In der vorliegenden Arbeit soll der Song als ein Mittel zur Verfremdung betrachtet werden, denn „Verfremdung ist in der Tat die Grundstruktur von Bertolt Brechts Dichtung.“ Diese Erkenntnis von Reinhold Grimm wird auch dadurch bekräftigt, dass das von Brecht entworfene und verwendete Epische Theater als Theater der Verfremdung definiert ist. Helmut Jendreiek betrachtet das marxistische Programm der klassenkämpferischen Weltveränderung als gedankliches Fundament des Epischen Theaters, wobei Brecht seiner Ansicht nach durch die Technik der Verfremdung den Nachweis erbringt, dass Veränderung notwendig und möglich ist. Ziel dieses Effekts der Verfremdung von Figuren und Vorgängen ist dabei die Aufhebung jeder Selbstverständlichkeit. Das Vertraute soll neu, fremd und fragwürdig erscheinen. Die dadurch verhinderte Einfühlung in die Figuren soll den Zuschauer aus seiner passiven Haltung lösen und zu gesellschaftspolitischer Bewusstheit und Aktionsbereitschaft führen.
Als Mittel zur Verfremdung verwendet Brecht im Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“ (wie auch in den meisten anderen Dramen) unter anderem ein vorwiegend atektonisches Aufbauprinzip mit betonter Nebenordnung, eine Einleitung der einzelnen Szenen durch projizierte Titel, Umwertungen der Sprache und vor allem Songs. Da eine umfassende Darstellung aller aufgezählten Möglichkeiten sowohl den zeitlichen als auch den räumlichen Rahmen sprengen würden, soll eine Analyse in dieser Arbeit auf die Lieder beschränkt bleiben.
INHALTSVERZEICHNIS
I. EINLEITUNG: VERFREMDUNG ALS METHODE DER DARSTELLUNG
II. ANALYSE DER SONGS IM DRAMA „MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER“ VON BERTOLT BRECHT
1. Song der ersten Szene
2. Das Lied vom Weib und dem Soldaten
3. Das Lied vom Fraternisieren
4. Das Horenlied
5. Das Lied von der großen Kapitulation
6. Das Lied eines Soldaten vor der Schenke
7. Die Songs der Courage in der siebenten und achten Szene
8. Der „Salomon-Song“
9. Das „Lied von der Bleibe“
10. Das „Wiegenlied“ in der zwölften Szene
11. Der Schlussgesang in der zwölften Szene
III. ZUSAMMENFASSUNG: DIE FUNKTIONEN DER SONGS
IV. LITERATURVERZEICHNIS
I. EINLEITUNG: VERFREMDUNG ALS METHODE DER DARSTELLUNG
Auf den folgenden Seiten soll der Song als ein Mittel zur Verfremdung betrachtet werden, denn „Verfremdung ist in der Tat die Grundstruktur von Bertolt Brechts Dichtung.“[1] Diese Erkenntnis von Reinhold Grimm wird auch dadurch bekräftigt, dass das von Brecht entworfene und verwendete Epische Theater als Theater der Verfremdung definiert ist. Helmut Jendreiek betrachtet das marxistische Programm der klassenkämpferischen Weltveränderung als gedankliches Fundament des Epischen Theaters, wobei Brecht seiner Ansicht nach durch die Technik der Verfremdung den Nachweis erbringt, dass Veränderung notwendig und möglich ist.[2] Ziel dieses Effekts der Verfremdung von Figuren und Vorgängen ist dabei die Aufhebung jeder Selbstverständlichkeit. Das Vertraute soll neu, fremd und fragwürdig erscheinen. Die dadurch verhinderte Einfühlung in die Figuren soll den Zuschauer aus seiner passiven Haltung lösen und zu gesellschaftspolitischer Bewusstheit und Aktionsbereitschaft führen.
Als Mittel zur Verfremdung verwendet Brecht im Stück „Mutter Courage und ihre Kinder“[3] (wie auch in den meisten anderen Dramen) unter anderem ein vorwiegend atektonisches Aufbauprinzip mit betonter Nebenordnung, eine Einleitung der einzelnen Szenen durch projizierte Titel, Umwertungen der Sprache und vor allem Songs. Da eine umfassende Darstellung aller aufgezählten Möglichkeiten sowohl den zeitlichen als auch den räumlichen Rahmen sprengen würden, soll eine Analyse in dieser Arbeit auf die Lieder[4] beschränkt bleiben.
II. ANALYSE DER SONGS IM DRAMA „MUTTER COURAGE UND IHRE KINDER“ VON BERTOLT BRECHT
In den zwölf Szenen der „Chronik des Dreißigjährigen Krieges“ finden sich insgesamt zwölf Songs, wobei in der fünften und elften Szene keine vorkommen, im dritten und zwölften Bild jeweils zwei enthalten sind und in den übrigen Szenen jeweils ein Lied eingebaut ist. Formal betrachtet unterscheiden sie sich vom übrigen Text durch Vers, Reim und Vertonung.
Brecht betont, dass die Songs eigenständige lyrische Einlagen darstellen und verlangt daher bei deren Vortrag den deutlichen Wechsel zu einer anderen ästhetischen Ebene.[5] Wie wir bei der anschließenden Betrachtung jedes einzelnen Songs sehen werden, bleiben die Lieder jedoch - trotz des geforderten Einlagen-Charakters - in die dramatische Handlung eingebunden.
1. Song der ersten Szene
Das zweistrophige Lied „Ihr Hauptleut, laßt die Trommel ruhen...“[6], hat für die Mutter Courage die Bedeutung eines Auftrittsliedes, das - so Jendreiek - ihren Gestus[7] näher bestimmen soll.[8] Zugleich stellt der Song eine nähere Definition der Selbstbezeichnung „Geschäftsleut“ dar, er ergibt sich also aus dem Verlauf der Handlung und steht mit ihm in enger Verbindung. Die poetische Ebene wird zu einer Verlängerung der dramatischen und enthält wichtige Voraussetzungen für die weiteren Handlungen der Courage, die den Inhalt des Liedes belegen (Bejahung des Krieges) und ergänzen (Bestreben nach Schutz der eigenen Kinder vor dem Krieg).[9]
Die Courage glaubt, am Krieg nur gewinnen zu können, ohne dafür zahlen zu müssen, doch diese merkantile Interpretation des Krieges im Song wird dramatisch widerlegt, indem die Courage durch die Werbung Eilifs ihren ersten Tribut zollt (was sie aber nicht begreift). So soll dem Zuschauer durch den Kontrast von Song und dramatischer Handlung bewusst gemacht werden, was Krieg wirklich bedeutet. Im Refrain weist die Courage selbst auf eine realistische Einschätzung des Krieges hin, indem sie die Menschheit in Lebende (noch nicht Gestorbene) und Tote einteilt:[10]
Das Frühjahr kommt. Wach auf, du Christ!
Der Schnee schmilzt weg. Die Toten ruhn.
Und was noch nicht gestorben ist
Das macht sich auf die Socken nun.[11]
2. Das Lied vom Weib und dem Soldaten
Eilif, der als Held gefeiert wird, bekennt sich in diesem Song der zweiten Szene zu einem todesmutigen Heldentum. Seine Mutter, die den zweiten Teil des Liedes übernimmt, setzt ihm ihre Kenntnis der kriegerischen Wirklichkeit entgegen und greift in das zukünftige Geschehen voraus, denn die Ankündigung des Soldatentodes nimmt Eilifs Ende vorweg. Die direkte Fortsetzung dieser Kontrastierung ergibt sich in der dramatischen Begegnung der beiden, denn Eilif erhält in Erwartung eines Lobes nur eine Ohrfeige, die ganz dem Sinn des Liedteils der Courage entspricht.[12] Gleichzeitig wird der Song zur Auflösung dieser Peripetie (das Wiedererkennen von Mutter und Sohn) benutzt. Zusätzlich übernimmt er zum Teil die Aufgaben des Chors und drückt direkt ein moralisches Urteil aus, indem am Ende der Krieg verurteilt wird:[13]
Er verging wie der Rauch, und die Wärme ging auch
Und es wärmten sie nicht seine Taten.[14]
3. Das Lied vom Fraternisieren
Dieser Song folgt dem Dialog der dritten Szene über Yvettes Erfahrungen mit der Liebe und führt dieses Thema lyrisch weiter. Den Zusammenhang von Song und Handlungsverlauf erkennt man auch daran, dass der Koch „Pfeifenpieter“, der Yvettes Geliebter war und sie verlassen hat, vor dem Lied und in der zweiten Strophe des Liedes genannt wird und nach dessen Ende mit dem Feldprediger auftritt. Für Jendreiek besteht die Aufgabe des Liedes darin, den Gestus von Yvette und der Mutter Courage zu ermitteln.[15] Letztere befürwortet zwar die merkantile Einstellung der Hure, will zugleich aber ihre eigene Tochter vor demselben Schicksal, dem „Fraternisieren“, bewahren. Wirth erwähnt auch die moralisierende Funktion des Liedes, die sich in den an Kattrin gerichteten Worten ausdrückt. So meint Yvette vor dem Lied: „Grad soll sies hören, damit sie abgehärtet wird gegen die Liebe“[16], und die Courage mahnt nach dem Lied: „Laß dirs also zur Lehre dienen, Kattrin. Nie fang mir was mit Soldatenvolk an.“[17] Neben dem Thema der verratenen Liebe betrachtet Wirth diese Funktion jedoch als sekundär. Zusätzlich bezeichnet er diese Verse als Ausdruck des inneren Zustands. Sie spielen jenseits der dramatischen Zeit und sind Kommentar zu den Erlebnissen Yvettes in der Vergangenheit und Gegenwart.[18]
[...]
[1] Reinhold Grimm: Bertolt Brecht. Die Struktur seines Werkes. - Nürnberg4 1965, S. 76. Zitiert nach Alfred Reisinger: Bertolt Brechts „Mutter Courage und ihre Kinder“. Ein Beitrag zur Erkenntnis der ästhetischen Struktur des literarischen Kunstwerks. - Wien, Phil. Diss. 1973, S. 63.
[2] Vgl. Helmut Jendreiek: Bertolt Brecht. Drama der Veränderung. - Düsseldorf: Bagel 1969, S. 31-47.
[3] Die Stücke von Bertolt Brecht in einem Band. - Frankfurt/Main: Suhrkamp 1978.
[4] Die Begriffe „Song“ und „Lied“ werden - entsprechend der verwendeten Literatur - synonym benutzt.
[5] Vgl. Reinhold Zimmer: Dramatischer Dialog und außersprachlicher Kontext. - Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1982 (= Palaestra 274), S. 191.
[6] Stücke von Bertolt Brecht, S. 543.
[7] Unter dem Begriff „Gestus“ muss hier die gesellschaftshistorisch bedingte „Gesamthaltung“ der Figur im Epischen Theater verstanden werden und nicht das Gestikulieren, wie Brecht ausdrücklich betont. Vgl. Jendreiek 1969, S. 62.
[8] Vgl. Jendreiek 1969, S. 200.
[9] Vgl. Andrzej Wirth: Über die stereometrische Struktur der Brechtschen Stücke. - In: Sinn und Form. Beiträge zur Literatur 9 (1957), S. 365f.
[10] Vgl. Jendreiek 1969, S. 200.
[11] Stücke von Bertolt Brecht, S. 543.
[12] Vgl. Jendreiek 1969, S. 201.
[13] Vgl. Wirth 1957, S. 366.
[14] Stücke von Bertolt Brecht, S. 550.
[15] Vgl. Jendreiek 1969, S. 201.
[16] Stücke von Bertolt Brecht, S. 551.
[17] Stücke von Bertolt Brecht, S. 552.
[18] Vgl. Wirth 1957, S. 367.
- Quote paper
- Marion Luger (Author), 1998, 'Mutter Courage und ihre Kinder'. Die Analyse des Songs als Mittel zur Verfremdung, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134849
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