Mit der Publikation von „Leutnant Gustl“ hat Arthur Schnitzler in Militärkreisen heftige Reaktionen hervorgerufen: „Der beschuldigte Oberarzt etc. hat die Standesehre dadurch verletzt, daß er als dem Offizierstande angehörig eine Novelle verfasste und in einem Weltblatte veröffentlichte, durch deren Inhalt die Ehre und das Ansehen der österr. ung. Armee geschädigt und herabgesetzt wurde.“ (Wien, am 26. April 1901)
Angesichts dieser schwerwiegenden Vorwürfe, die den Begriff „Ehre“ ausdrücklich betonen, liegt es nahe zu fragen, wodurch nun eigentlich dieses Ärgernis ausgelöst wurde.
Um dieser Frage nachzugehen, wird in Kapitel II zunächst versucht, die Auffassung und Handhabung von „Ehre“ durch den Protagonisten der Erzählung nachzuzeichnen. Daraufhin untersucht Kapitel III, ob sich der Leutnant als würdiger Vertreter der „Standesehre“ erweist, um die Relation zwischen Ideal und Realität einschätzen zu können. Abschließend erläutert Kapitel IV einige Methoden und mögliche Intentionen des Autors in Bezug auf zeitgenössische, reale Parallelen zum Image des Leutnant Gustl.
Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung
II. Leutnant Gustls Ehrverständnis
III. Ein ehr-würdiges Verhalten?
IV. Eine Kritik an falschem Ehrverständnis
V. Zusammenfassung
VI. Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur
2. Sekundärliteratur
I. Einleitung
Mit der Publikation von „Leutnant Gustl“ hat Arthur Schnitzler in Militärkreisen heftige Reaktionen hervorgerufen:
Der beschuldigte Oberarzt etc. hat die Standesehre dadurch verletzt, daß er als dem Offizierstande angehörig eine Novelle verfasste und in einem Weltblatte veröffentlichte, durch deren Inhalt die Ehre und das Ansehen der österr. ung. Armee geschädigt und herabgesetzt wurde.[1]
Angesichts dieser schwerwiegenden Vorwürfe, die den Begriff „Ehre“ ausdrücklich betonen, liegt es nahe zu fragen, wodurch nun eigentlich dieses Ärgernis ausgelöst wurde.
Um dieser Frage nachzugehen, wird in Kapitel II zunächst versucht, die Auffassung und Handhabung von „Ehre“ durch den Protagonisten der Erzählung nachzuzeichnen. Daraufhin untersucht Kapitel III, ob sich der Leutnant als würdiger Vertreter der „Standesehre“ erweist, um die Relation zwischen Ideal und Realität einschätzen zu können. Abschließend erläutert Kapitel IV einige Methoden und mögliche Intentionen des Autors in Bezug auf zeitgenössische, reale Parallelen zum Image des Leutnant Gustl.
II. Leutnant Gustls Ehrverständnis
Für eine Untersuchung des Ehr-Begriffs bietet der Monolog des Leutnants vor allem zwei wesentliche Anhaltspunkte, die parallel verlaufen: Aus Gustls Überlegungen während des Konzerts entnehmen wir zunächst, dass ihn am folgenden Nachmittag ein Duell mit einem Doktor erwartet. In Bezug auf seine militärische Stellung scheint diese Reaktion die einzig angemessene, aber auch einzig mögliche zu sein: „[I]ch hab’ mich famos benommen; der Oberst sagt auch, es war absolut korrekt.“[2] Die zweite Herausforderung seines Ehrgefühls begegnet ihm im Anschluss an das Oratorium in der Gestalt eines ihm bekannten Bäckers, dessen Beleidigung ihm allerdings nicht die Möglichkeit einer Revanche bietet[3] und folglich Gustls Ehr- und Sinnverlust mit sich bringt: „Ehre verloren, alles verloren!“[4]
Da der Protagonist allerdings sowohl einen Repräsentanten der österreich-ungarischen Armee als auch eine Privatperson verkörpert (wie sich bereits dem Titel des Werks entnehmen lässt[5] ), erscheint es sinnvoll, diese beiden Aspekte entsprechend zu berücksichtigen. Betrachtet man – wie Gustl – sein Verhalten nämlich vom militärischen Standpunkt aus, also als logische Konsequenz dieser beiden Affronte, so wirken seine Handlungen (bzw. Gedanken) nicht allzu unplausibel. Zieht man allerdings die mit den Auseinandersetzungen verbundenen persönlichen Konnotationen in Erwägung, so werden Gustls Verfehlungen offensichtlich. Zum einen scheint es ihm aufgrund seines Ranges legitim, Respekt zu heischen, andererseits aber verhält er sich nicht dem Ideal entsprechend, das er verkörpern sollte: „Gustl, as a soldier and officer in the Austrian army, is required to be a model of honor and decorum“[6], doch in der Konfrontation mit dem Bäcker benimmt er sich äußerst unhöflich („Sie, halten Sie das Maul!“[7] ), und die vom Doktor angebotene Einladung zur Diskussion[8] schlägt er rundweg aus.[9] Darüber hinaus zielen die von Gustls Gegenspielern gemachten Äußerungen gerade nicht darauf ab, ihn in seiner Eigenschaft als Offizier zu beleidigen, sondern richten sich an ihn als Privatperson – mit dem Ausdruck „Sie dummer Bub“[10] verweist der Bäcker nicht nur auf Gustls Fehlverhalten als Armeeangehöriger, sondern auch auf ihr persönliches Verhältnis zueinander[11], und der Doktor scheint mit seiner Bemerkung Gustls Intellekt herausfordern zu wollen. Folgerichtig fühlt sich der Angesprochene auch in seiner persönlichen Ehre gekränkt, denn indem sein Mangel an Intelligenz verbalisiert wird, sieht er sich unvermutet mit der Wahrheit konfrontiert.
Um mit dieser Kränkung umgehen zu können, muss Gustl ihr jedoch den Anschein einer Beleidigung seiner Person als Offizier verleihen – und seine Reaktion bringt er auch in dieser Funktion zum Ausdruck. Zwar nennt er in der Erinnerung an das Gespräch mit dem Doktor sein Manko selbst beim Namen: „Er hätt’ nur noch sagen müssen, daß sie mich aus dem Gymnasium hinausg’schmissen haben, und daß ich deswegen in die Kadettenschul’ gesteckt worden bin“[12], doch zu einem Eingeständnis seiner geistigen Unzulänglichkeit ist er nicht bereit.[13] Vielmehr projiziert er Letztere auf die die Wahrheit Aussprechenden („Die Leut’ können eben unserein’n nicht versteh’n, sie sind zu dumm dazu“[14] ) und reagiert mit übertriebener Aggressivität („[s]chon die Art, wie er ,Herr Leutnant’ gesagt hat, war unverschämt!“[15] ). Nebenbei zeigt diese „Überreaktion [...], daß die Bemerkung ihn ‚an den Wurzeln seiner Identität’ getroffen hat, weil sie den Rückhalt in Frage stellt, den diese Identität allein in der Militärkaste fand.“[16] Genauer gesagt hinterfragt sie jedoch jenes Wertesystem, das Gustl für sich selbst errichtet hat, um sich nicht mit unangenehmen Fragen auseinandersetzen zu müssen; und indem er auf übersteigerte Art reagiert, bekennt er zugleich (wenn auch unbewusst) die Gültigkeit der konstatierten Mängel.
In Anbetracht dieser Erkenntnisse kann Gustls Auffassung von „Ehrverlust“ und den damit verbundenen Konsequenzen als ein Instrument gesehen werden, das von seiner geistigen Inferiorität ablenkt – andererseits ist er aufgrund dieser Unterlegenheit kaum zu einem anderen Mittel als Gewalt (gegen andere bzw. sich selbst) fähig. Da Gustl „is unable to decide between alternative courses of action“[17], kann er den Doktor nur mit realen Waffen – dem Ausdruck seines Ehr geizes -, jedoch nicht mit Argumenten bekämpfen: „Was sich dem Verstand entzieht, soll durch eine dürftige Maxime bewältigt werden.“[18]
[...]
[1] Wien, am 26. April 1901. In J. P. Stern: ‘Introduction. Leutnant Gustl’, in Arthur Schnitzler: Liebelei. Leutnant Gustl. Die letzten Masken, hg. v. J. P. Stern (Cambridge: University Press 1966), S. 28f.
[2] Arthur Schnitzler: Liebelei. Leutnant Gustl. Die letzten Masken, hg. v. J. P. Stern (Cambridge: University Press 1966), S. 113.
[3] Die Gründe für diese Unmöglichkeit werden im Folgenden erläutert.
[4] Schnitzler Gustl, S. 124.
[5] Dieser Eindruck bestätigt sich m. E. durch den Antagonismus zwischen der höflich-formellen Bezeichnung eines militärischen Ranges und dem umgangssprachlich-legeren Kosenamen.
[6] Helga Stipa Madland: ‘Baroja’s Camino de perfección and Schnitzler’s Leutnant Gustl: Fin de Siècle Madrid and Vienna’, in Comparative Literature Studies, 21 (1984), S. 315.
[7] Schnitzler Gustl, S. 116.
[8] Die Wendung „Sie werden mir doch zugeben“ bezeichnet m. E. die Bereitschaft zur argumentativen Auseinandersetzung. Schnitzler Gustl, S. 114. Vgl. auch Dirk Dethlefsen: ‚Überlebenswille: Zu Schnitzlers Monolognovelle Leutnant Gustl in ihrem literarischen Umkreis’, in Seminar, 17 (1981), S. 63.
[9] Dass Gustl sich nicht dem Stand eines Offiziers gebührend verhält, verrät sich laut Stern auch an seiner Sprache, die „’volkstümlich[e]’ expressions“ beinhaltet. Stern Introduction, S. 36. Gegen diese Ansicht ließe sich allerdings einwenden, dass Gustl (vermutlich) keinem gehobenem Milieu entstammt.
[10] Schnitzler Gustl, S. 117.
[11] Diese beiden Faktoren sind es auch, die mich an der Gültigkeit der Auffassung Morris’ zweifeln lassen, der es „nicht als repräsentativ für das Wien der Jahrhundertwende“ ansieht, „[d]aß ein Bäckermeister auf diese Art einen Offizier der k.u.k Armee konfrontiert“. Craig Morris: ‘Der vollständige innere Monolog: eine erzählerlose Erzählung? Eine Untersuchung am Beispiel von Leutnant Gustl und Fräulein Else’, in Modern Austrian Literature, 31 (1998), S. 36.
[12] Schnitzler Gustl, S. 114.
[13] Wie Dethlefsen anmerkt, setzte „die militärische Laufbahn, die durch die Kadettenschule führte, [...] keine sonderlichen Geistesgaben voraus.“ Dethlefsen Monolognovelle, S. 55.
[14] Schnitzler Gustl, S. 114.
[15] Ibid., S. 113.
[16] Dethlefsen Monolognovelle, S. 62.
[17] Thomas Freeman: ‘Leutnant Gustl: A Case of Male Hysteria?’, in Modern Austrian Literature, 25 (1992), S. 46.
[18] Dethlefsen Monolognovelle, S. 68f.
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- Marion Luger (Author), 2000, Leutnant Gustl - Eine Frage der Ehre?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/134816
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