalt (Berger, Schliebener & Vi- eten, 2010, S. 26).
Auch gegen die bereits dargelegte Stigmatisierung kann viel getan werden, wenn Betroffene und Angehörige möglichst oft auch in der Öffentlichkeit über ihre Erfahrungen sprechen (Rüsch et al., 2021, S. 163) und insbesondere die Angehörigen dabei in die Öffentlichkeitsarbeit der psychiatrischen Institutionen einbezogen und als Partner gewonnen werden. Psychiatrische Themen werden damit in die Gesellschaft getragen, um letztendlich eine gesellschaftspolitische Sensibilität für die Situation der Angehörigen zu befördern. Nicht zuletzt werden die Angehörigen dadurch auch in der Gesundheitspolitik vermehrt als wichtige Leistungserbringer wahrgenommen (Scherer & Lampert, 2017, S. 14).
Es bleibt festzuhalten, dass Angehörige nicht weniger leiden als die Betroffenen. Der Unterschied ist einfach, dass sie selbst psychisch gesund sind (Amsler, 2004, S. 54). Und viele Angehörige neigen dazu, sich selbst aufzuopfern. Sie müssen dabei aber bedenken, dass sie ihren Familienmitgliedern schaden, wenn sie ausbrennen (Finzen, 2020, S. 219). Insofern ist gerade die Frage der Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit für die Angehörigen von immenser Bedeutung und muss immer wieder individuell beantwortet werden (Scherer & Lampert, 2017, S. 21). Ebenso gilt festzuhalten: Je besser es den Angehörigen geht, desto besser geht es auch den Betroffenen (Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker, 2009, S. 23). Welche Potentiale sich insbesondere mittels pädagogischer Zielsetzungen zur Begleitung der Angehörigen ergeben, wird im nachfolgenden Kapitel genauer beleuchtet.
5 Pädagogische Angehörigenarbeit im Kontext psychischer Erkrankungen
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich verschiedene Ansätze der Angehörigenarbeit entwickelt, welche sich direkt an die Angehörigen wenden, oder die einzelne Angehörige oder auch ganze Familien in die Krankheitsbewältigung der Betroffenen mit einbeziehen (Rössler & Lauber, 2004, S. 425). Durch die inzwischen gemeindenahe und ambulante Unterstützung, rücken dabei insbesondere auch Sozialpsychiatrische Versorgungsmodelle und Ideen in den Vordergrund (Dörr, 2016, S. 33); (Bull & Poppe, 2015, S. 13). Diese beziehen einen erheblichen Teil ihrer Wirkungskraft aus der kritischen Analyse der unwürdigen Verhältnisse in der traditionellen Psychiatrie (Clausen & Eichenbrenner, 2016, S. 11) und implizieren damit eine spezifische psychiatrische Betrach- tungs- und Arbeitsweise, die eben besonders die psychosozialen Ursachen, sozialen Bedingungen und die Folgen von psychischen Störungen berücksichtigt (Dörr, 2016, S. 33).
Insofern ergibt sich speziell hier, zusätzlich zu den sozialpädagogisch geprägten Kontakten innerhalb der psychiatrischen Kliniken, eine besondere pädagogische Schwerpunktsetzung im Hinblick auf die Angehörigenbegleitung.
Als ambulante Einrichtungen, neben Klinikambulanzen, niedergelassenen Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapeuten, leisten hier die Sozialpsychiatrischen Zentren einen erheblichen Beitrag zur Versorgung von Erwachsenen Betroffenen und ihren Angehörigen, indem sie insbesondere umfassende Hilfen im jeweiligen Wohnumfeld anbieten. Beschäftigt sind hier multiprofessionelle Teams, wobei die pädagogischen Berufsgruppen den größten Zeitaufwand beanspruchen. Der Aufgabenbereich umfasst neben der Zusammenarbeit mit den zuständigen psychiatrischen Kliniken und weiteren psychiatrischen Versorgungseinrichtungen, ambulante Betreuung und Beratung, Vorsorge und weiterführende Hilfestellung. Dementsprechend können diese Einrichtungen einfach, ohne Gesundheitskarte oder auch ohne Voranmeldung von den Betroffenen und ihren Angehörigen aufgesucht werden (Clausen & Eichenbrenner, 2016, S. 12); (Paulitsch & Karwautz, 2019, S. 39). Die Gemeindepsychiatrischen Zentren führen insofern die zentralen Bausteine zur Versorgung der psychisch Kranken und ihres sozialen Umfeldes der jeweiligen Region zusammen: SPDI (Sozialpsychiatrischer Dienst), Tagesstätte, Außensprechstunden der jeweiligen klinischen Institutsambulanz und weitere Soziotherapeutische Angebote. Hier besteht also eine weitreichende Vernetzung, um psychisch Kranke und deren Angehörige gut zu versorgen. In den einzelnen deutschen Bundesländern werden diese Einrichtungen entweder an ein Gesundheitsamt angegliedert, oder sie befinden sich in der Trägerschaft der freien Wohlfahrtspflege ( welche dabei aber aus Steuermitteln finanziert werden und ebenfalls kostenlos zur Verfügung stehen) (Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker, 2009, S. 68-69).
Die Soziale Psychiatrie entwickelt dabei ihre Konzepte und Hilfeformen gemeinsam mit den Psychiatrie-Erfahrenen und ihren Angehörigen (Clausen & Eichenbrenner, 2016, S. 12-13) und versucht insbesondere die Beziehung zwischen den Angehörigen und den von Krankheit Betroffenen zu verbessern, indem Kommunikations- und Problemlösungskompetenzen erarbeitet werden. Eine gemeinsame Bewältigung der Erkrankung stärkt den Zusammenhalt und wirkt sich somit positiv auf die Lebensqualität aller Beteiligten aus (Bull & Poppe, 2015, S. 21). Voraussetzung für das Gelingen von damit angeregten Lernprozessen ist dabei ein sozialemotionales Klima der Akzeptanz, Aufgeschlossenheit, der wechselseitigen Anerkennung, der Toleranz und der Neugier (Arnold et al., 2011, S. 51). Und wenn damit einhergehend Krankheit als pädagogisches Geschehen gesehen wird und dabei mit einem Bildungsgedanken verbunden, so kann dies günstigerweise auch aus einem rein klinisch-pathogenen Krankheitsverständnis herausführen (Walther, 2011, S. 41). Pädagogische Arbeit, die sich mit „Störungen mit Krankheitswert“ auseinandersetzt, steht dabei jedoch immer auch in der Gefahr, in den rechtlich geschützten Bereich der Psychotherapie vorzudringen. Gleichzeitig ist jedoch offensichtlich, dass Therapie und pädagogische Arbeit mitunter gemeinsame Anliegen haben, zumal wenn es um Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung geht, bei denen der Krankheitswert oder die Frage, ob Psychotherapie indiziert ist, oft nicht befriedigend geklärt werden können (Pätzold, 2013, S. 140).
Die konkreten, praktischen Potentiale der pädagogischen Angehörigenunterstützung lassen sich beispielhaft anhand der in den Psychosozialen Zentren integrierten Sozialpsychiatrischen Dienste aufzeigen. Es bieten multiprofessionelle Teams (- Pädagogen und Psychologen) u.a Begleitungen im Rahmen von Hausbesuchen an, ebenso Vor- und Nachsorge stationärer Behandlungen, gleichzeitig vielfältige Gruppenarbeit mit Betroffenen und Angehörigen (u.a. im Rahmen psychoedukativer Gruppenformate und Angehörigengruppen), und entsprechende Sozialpsychiatrische Beratung - auch über einen längeren Zeitraum hinweg (K. Dörner et al., 2014, S. 151-154); (K. Dörner et al., 2019, S. 782); (Gutmann, 2019, S. 33-34). Die drei letztgenannten zentralen, praktischen Unterstützungsformate - Beratung, Psychoedukation und Angehörigengruppen - werden nun als ausgemachte relevante Kontaktstellen im Hinblick auf die Forschungsfrage in den beiden folgenden Kapiteln weiter untersucht.
5.1 Beratung als psychosoziale und als pädagogische Intervention
Beratung ist alltäglicher Bestandteil unserer zwischenmenschlichen Interaktionen und wird mehr oder weniger hilfreich ausgeführt. Sie ist inzwischen auch eines der am meisten entwickelten und vielfältigsten professionellen Hilfeangebote zur Unterstützung von Personen in unterschiedlichsten Problemlagen und ist besonders gut etabliert im medizinischen und auch im psychologischen Arbeitsfeld. Außerdem wird Beratung immer mehr als zentraler Bestandteil pädagogischer Arbeit verstanden (Krause & Fittkau, 2003, S. 15); (Schiersmann, 2022, S. 15).
Aktuell gibt es in Deutschland ein dichtes Netzwerk an unterschiedlichsten Beratungsstellen. Ebenso vielfältig sind Träger, die hier beschäftigten Berufe und auch die jeweiligen Arbeitskonzepte (Gudjons & Traub, 2016, S. 352). Spezifische Informations- und Beratungsmöglichkeiten (- auch als Telefonberatung und in digitalen Formaten) für psychisch Kranke und deren Angehörige bieten neben Sozialpsychiatrischen Einrichtungen auch noch Gesundheitsämter, Krisendienste, Sozialämter, teilweise auch allgemeine Sozialdienste und Selbsthilfeorganisationen (Stöckel, 2019, S. 53). Berater unterstützen hierbei die Problembewältigung, indem sie Ratsuchenden Orientierung ermöglichen, bei der Reifung von Entscheidungen helfen, Entwicklungen fördern, Risiken bewusst machen, bei der Kompensation von Verlusten Unterstützung geben und Ressourcen aktivieren. Beratung kann dabei prinzipiell immer nur Hilfe zur Selbsthilfe sein und hat das Ziel sich selbst überflüssig zu machen. Selbsthilfe anregen, ermöglichen und einleiten (evtl. ein Stück begleiten) ist jedoch nur möglich, wenn die Ressourcen des Ratsuchenden auch erkannt und aktiviert werden (Arnold, 2019a, S. 100); (Krause & Fittkau, 2003, S. 24). Beratung beruht aktuell auf divergierenden theoretischen Bezügen, so u.a. als humanistische, subjektbezogenen, individualpsychologische oder konstruktivistische Beratung (Faulstich & Zeuner, 2010, S. 161); (Schleider, 2011, S. 48). Verschiedene Autorinnen und Autoren vertreten die Position, dass Beratung der weitere Begriff sei und Psychotherapie eher einen Spezialfall von Beratung darstelle. Auch sind die Übergänge zwischen beiden Formaten fließend. Beratung und Psychotherapie können in vielen Fällen sinnvoll miteinander verknüpft werden, so kann z.B. der Besuch einer Beratungsstelle ergeben, dass eine Therapie anzuraten ist (Schiersmann, 2022, S. 45). Beratung hat auch einen präventiven Zweck. Prävention verhindert hier die Schwere späterer Probleme oder kann sie überhaupt vermeiden helfen (Huschke-Rhein, 2003, S. 28).
Die ambulante Sozialpsychiatrie ist gegenüber klinischen Settings u.a. für Lern- und Bildungsprozesse förderlicher (aufgrund größerer Zeitressourcen und einer Begleitung innerhalb des jeweiligen Lebensalltages) (Walther, 2011, S. 61). Die hier verortete psychosoziale Beratung ist ein entwicklungsorientiertes Angebot für Einzelne, Paare oder Gruppen. Schwerpunkte bilden dabei herausfordernde Lebenssituationen der Klienten. Sie zeigt einen ausgeprägten Bezug zum sozialen Netzwerk der Klientel. Sie ist alltagsorientiert und hat als Ziele die Prävention, Problembewältigung, Krisenbewältigung und Kompetenzentwicklung, jedoch nicht die Heilung von Störungen (Wälte & Borg-Laufs, 2021, S. 25).
Psychosoziale Beratung findet meist zentral in psychosozialen Beratungsstellen statt. So u.a. in der Lebensberatung, als Überbrückung zu einer Psychotherapie, als langfristige Begleitung, als Einzel- oder Gruppenberatung, ambulant oder teilstationär (Wälte & Borg-Laufs, 2021, S. 25). Neben der institutionellen Beratung haben auch andere, eher halbformelle Beratungsformate ihren Weg in das psychosoziale Feld gefunden. Besonders in den psychosozialen, sozialpädagogischen und erzieherischen Handlungsfeldern ist Beratungsarbeit in großen Anteilen halbformell bzw. als Querschnittsaufgabe vertreten. Entsprechende Beratung ist vor allem entlang der Ressourcen der Ratsuchenden angelegt und auf deren Aktivierung und Festigung bezogen. Auch vermischen sich bei halbformellen Beratungsformaten oft Beziehungsaufbau und Begleitung emotionaler Prozesse mit informierenden Anteilen (Schubert, Rohr & Zwicker-Pelzer, 2019, S. 206). Da diese Beratungskontexte oft wenig steuerbar im Sinne der Herstellung eines geschützten Raums und Settings sind, kommt es hier ganz besonders auf die Personen- und die Beziehungskompetenz des Beraters an. Im Bereich der halbformellen Beratung sind sich Ratsuchende oftmals nicht über ihre Aufträge und Ziele klar. Der Beratungsprozess dient am Anfang eher der Auftragssuche und der Einholung von Unterstützung (in individueller wie struktureller Hinsicht), im weiteren Verlauf der Stärkung von Selbstdefinition und Selbstermächtigung und schließlich der Partizipation der Klienten an sozialen Prozessen (Schubert et al., 2019, S. 203).
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- Quote paper
- Michael Werner (Author), 2023, Begleitung von Angehörigen psychisch Kranker. Erwachsenenbildung als Weg zur Verbesserung der Lebensqualität, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1349515
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