Das Thema dieser Arbeit ist die Untersuchung des literaturwissenschaftlichen Phänomens "Intertextualität" am Beispiel des Romans "Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm" von Felicitas Hoppe. Im ersten Teil der Arbeit werden Konzepte, Theorien, Formen, Funktionen, Rezeption und Geschichte der Intertextualität vorgestellt und zusammengefasst. Anschließend wird der Roman der Autorin vorgestellt und ausgewählte Analysekategorien der Intertextualität am Roman von Hoppe untersucht. Die Ergebnisse und Ausblicke der Arbeit werden in einem Fazit zusammengefasst.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich zum einen mit dem theoretischen Konzept von Intertextualität und zum anderen mit ihrer praktischen Anwendbarkeit in einem konkreten literarischen Text. Als solcher ist der Roman „Die Nibelungen – Ein deutscher Stummfilm“ von Felicitas Hoppe ausgewählt worden. Der 2021 veröffentlichte Text ist die Neuerzählung des Nibelungenliedes, das uns aus dem 13. Jahrhundert schriftlich überliefert ist.
Als einer der zentralen Texte, mit denen sich die Germanistik auseinandersetzt, ist die intertextuelle Beschäftigung mit Hoppes Roman für den Fachbereich der Neueren deutschen Literatur ein relevanter Aspekt, da auf diesem Wege ein Stück Gegenwartsliteratur nicht nur textanalytisch, sondern auch in Bezug auf ihren literaturhistorischen Kontext untersucht werden kann. Diese Arbeit möchte Erkenntnisse über die Theorie, den Einsatz und die Rezeptionsmöglichkeiten von Intertextualität an dem konkreten Beispiel von Felicitas Hoppes Roman sammeln.
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung
1.1 Vorstellung des Themas und Relevanz der Arbeit
1.2 Methode und Aufbau der Arbeit
1.3 Anmerkungen
2 Intertextuelle Theorie
2.1 Konzepte der Intertextualität
2.1.1 Michail Bachtin und das Konzept der Dialogizität
2.1.2 Julia Kristeva und das Universum der Texte
2.1.3 Gérard Genette und die Transtextualitätstheorie
2.1.4 Broich/Pfister und die Systematisierung des Intertextualitätsbegriffes
2.1.5 Susanne Holthuis und die Interaktion zwischen Text und Leser
2.1.6 Peter Stocker und der Einzeltext- und Textklassenbezug
2.1.7 Hardarik Blühdorn und die Sprache der Intertextualität
2.2 Intertextuelle Formen und Markierungen
2.2.1 Einzeltext- und Systemtextreferenz nach Broich und Pfister
2.2.2 Intertextuelle Typologie nach Gérard Genette
2.2.3 Referenz ,in praesentia‘ und Referenz ,in absentia‘ bei Susanne Holthuis
2.2.4 Progressionsskala intertextueller Markierungen nach Jörg Helbig
2.3 Interfiguralität
2.4 Funktionen der Intertextualität
2.4.1 Entwicklung und Probleme des Funktionsbegriffes
2.4.2 Intertextualität als kommunikatives Phänomen
2.4.3 Funktionsrichtungen von Intertextualität
2.5 Textverarbeitung und intertextueller Leseprozess
2.6 Intertextualität und Intermedialität
2.7 Zwischenfazit
3 Der Roman von Felicitas Hoppe
4 Untersuchungsergebnisse zur Intertextualität im Roman .
4.1 Das Gesamtwerk der Autorin als intertextueller Rahmen
4.2 Die Paratexte - Begleitende Intertextualität
4.2.1 Der Buchtitel
4.2.2 Das Coverbild
4.2.3 Die Zueignung
4.2.4 Die Motti
4.2.5 Das Inhaltsverzeichnis und der Abspann
4.2.6 Die Kapitelüberschriften
4.3 Interfiguralität im Roman von Felicitas Hoppe
4.3.1 Siegfried, RvP und der böse Onkel Hagen
4.3.2 Der Zeuge im Beiboot
4.3.3 Die Rollen und Geister der Nibelungen
4.3.4 Das dreifache G
4.3.5 Figuren und Rollen
4.3.6 Die interfigurale Personifikation
4.4 Intertextueller Rezeptionsanspruch des Romans
5 Fazit
6 Anhang
6.1 Coverbild des Romans von Felicitas Hoppe
6.2 Merian Kupferstich
6.3 Alternative Coverbilder des Romans
7 Literaturverzeichnis
7.1 Primärliteratur
7.2 Sekundärliteratur
7.3 Literatur- und Filmbeispiele
7.4 Anhangsverzeichnis
1 Einführung
1.1 Vorstellung des Themas und Relevanz der Arbeit
„Kein literarischer Text entsteht aus dem Nichts.“1
Dieses Prinzip ist dem Menschen seit der Antike bekannt. Anhand der überlieferten Lehren des Horaz wissen wir heute, dass bereits damals für literarische Texte galt, dass sie einen „eruierbaren Stellenwert in einer literarischen Reihe“2 besitzen, da sie mit dem Prinzip der imitatio veterum direkt oder indirekt aufeinander Bezug nehmen. Seitdem hat jede literarische Epoche ihren eigenen Umgang mit den möglichen Beziehungen von Texten unter- und zueinander.
Der „Eneasroman“3 von Heinrich von Veldeke aus dem 12. Jahrhundert ist beispielsweise in Anlehnung an den antiken Sagenstoff um die fiktive Figur Aeneis entstanden. Im 18. Jahrhundert, während der Sturm und Drang Epoche in der Literatur, bezogen sich Schriftsteller auf Autoren ihrer eigenen Gegenwart oder bevorzugten Künstler wie Shakespeare, dessen Stil dem der antiken Autoren aus ihrer Sicht vorzuziehen war. Verfasser von Texten, die sich diesem Trend nicht anschlossen, wurden als ,Nachahmer‘ oder „Dubletten4 bezeichnet.4 Weiterhin sind es heute, im digitalen Zeitalter des 21. Jahrhunderts, unter anderem Hobby-Schreiber, die in Form von Fanfiktion auf Online-Portalen wie Fanfiktion.de5 Texte verfassen, die sich ganz offen mit vorangegangenen Werken auseinandersetzen und sie in textlicher, bildlicher oder sogar akustische Form transportieren. Ob in wohlwollender Anerkennung oder in kritischer Auseinandersetzung voriger Literatur gegenüber, setzt sich jede Person, die Literatur produziert oder konsumiert, mehr oder weniger bewusst mit dem Prinzip der Text-Text-Beziehungen auseinander.
In der Literaturwissenschaft ist es nachweislich erst im 20 Jahrhundert zu einer konkreten Benennung und einem Diskurs dieses Phänomens unter dem Begriff Intertextualität gekommen.
Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich zum einen mit dem theoretischen Konzept von Intertextualität und zum anderen mit ihrer praktischen Anwendbarkeit in einem konkreten literarischen Text. Als solcher ist der Roman „Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm“6 von Felicitas Hoppe ausgewählt worden.7 Der 2021 veröffentlichte Text ist die Neuerzählung des Nibelungenliedes, das uns aus dem 13. Jahrhundert schriftlich überliefert ist. Als einer der zentralen Texte, mit denen sich die Germanistik im Fachbereich der Älteren deutschen Literatur auseinandersetzt, ist die intertextuelle Beschäftigung mit Hoppes Roman für den Fachbereich der Neueren deutschen Literatur eine relevante Beschäftigung, da auf diesem Wege ein Stück Gegenwartsliteratur nicht nur textanalytisch, sondern auch in Bezug auf ihren literaturhistorischen Kontext hin untersucht werden kann. Es ist das Anliegen dieser Arbeit, diesbezüglich Erkenntnisse über die Theorie, den Einsatz und die Rezeptionsmöglichkeiten von Intertextualität an dem konkreten Beispiel von Felicitas Hoppes „Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm“ zu sammeln.
1.2 Methode und Aufbau der Arbeit
Da Intertextualität das Untersuchungskriterium dieser Arbeit ist und einen spezifischen Bereich der Literaturwissenschaft betrifft, welcher den meisten Laien vollkommen neu und den meisten Germanisten wahrscheinlich nur in Ansätzen bekannt ist, widmet sich der erste Teil der Arbeit einer Einführung in die Theorie der Intertextualität.
Als Erstes soll eine Auswahl der wichtigsten, und für diese Arbeit relevanten Konzepte von Intertextualität vorgestellt werden, mit einer anschließenden Hinleitung zur Begriffsbildung über die Vorarbeit Michail Bachtins, der mit seinem Modell der Dialogizität von Romanen den Grundstein der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den intertextu- ellen Beziehungen zwischen literarischen Werken gelegt hat. Der Fokus bei der Auswahl der Konzepte zur Intertextualität soll zum einen auf der Entwicklung des Begriffes liegen und zum anderen die Vielseitigkeit der Forschungsansätze verdeutlichen. Es wird sich zeigen, dass nicht nur rein literaturwissenschaftliche Ansätze entscheidend zur Evolution und dem Verstehen dieses Phänomens beigetragen haben, sondern auch Methoden und Ideen aus der Sprachwissenschaft, der Kommunikationswissenschaft und der kognitiven Psychologie.
Nachdem die Konzepte in ihren Grundzügen vorgestellt worden sind, werden Formen und Arten der Markierung von Intertextualität präsentiert und hinsichtlich ihrer Anwendung und ihrem funktionalem Zweck eingeordnet. Von besonderer Bedeutung in diesem Unterkapitel ist es, dass Intertextualität ein auf den Leser eines Textes ausgerichtetes Phänomen ist, welches von ihm im Idealfall nicht nur erkannt, sondern auch verstanden werden soll. Aus welchem Grund Intertextualität überhaupt eingesetzt wird, ist anschließend Thema des Unterkapitels über Funktionen von intertextuellen Referenzen. Es wird sich zeigen, dass - abhängig von der Herangehensweise an einen literarischen Text - die Voraussetzungen von Identifizierung und Interpretation intertextueller Referenzen unterschiedlich ausfallen können. An diese Argumentation wird schließlich die Textverarbeitung und der intertextuelle Leseprozess des Rezipienten anschließen. Entscheidend ist es in diesem Zusammenhang hervorzuheben, dass Intertextualität zwar ein gezielt einsetzbares Instrument von Seiten des Verfassers sein kann, es aber von Faktoren wie beispielsweise dem literarischen Vorwissen des Lesers abhängig ist, ob sie auch als solche erkannt wird.
Zwei Schwerpunkte sind hinsichtlich der Analyse von Felicitas Hoppes Roman gesetzt worden, die einerseits die übrige Theorie vertiefen, andererseits ergänzen sollen.
So wird im Zusammenhang mit Formen von Intertextualität in Kapitel 2.3 auf die Inter- figuralität eingegangen.
„Wenn literarische Geschichten gemäß der Bestimmung des Aristoteles menschliche Handlungen darstellen, dann sind die Träger dieser Handlungen zweifellos ein zentrales Element von Erzählungen, genauer gesagt: ein Grundbegriff der erzählten Welt.“8
Entsprechend ist es hinsichtlich der intertextuellen Möglichkeiten, derer ein Text sich bedienen kann, interessant, ob und wie eine Neuerzählung sich der Figuren aus dem oder den Originalwerken annimmt. Abhängig vom Einsatz interfiguraler Referenzen kann sich ein Text gegenüber seinem Prätext positionieren und entweder eigene Schwerpunkte setzen oder die Inhalte des Vorgängers bestätigen. Die Formen und Funktionen von Interfi- guralität sollen in Kapitel 2.3 anhand der Forschung von Wolfgang Müller erklärt werden. Abschließend unternimmt die Arbeit noch einen Abstecher in den mit der Intertextualität verwandten Forschungsbereich der Intermedialität. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Variationsmöglichkeiten dieses Phänomens über die Mediums-Grenze hinaus reichen, denn häufig verwenden Texte nicht nur andere Texte als Bezugswerke, sondern finden Inspiration und Vorbilder in anderen Kunstformen, wie dem Film, der Musik oder der bildlichen Kunst. Dies ist auch der Fall in Felicitas Hoppes Neuerzählung des Nibelungenliedes. Sowohl in Textgestalt wie auch auf der innertextlichen Handlungsebene werden intertextuelle Verweise verschiedener Art verwendet.
Im Fokus des dritten Kapitels steht die Präsentation des zu Anfang genannten Untersuchungsgegenstandes, dem Roman „Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm“ und seiner Urheberin Felicitas Hoppe.
Mit dem umfassend vermittelten Verständnis zur Theorie von Intertextualität und dem zu untersuchenden Roman, werden in Kapitel 4 die Untersuchungsergebnisse der Textanalyse vorgestellt. Dafür sind vier Untersuchungskategorien festgelegt worden, die alle einen unterschiedlichen Zugriff auf Intertextualität in einem literarischen Text symbolisieren.
Zuerst wird der Roman als Teil des Gesamtwerkes seiner Urheberin intertextuell eingeordnet und untersucht, inwiefern sich intertextuelle Bezüge innerhalb des Hoppe-Kanons feststellen lassen und mit welcher intertextuellen Intention Leser „Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm“ für ihre Lektüre auswählen würden.
Als nächstes werden die Paratexte, die im Theoriekapitel bereits ausführlich, erläutert worden sind, hinsichtlich ihres intertextuellen Gehaltes untersucht. Es wird sich zeigen, dass die für dieses Buch spezifischen Paratexte9 wie beispielsweise Buchtitel, Motti, Inhaltsverzeichnis oder Kapitelüberschriften den Roman auf intertextuelle Weise referentiell und typologisch unterstützen.
Das dritte Unterkapitel widmet sich dem Einsatz von Interfiguralität in Hoppes Roman. Es wird aufzeigen, dass die Autorin jede von Wolfgang Müller etablierte Form von Inter- figuralität genutzt hat und darüber hinaus mit der intertextuellen Personifikation eine neue Form geschaffen hat, die in dieser Arbeit vorgestellt werden soll. Inwieweit die veränderten Figuren ein Statement gegenüber den Prätexten des Romans setzen, wird ebenfalls besprochen.
Abschließend soll ein Blick auf die Rezeptionsmöglichkeiten von „Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm“ geworfen werden. Wie in Kapitel 2.4 und 2.5 verdeutlicht werden konnte, ist der Leseprozess bezüglich intertextuellen Referenzen einer Reihe von möglichen Störfaktoren ausgesetzt. Dieses Unterkapitel soll, basierend auf den in den vorigen Analysepunkten erarbeiteten Erkenntnissen über Hoppes Einsatz von Intertextualität, abschließend klären, wer diesen Roman nicht nur lesen, sondern ihn auch verstehen kann. Ein Fazit über die Ergebnisse der Textanalyse beschließt die Arbeit.
1.3 Anmerkungen
In der Arbeit werden, mit Ausnahme in Bezug auf konkrete Personen und Figuren, welche anderen Geschlechts sind, alle Bezeichnungen im generischen Maskulinum geschrieben. Das gleiche gilt für die Pronomen und den Plural. Dies geschieht im Sinne der Lesbarkeit und aus Gewohnheit der Verfasserin dieser Arbeit.
Weiterhin gilt die Empfehlung, sich vor der Lektüre dieser Arbeit mit dem Roman „Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm“ von Felicitas Hoppe, im Vorwege vertraut zu machen. Diese Arbeit stellt keinen Ersatz der Lektüre dar. Sie wird ausgewählte Aspekte und Passagen unter der Voraussetzung der Kenntnis des Romans besprechen. Darüber hinaus ist es von Vorteil, wie die Arbeit in ihrem Verlauf deutlich machen wird, die beiden primären Bezugswerke des Romans zumindest im Ansatz zu kennen. Diese sind zum einen das Heldenepos „Das Nibelungenlied“10 in der Reclam Edition Mittelhoch- deutsch/Neuhochdeutsch nach der Handschrift B herausgegeben und übersetzt von Ursula Schulze und Siegfried Grosse sowie der Stummfilm „Die Nibelungen“11 von Fritz Lang aus dem Jahr 1924. Da die Arbeit im Fachbereich der Neueren deutschen Literaturtheorie verfasst worden ist, liegt der Schwerpunkt der Analyse auf dem 2021 veröffentlichten Text von Felicitas Hoppe. Eine Rekapitulation der beiden oben genannten Werke findet nur im Ansatz und an jeweils relevanten Stellen der Arbeit zweckgebunden statt. Eine vollständige und sehr übersichtliche Zusammenfassung des Nibelungenliedes findet der Leser hier, auf der Website https://lyrik.antikoerperchen.de/.12 Der Film von Fritz Lang ist in voller Länge auf verschiedenen Kanälen der Plattform YouTube kostenlos verfügbar.13
Die Auswahl der Sekundärliteratur begründet sich durch das textanalytische Anliegen des Nachweises von Intertextualität im Paratext, der Interfiguralität des Romans und dem Rezeptionsanspruch des Textes.
Abschließend gilt es anzumerken, dass Begriffe und Theorien der Erzähltheorie, soweit sie nicht in den Forschungsbereich der Intertextualität fallen, nicht erneut im Rahmen dieser Arbeit definiert werden. Auf eventuelle Debatten und Begriffsabweichungen wird im Verlauf zu gegebener Stelle in den Fußnoten hingewiesen werden.
2 Intertextuelle Theorie
Wie eingangs bereits erwähnt, ist das Ziel des ersten Teils dieser Arbeit, den Begriff der Intertextualität vorzustellen, um ihn anschließend im Roman „Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm“ von Felicitas Hoppe zu identifizieren, hinsichtlich seiner Funktionen im und um den Text einzuordnen und abschließend die Frage zu beantworten, ob der Roman nur zu verstehen ist, wenn man sich des gesamten intertextuellen Potentials bewusst ist. Seit der Wortschöpfung von Julia Kristeva 1969 hat sich der Begriff einer ständigen Wandlung und Entwicklung unterzogen. Größtes Anliegen der auf Kristeva folgenden Literaturwissenschaftler und ihrer Kollegen aus anderen Fachbereichen ist es gewesen, ihn anwendbar zu machen, da ein theoretisches Konzept zwar für sich allein bereits einiges an Aussagekraft besitzt, seine wahre Größe und Bedeutung aber erst in der praktischen Umsetzung an der Materie (literarischen Texten) selbst ersichtlich wird. Es wird sich zeigen, dass jedes hier vorgestellte Konzept auf die Arbeit seiner Vorgänger manchmal mehr, manchmal weniger zurückgreift und sich zwangsläufig inhaltliche Ähnlichkeiten unter verschiedenen Bezeichnungen herausbilden werden.
Das, wie der Leser dieser Arbeit sich bereits denken kann, eine Abbildung des gesamten Diskurses zu Intertextualität kaum im Rahmen dieser Untersuchung abgebildet werden kann, ist in Hinblick auf die später vorgenommene Analyse eine Auswahl von Vertretern, Konzepten und Ideen vorgenommen worden.
Im Zentrum steht die Arbeit des französischen Literaturwissenschaftlers Gérard Genette, dessen Werke „Palimpseste“14 und „Paratexte“15 einige der detailliertesten und umfassendsten Auseinandersetzungen mit der Intertextualität darstellen. Ergänzt wird sein Modell der Transtextualität, auf das in Kapitel 2.2.2 näher eingegangen wird vor allem durch die gemeinsame Leistung der Literaturwissenschaftler Ulrich Broich und Manfred Pfister, sowie Susanne Holthuis und Wolfgang Müller. Anhand ihrer Ergänzungen zu Genettes Arbeit zur Intertextualität sollen Formen und Funktionen von Intertextualität erläutert werden.
Bevor es aber um die verschiedenen Konzepte und Modelle von Intertextualität zur Anwendung in Textanalysen geht, soll ein Blick auf die Arbeit von Michael Bachtin geworfen werden, dessen Beobachtungen von Dialogizität im Roman den entscheidenden Anstoß für Julia Kristeva und ihre erstmalige Erarbeitung des Intertextualitätsbegriffes gegeben haben.
2.1 Konzepte der Intertextualität
Dieses Kapitel wird die Entwicklung des Intertextualitätsbegriffes und seine, über die Jahrzehnte andauernde, Konkretisierung durch eine Auswahl von Literatur- und Sprachwissenschaftlern präsentieren. Wie sich zeigen wird, hat der Begriff seit seiner Einführung durch Julia Kristeva einen starken Wandel erfahren und ist von einem uneingeschränkt ausdehnbaren Prinzip zu einem auf die konkrete Anwendung für Textanalysen verengten Begriff geworden.
2.1.1 Michail Bachtin und das Konzept der Dialogizität
Wenngleich er den Begriff Intertextualität nie selbst in Zusammenhang mit seiner Arbeit benutzt hat, ist Michael Bachtin in den 1920er Jahren mit der Entwicklung seines Konzepts der Dialogizität in Romanen der direkte Vorläufer der Intertextualitätstheorie.
Für Bachtin steht fest, dass jeder Schriftsteller auf zwei Ebenen zurückgreift, um seinen Text zu schreiben. Die der Realität, in der er lebt und die der vorangegangenen literarischen Texterzeugnisse.
„Außer der vom Wortkünstler vorgefundenen Wirklichkeit von Erkennen und Handeln wird von ihm auch die Literatur vorgefunden: es gilt, gegen oder für die alte literarische Formen zu kämpfen, sie sind zu benutzen und zu kombinieren, ihr Widerstand ist zu überwinden oder in ihnen ist Unterstützung zu suchen. Doch all dieser Bewegung und diesem Kampf im Rahmen des rein literarischen Kontextes liegt der wesentlichere, bestimmende primäre Kampf mit der Wirklichkeit von Erkennen und Handeln zugrunde.“16
Während seiner Arbeit zu Dostojewskij stößt er auf Textpassagen, welche sich außerhalb der restlichen Textgestalt verorten lassen. Er bemerkt: „Das Wort hat hier eine zweifache Ausrichtung, es ist sowohl auf den Gegenstand der Rede wie das gewöhnliche Wort, als auch auf ein anderes Wort, eine fremde Rede gerichtet.“17
Der Roman ist laut Bachtin demzufolge ein polyphones Gerüst an Textbausteinen, welches die „künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt“18 beinhaltet.
Bachtins Konzept der Dialogizität, welches er aufbauend auf diesen Bemerkungen und Annahmen erarbeitet, ist primär ausgelegt auf die in einem Roman vorkommenden verschiedenen Erzählweisen und Stimmen. Es kommt ihm primär auf die Vielstimmigkeit in einem Text an, die konkrete Zuordnung von spezifischen Textstellen zu bestimmten Prätexten ist für ihn sekundär. Da er sich in seinem Konzept der Dialogizität vorrangig mit der gegenseitigen Beeinflussung verschiedener Äußerungen und Stile beschäftigt hat, kann auch von intratextueller Intertextualität gesprochen werden.
Kritisch muss gesehen werden, dass Bachtin eine ausschließliche Betrachtung des Romans als dialogische Textsorte vorgenommen hat. Tatsächlich stellt er explizit fest, dass der Roman als polyphone Textsorte im Gegensatz zum Drama und der Lyrik steht, die er für ausschließlich monologisch hält.19
Das Ergebnis von Bachtins Forschung ist, dass die Vorstellung von der Einheit des Textes gesprengt wird und eine Dynamisierung der Literatur ins Rollen gebracht wird. Es ist von nun an unmöglich anzunehmen, dass ein Text nur auf eine einzige abgeschlossene Weise gelesen und verstanden werden kann.
„In jedem Fall prägt Bachtins Dialogizitätsmodell die Intertextualitätstheo- rien aber insofern entscheidend, als es die Unmöglichkeit postuliert, den Sinn eines Wortes, einer Äußerung oder eines Textes festzuschreiben, ohne dessen Kontexte mitzubedenken. Sinnkonstruktion lässt sich nicht auf einen Text begrenzen.“20
Von nun an muss nicht nur der Autor als ein Individuum gesehen werden welches durch sein Umfeld, seine Lebenserfahrungen, Schulen und Zugehörigkeiten zu literarischen Strömungen oder Gruppen geprägt ist, sondern auch der Text selbst als beinahe schon lebendige mehrdimensionale Entität, welche mit anderen Werken interagieren und von ihnen Bedeutung und Kontext beziehen kann.
2.1.2 Julia Kristeva und das Universum der Texte
Die bulgarisch-französische Literaturtheoretikerin Julia Kristeva ist 1969 die erste, die den Begriff der Intertextualität verwendet und basierend auf Bachtins Dialogizitätsmodell ein Konzept entwickelt, welches Intertextualität zu einem Textbegriff erhebt. Sie vertritt die Ansicht, dass Intertextualität nicht nur eine besonders häufig vorkommende Erscheinung in Teilen der Literatur ist, sondern dass es sich um eine generelle Eigenschaft aller Texte handelt.
„Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache lässt sich zumindest als doppelte lesen.“21
Diese Aussage ist im Vergleich zu Bachtins Ansicht, dass ausschließlich im Roman in- tratextuelle Stimmenvielfalt zu finden wäre, weitaus umfassender. Kristeva geht sogar so weit in ihrer Argumentation, dass „letztendlich alles, oder doch zumindest jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur“22 als Text und damit als Intertext bezeichnet werden könnte.
In diesem „Universum der Texte“23 existieren drei Dimensionen. Das Subjekt der Schreibweise (d. h. der Autor oder Verfasser), der Adressat und die anderen Texte, aus welchen sich ein konkreter Text zusammensetzen kann.
Der Autor tritt beinahe gänzlich in den Hintergrund und verbleibt nur in seiner Funktion als „Projektionsraum“24 für die Kombination der zu verwendenden intertextuellen Textauszüge. Damit folgt und bekräftigt Kristeva insbesondere die poststrukturalistische Theorie über den „Tod des Autors“, welche von Roland Barthes, einem ihrer Mentoren, postuliert worden ist.
„Während Bachtin jede Äußerung an ein sprechendes Subjekt zurück bindet (die Figur, den Erzähler, den Autor, den Leser) ersetzt Kristeva diese dialogische Intersubjektivität durch eine subjekt- und intentionsfreie Intertextuali- tät - durch die ,Aktivität des Textes4 in einem universalen Textraum.“25
Auch der Adressat des Textes als Betrachter des projizierten Textes ist nur von sekundärer Bedeutung als Gegenstück zum Autor. Er kann den Text lediglich aufnehmen und bei vorhandenem Wissen über Prätexte die Intertextualität erkennen und zuordnen.
Kritisch wird es, wenn es an die Interpretations- und Funktionsanalyse von Texten nach Kristevas Modell gehen soll. Zwar spielen für ihre Theorie von Intertextualität Gattungsgrenzen, anders als bei Bachtin, keine Rolle mehr, allerdings ist die Verallgemeinerung und Entgrenzung des Textbegriffes bei gleichzeitiger Destruktion von Subjekten wie Autor und Adressat nicht mehr praktikabel für eine Analyse an konkreten Texten. Einzig eine tabellarische Auflistung von intertextuellen Referenzen zu ihren exakten Stellen in Prätexten würde ansatzweise erfüllbar sein. Jedoch wäre sie immer insofern unvollständig und einzig der subjektiven Interpretation des Verfassers unterworfen, da Rezeptionsintention durch den Autor irrelevant und Funktionsweisen von Intertextualität einem ständigen „unabschließbare[n] Bedeutungsprozess“26 unterliegen würden.
Für eine Einzeltextanalyse, wie sie in dieser Arbeit durchgeführt werden soll, ist es notwendig, dass sich die Definition von Intertextualität verengt und Aspekte, wie die Autorenintention sowie Rezeptionswege und textuelle Verarbeitung durch Adressaten, miteinbezogen werden.
Mit dieser Vorgabe eröffnet sich eine Vielzahl von theoretischen Ansätzen und Konzepten, welche seit Kristeva entwickelt worden sind. Im Rahmen dieser Arbeit wird sich der Fokus auf fünf konkrete Ansätze konzentrieren. Sie sind maßgeblich an der Entwicklung und Konkretisierung des Intertextualitätsbegriffes beteiligt gewesen, ergänzen sich in allen für die bevorstehende Analyse relevanten Aspekten zur Intertextualitätsforschung und haben ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren. Des Weiteren beleuchten sie, wie sich die Perspektive und Gewichtung einzelner texttheoretischer Aspekte über die Zeit verändert haben.
2.1.3 Gérard Genette und die Transtextualitätstheorie
Der Franzose Gérard Genette ist 1982, als er sein Werk „Palimpseste“27 veröffentlicht, bereits mit seiner Arbeit über den Diskurs und die Erzähltheorie ein bekannter Literaturwissenschaftler. In Palimpseste etabliert er, vor allem basierend auf Kristevas Theorie zur Intertextualität, ein eigenes Modell. Im Gegensatz zu ihr ist sein Anspruch, den (beinahe) grenzenlosen Ansatz Kristevas für die Textanalyse zu konkretisieren und anwendbar zu machen. Ebenso wie seine bulgarische Kollegin nimmt er keine Gattungseinschränkung vor, was das Vorkommen von Intertextualität angeht, und geht auch über Bachtins alleiniger Annahme von Stimmenvielfalt innerhalb eines Textes hinaus.
„Ich definiere sie [Intertextualität] wahrscheinlich restriktiver als Beziehung der Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte, d.h. in den meisten Fällen eidetisch gesprochen, als effektive Präsenz eines Textes in einem anderen.“28
Seiner Überzeugung nach, verbirgt sich unter jedem Text immer noch mindestens ein weiterer Text, der zur Bedeutung des neuen Textes beiträgt. In der Systematik von Genette wird Intertextualität als eine von fünf Typen konstatiert, die er unter dem Oberbegriff der textuellen Transzendenz zusammenfasst. Transtextualität definiert er als jene Aspekte in einem Text, welche „ihn in eine manifeste oder geheime Beziehung zu anderen Texten bringt“29. Dazu gehören explizit auch jene Aspekte, die sich begleitend zum Text in dessen direktem Umfeld finden. Die Paratexte, wie er sie nennt, umfassen Titel, Motti, Werbung, Interviews, Inhaltsangaben, Überschriften, Widmungen und andere. Ihnen wird in dieser Arbeit besondere Aufmerksamkeit geschenkt, da die Neuerzählung von Felicitas Hoppe von einer Vielzahl von für Romane gewöhnliche, aber auch ungewöhnliche Paratexte begleitet wird. Die vier übrigen Typen der Transtextualität benennt Genette als: Intertextualität, Metatextualität, Hypertextualität und Architextualität. Sie alle seien an dieser Stelle nur genannt. In Kapitel 2.2.2 wird anschließend im Einzelnen, insbesondere im Fall der Paratexte, auf sie eingegangen werden und ihre Bedeutung anhand von Beispielen aus der Literaturgeschichte erklärt.
Genettes Arbeit ist insofern von Bedeutung für die Intertextualitätsforschung, als dass sie eine Anwendbarkeit des Phänomens in konkreten Textanalysen ermöglicht und den Verwirklichungsbereich von Intertextualität auf die den Text umgebenden Faktoren erweitert. Literatur ist demnach sowohl in einen historischen Zusammenhang zu anderen Texten zu stellen als auch in Hinblick auf ihre Position, Präsentation und Darstellung intertextuell zu bewerten.
2.1.4 Broich/Pfister und die Systematisierung des Intertextualitätsbegriffes
Auf Genettes Differenzierung des Intertextualitätsbegriffes hin präsentieren Ulrich Broich und Manfred Pfister ihren Versuch der Systematisierung gemeinsam mit einer Reihe literaturwissenschaftlicher Kollegen in einem Sammelband30, der sich im ersten Teil der Verengung des Begriffes widmet und anschließend praktische Fallstudien ang- listischer Texte präsentiert.
Anliegen des Bandes ist es, „die wichtigsten Aspekte des Phänomens Intertextualität methodisch getrennt, wenn auch stets aufeinander bezogen, zu diskutieren“31, die historische Dimension von Intertextualität in den Blickpunkt rücken und eine „Taxonomie der Formen von Intertextualität“32 zu erstellen. Dabei richten Broich und Pfister, anders als es ihre Vorläufer Kristeva und Genette nicht getan haben, den Fokus auf die Markierungsformen von Intertextualität, da erst durch die Art und Weise der Darstellung von Inter- textualität ihre volle und zum Teil sehr unterschiedlich beabsichtigte Wirkung entfaltet werden kann. Im Sinne dieser Überlegung muss der Verfasser eines Textes unbedingt über den Schaffensprozess an einem Text hinaus berücksichtigt werden. Erst durch den Rückbezug auf die Intention des Autors, die hinter einer bestimmten Markierungsweise steht, können Schlüsse über die Interpretationsmöglichkeiten von intertextuellen Referenzen angestellt werden. Dafür distanzieren sich Broich und ausdrücklich von einer poststrukturalistischen Herangehensweise an Literatur und legen damit den Grundstein für eine rezeptionsorientierte Intertextualitätsforschung, wie sie auch später unter anderem von Susanne Holthuis betrieben werden wird.
„Ins Zentrum der Überlegungen und Analysen sollte nicht ein poststrukturalistischer Intertextualitätsbegriff gerückt werden, der seine revolutionären Implikationen ja gerade seiner undifferenzierten Universalität verdankt, sondern ein eng gefasster Begriff, der es ermöglicht, Intertextualität von Nicht- Intertextualität zu unterscheiden und historisch und typologisch unterschiedliche Formen der Intertextualität voneinander abzuheben.“33
Wichtigstes Ergebnis für die Intertextualitätsforschung ist die Einordnung von intertex- tuellen Verweisen als Einzeltextreferenz oder Systemtextreferenz. Mit dieser Unterteilung ergänzen sie das Modell der fünf Typen der Transtextualität von Genette und liefern das notwendige Werkzeug für die Identifizierung von Graden an Intertextualität in der Literatur. Inwiefern sich Einzeltextreferenz und Systemtextreferenz voneinander abgrenzen und was sie mit anderen Modellen intertextueller Formen verbindet, wird in Kapitel 2.2.1 ausführlich besprochen.
2.1.5 Susanne Holthuis und die Interaktion zwischen Text und Leser
Susanne Holthuis widmet sich in ihrer 1993 erschienenen Monografie „Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption“ der Beziehung zwischen Autor und Leser, und damit der Modellierung einer Taxonomie intertextueller Relationen.34
Für die Bedeutung von Texten ist, nach Meinung Holthuis, die Interpretation von Inhalt und Textgestalt durch den Rezipienten von unerlässlicher Bedeutung. Erst durch das Spannungsfeld, welches durch die autorintendierten intertextuellen Verweise und der individuellen Aufnahme durch den Rezipienten eröffnet wird, kann Intertextualität gänzlich erfasst werden.
Entsprechend versteht Holthuis Intertextualität wie folgt:
„[...] Demzufolge muss auch Intertextualität verstanden werden als eine Texten nicht inhärente Eigenschaft, auch hier muss davon ausgegangen werden, dass intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können, aber vollzogen werden in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht, wie von ausschließlich textimmanent verfahrenden Konzeptionen angenommen in und durch den Text selbst.“35
Mit der Formulierung der ,textimmanent verfahrenden Konzeptionen4 spielt Holthuis unter anderem auf Kristevas Verständnis von Intertextualität an, in dem, wie bereits erwähnt, Verfasser und Rezipient beinahe bedeutungslos aufgefasst werden hinter der allumfassenden Bedeutung des eigentlichen Textes. Mit der Umkehrung dieses Prinzips in eine zielgerichtete funktionale durch Rezipienten gesteuerte Intertextualität, kann nun, neben der bisherigen Autorität des Autors über einen Text, viel genauer auf die tatsächlich erheblich facettenreichere Rezeption von literarischen Texten eingegangen werden. Nicht länger gibt es nur eine mögliche Form von Intertextualität in einem Text, nämlich diejenige, welche der Autor als solche bewusst eingebaut hat. Vielmehr ist es nun nötig, den Textverarbeitungsprozess von Literatur als individuellen Vorgang mit teilweise unvorhersehbaren und unkalkulierbaren Ausgängen zu betrachten.
In Zusammenhang mit diesen Erkenntnissen entwickelt Holthuis ihre Unterscheidung von intertextuellen Formen „in praesentia“36 und solcher „in absentia“37 und der Abhängigkeit eines Textes vom literarischen Vorwissen eines Lesers. Welche Formen sie im Einzelnen unterscheidet und welche Qualifikationen ein Leser haben muss, um sie zu erkennen, wird in Kapitel 2.2.3 ausführlich beleuchtet.
2.1.6 Peter Stocker und der Einzeltext- und Textklassenbezug
Fünf Jahre nachdem Susanne Holthuis ihren lektüreorientierten Intertextualitätsansatz vorgestellt hat, veröffentlicht der Schweizer Literaturwissenschaftler Peter Stocker sein Werk, „Theorie der intertextuellen Lektüre“38. Darin greift er Holthuis Prämisse auf und versucht ebenfalls eine „Unterscheidung zwischen Einzeltext- und Textklassenbezug mit den Funktionen Zitieren/Demonstrieren, Thematisieren und Imitieren zu kreuzen“39, was zu einem Ergebnis von sechs Intertextualitätsformen führt, die möglich sind. Diese sind Palintextualität (Zitieren eines Einzeltextes), Demotextualität (Demonstrieren der Charakteristika einer Textklasse), Metatextualität (Thematisieren der Charakteristika eines Einzeltextes), Thematextualität (Thematisieren der Charakteristika einer Textklasse), Hy- pertextualität (Imitieren eines Einzeltextes), Similtextualität (Imitieren einer Textklasse).40 Zwar weicht die Anzahl und die Abstufung dieser Intertextualitätsformen von Genettes Modell der fünf Typen der Transtextualität ab, inhaltlich sind sie j edoch weitestgehend übereinstimmend. So sind beispielsweise Stockers Metatextualität und Genettes Metatextualität beides intertextuelle Kommentarformen, welche die Charakteristiken von einem Text in einem anderen thematisieren.
Neben dieser Kategorisierung demonstriert Stocker das Abhängigkeitsverhältnis von Text-Autor-Leser und reiht sich damit in die Argumentation von Susanne Holthuis ein.
„Intertextualität impliziert immer die Existenz von mindestens zwei Texten, die zueinander in einer spezifischen Relation stehen. Hergestellt wird die intertextuelle Relation in den komplementären Kontexten von Produktion und Rezeption literarischer Texte durch die Vermittlung von Leser und Autor.“41
Ein Text verortet sich demnach laut Stocker immer in einem Abhängigkeitsverhältnis zwischen Verfasser und Leser sowie den jeweils genutzten Prätexten, was ihn zu einer jederzeit dynamischen Struktur macht, da sich die Rezeption mit jedem neuen Leser, ebenso wie durch jeden weiteren später erscheinenden Bezugstext verändern wird.
Stockers Unterscheidung von Einzeltext- und Textklassenbezug ist gemeinsam mit dem Zusammenhang von Beziehungsgeflecht Prätext-Text-Autor-Leser von Bedeutung, da sie verdeutlichen, dass Texte nicht nur in horizontaler/historischer Vernetzung zueinan- derstehen und einander beeinflussen, sondern der Wirkungsgrad von literarischen Texten auch in der vertikalen/gegenwärtigen Produktion mit anschließender Rezeption beeinflusst wird.
Es ist abschließend festzuhalten, dass die von Stocker festgestellten Formen der intertextuellen Bezüge einander nicht ausschließen und in beziehungsweise für ein und denselben Text gemeinsam und gleichzeitig vorkommen können.
2.1.7 Hardarik Blühdorn und die Sprache der Intertextualität
Abschließend sollen die Konzepte der Intertextualität aus der Literaturwissenschaft um ein relativ neues Modell aus der Sprachwissenschaft ergänzt werden, welches 2006 vom deutschen Sprachwissenschaftler Hardarik Blühdorn in seinem Aufsatz „Textverstehen und Intertextualität“42 veröffentlicht wird.
Für ihn ist Intertextualität „eine konstitutive Komponente des gesellschaftlichen wie individuellen Textverstehens. Nur durch ihr Vorkommen in Texten haben Sprachmittel Bedeutung, und in ihrer Rekurrenz in Makrotexten vollzieht sich ihre Bedeutungsgeschichte.“43
Damit ist mit dem Wort ,Makrotext‘ bereits einer der beiden zentralen Begriffe seines Intertextualitätsmodells gefallen. Blühdorn unterteilt Texte in zwei grundlegende Kategorien. Den Mikrotext und den Makrotext. Dabei versteht er unter einem Mikrotext eben jene literarischen Erzeugnisse, welche von einem einzigen Autor, zu einem bestimmten Zeitpunkt mit einer bestimmten Handlungsabsicht verfasst worden sind und ein bestimmtes Thema behandeln, wobei sie einer bestimmten Textsorte angehören und ausschließlich aus sprachlichen Komponenten (Wörtern und Sätzen) bestehen.44
Im Gegensatz dazu ist ein Makrotext laut Blühdorn „ein Gegenstand, auf den wir uns mit dem Individuenbegriff, aber auch mit dem Massenbegriff Text beziehen können“45. Makrotexte können dementsprechend aus zahlreichen, auf vielfältige Weise aufeinander bezogenen Mikrotexten bestehen, sie können allerdings auch von unterschiedlichen Textproduzenten zu unterschiedlichen Zeitpunkten und mit unterschiedlichen Handlungsintentionen verfasst werden.46 Blühdorn führt dazu das Beispiel einer Seite aus einer Fernsehprogrammzeitschrift an.47 So setzt sie sich aus vielen einzelnen Mikrotexten über verschiedene Filme, Spielzeiten und sogar Bildunterschriften zusammen und ergibt in der Summer einen Makrotext.48
Intertextualität als Bestimmungsmerkmal von Makrotexten in Abgrenzung zu Mikrotexten stellt sich daher nach Blühdorn dar als „polyphon, polythematisch und polygenetisch, d. h. sie vereinen in sich die Stimmen mehrerer Sprecher, handeln von mehreren, auch unzusammenhängenden Themen und können Charakteristika unterschiedlicher Textsorten aufweisen“49.
In dieser Definition finden sich viele Rückbezüge auf die vorangegangenen Konzepte von Intertextualität, wie auch auf Bachtins Modell der Dialogizität. Was Blühdorns Konzept von ihnen unterscheidet, ist seine weitere Einordnung von intertextuellen Makrotexten:
„[Sie sind] multimodal und multimedial [...], d.h. sie können gesprochene und geschriebene Passagen miteinander kombinieren, können neben sprachlichen auch nicht-sprachliche Komponenten wie Bilder, Geräusche, Musik u.a. einschließen und können aufgrund der semiotischen Arbeitsteilung zwi- sehen diesen Komponenten spezifische Wirkungsmöglichkeiten entfalten.“50
An dieser Stelle zeigt sich deutlich, wie sich mit den fortschreitenden Produktions- und Veröffentlichungsmöglichkeiten von Literatur die Möglichkeiten intertextueller Referenzen weiterentwickeln können.
Das Internet als vielleicht der größte Makrotext mit den meisten intertextuellen Bezügen in der Geschichte, ist ein sich laufend fortgeschriebenes Konvolut an Texten, Bildern und Audio.
Blühdorns Arbeit zur Intertextualität eröffnet daher übersichtlich die Dimension von In- tertextualität und Intermedialität, welche in Kapitel 2.6 ausführlich besprochen werden. Abschließend schlägt er den Bogen zu Julia Kristevas Ansatz, dass „letztendlich alles, oder doch zumindest jedes kulturelle System und jede kulturelle Struktur“51 als Text und damit als Intertext bezeichnet werden könnte, indem er den Makrotext und damit inter- textuelles Verstehen mit dem Lernen von Sprachen verknüpft. Demnach sind die Strukturen intertextueller Verweise in der Literatur ähnlich, wenn nicht sogar deckungsgleich mit dem Lernprozess eines jeden Menschen in seiner Muttersprache und später auch im Erlernen von Fremdsprachen.
„Wenn wir davon ausgehen, dass Kulturen einschließlich der zu ihnen gehörenden Sprache[n] Makrotexte sind, dann ist der Spracherwerb ein intertex- tueller Prozess, in dem das Kind sich zunehmend differenzierte Verstehensund Produktionszugänge zu dem Makrotext der Kommunikationsgesellschaft erarbeitet, in die es hineingeboren wurde.“52
Und weiter:
„Das Gedächtnis des sprachbenutzenden Individuums kann somit als ein Makrotext modelliert werden, der den biographischen Weg durch den Makrotext der Sprachgemeinschaft nachschreibt, eine individuelle Auswahl aus diesem Makrotext festhält und als Ressource für künftiges Verstehen von Mikro- und Makrotexten bereitstellt.“53
Es gilt demnach, nicht nur den Text als intertextuelle Struktur zu betrachten, sondern auch den Verfasser und jeden Rezipienten als einen intertextuellen Sender beziehungsweise Empfänger, dessen Gehirn von vornherein auf intertextuelle Denkprozessen ausgerichtet ist. Diese Erkenntnis erklärt erst die Existenz von Texten als intertextuelle Struktur, denn ohne die Fähigkeit, mentale Beziehungen zwischen Situationen, Tatsachen, Prozessen und schließlich Wörtern herzustellen und sie dann in späteren Gelegenheiten anzuwenden, wäre der Mensch nicht in der Lage, intertextuelle Erzeugnisse hervorzubringen. Blühdorns Theorie über den Menschen als Träger eines makrotextlichen Sprachsystems wird von Bedeutung sein, wenn es um die Rolle von Felicitas Hoppe als Urheberin eines intertextuellen Werkes geht.
2.2 Intertextuelle Formen und Markierungen
Nachdem die für diese Arbeit relevanten Konzepte vorgestellt worden sind, folgt in diesem Kapitel die detaillierte Auseinandersetzung mit den Formen von Intertextualität. In welche Kategorien sie von Ulrich Broich, Manfred Pfister, Gérard Genette und Susanne Holthuis eingeteilt werden, wird an dieser Stelle erläutert. Anschließend werden die Markierungsstufen nach Jörg Helbig für die Verwendung von intertextuellen Referenzen in Texten erklärt.
2.2.1 Einzeltext- und Systemtextreferenz nach Broich und Pfister
Die erste Unterscheidung von intertextuellen Formen in jeder Textanalyse sollte nach dem Modell von Broich und Pfister vorgenommen werden, da sie in Einzeltext- und Systemtextreferenz gliedern.
„Wenn man den Begriff der Intertextualität in einem so weiten Sinn verwendet, dass jeder Text in all seinen Elementen intertextuell ist, verliert der Begriff seine Trennschärfe und damit seine wissenschaftliche Brauchbarkeit zumindest für die Analyse einzelner Texte.“54
Dies betont noch einmal die Unmöglichkeit mit einer Konzeption wie der von Julia Kris- teva eine Textanalyse vornehmen zu wollen und zeigt die Relevanz einer Skalierung von Intertextualität für den praktischen Gebrauch.
Die Einzeltextreferenz liegt dabei in Fällen vor, in denen „sich ein Text auf einen bestimmten individuellen Prätext bezieht“55, sie stellt die konkreteste Realisierungsform von Intertextualität dar. Ob der Prätext dabei von einem oder mehreren anderen Autoren oder aber jenem Autor ist, der sich auf ihn bezieht, ist unerheblich für die Kategorisierung. Auch die Anzahl von verwendeten Prätexten für den Text spielt keine Rolle. Ein Autor kann eine beliebige Anzahl aus unterschiedlichen Quellen verwenden, die Kriterien für die Einordnung der jeweiligen intertextuellen Verweise als Einzeltextreferenz wären weiterhin erfüllt, solange sie konkreten Prätexten zugeordnet werden können. Wie im Konkreten diese Art von intertextueller Referenz aussehen kann, beschreibt Broich als, „Zitat, Motto, Cento, Übersetzung, Bearbeitung, imitation (im klassizistischen Sinn), Paraphrase, Resümee, Kontrafaktor und viele andere mehr“56.
Ein Beispiel für die Einzeltextreferenz lässt sich am Anfang aller Kapitel unter den Kapitelüberschriften in dem Roman „Tagebuch eines Buchhändlers“57 von Shaun Bythell finden. Der Autor zitiert dort jedes Mal eine andere konkrete Textstelle aus George Or- wells „Erinnerungen an eine Buchhandlung“58.
Dagegen ist die Systemtextreferenz eine „in den Randzonen der Intertextualität“59 zu lokalisierende Kategorie. Die Systemreferenz hat einen viel abstrakteren Bezug vom Text auf den oder die Prätexte und ist viel weniger eindeutig zu identifizieren. Es handelt sich bei dem intertextuellen Bezug der Systemtextreferenz „nicht mehr um einen individuellen Prätext, sondern [er] wird von Textkollektiva gebildet oder genauer, von den hinter ihnen stehenden und sie strukturierenden textbildenden Systemen. Da diese sich aber in den Texten manifestieren und nur über Texte greifbar sind, erscheinen auch bei diesen abstrakten Relationen die Begriffe Intertextualität und Prätext angebracht, ohne dass man sie dabei metaphorisch überstrapaziert“60. Folglich wird von einer Systemtextreferenz nach Broich und Pfister vor allem dann gesprochen, wenn ein gesamter Text von einem Prätext geprägt worden ist.
Abschließend ist zu bemerken, dass sich Einzeltextreferenz und Systemreferenz nicht gegenseitig ausschließen. So können in einem Text beide gleichzeitig oder an verschiedenen Stellen für einzelne Passagen oder Teile des Textes vorkommen. Gerade ein gemeinsames Zusammenwirken der beiden kann unter Umständen die Konstitution eines Textes bedeutend lenken.61 Ein Beispiel für einen Text, der die beiden Formen vereint, ist der Roman „Das Lied des Achill“62 von Madeleine Miller, welcher zum einen direkt von Homers „Ilias“63 inspiriert worden ist, zum anderen aber auch auf die Erzählstruktur und die für antike Texte übliche Mythologisierung von in ihnen handelnden Figuren zurückgreift.
2.2.2 Intertextuelle Typologie nach Gérard Genette
Nachdem die Ebenen, auf denen sich intertextuelle Referenzen einordnen lassen, erklärt sind, sollen die wichtigsten Formen von Intertextualität vorgestellt werden.
Der Franzose Gérard Genette ist der erste gewesen, der eine auf Textanalysen anwendbare Typologie von Intertextualitätsformen entwickelt hat. Sein Bestreben ist es, Ordnung und System in das Phänomen Intertextualität einzubringen und mit einer Systematisierung des Begriffes einen anwendbaren Schlüssel für die kritische Reflexion der Theorie zu ermöglichen.
Sein Modell stellt eines der umfassendsten zu der Thematik dar und hat bis heute nicht an Aktualität verloren, weswegen es für diese Arbeit primär genutzt werden soll.
Genette organisiert die fünf Typen der Transtextualität, wie er den übergeordneten Begriff für die Beziehungsmöglichkeiten von Texten untereinander nennt, nach einem Grad der „zunehmenden Abstraktion, Implikation und Globalität“64. Diese sind weder durch die Zugehörigkeit zu einer „bestimmten Epoche noch in einer bestimmten Gattung bzw. einem Strang der Gattungsgeschichte“65 begrenzt und gelten „prinzipiell für jeden Text“66. Im Zuge dieser Arbeit soll insbesondere auf den zweiten Typ, die Paratextualität, eingegangen werden, daher wird sie, obwohl von Genette an hierarchisch zweiter Stelle seiner Modells platziert worden ist, zuletzt erklärt.67
Der erste Typ, und nach Genette sogleich am wenigsten abstrakte Typ, ist der der Inter- textualität. Er definiert sie als „effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text“68. Die einfachste Form ist dabei die des traditionellen Zitats durch ein Wort, einen Satz oder einer ganzen Textpassage. Wird dieses Zitat nicht deutlich als solches deklariert, so handelt es sich laut Genette um ein Plagiat, welches immer noch eine wörtliche Entlehnung aus einem anderen Text darstellt. Am anderen Ende des Spektrums von Genettes Intertextualitätsbegriffes steht die Referenz durch Anspielung beziehungsweise Allusion. Der dritte Typ transtextueller Transzendenz bezeichnet Genette als Metatextualität, wobei es sich hierbei um „die üblicherweise als ,Kommentar‘ apostrophierte Beziehung zwischen einem Text und einem anderen, der sich mit ihm auseinandersetzt, ohne ihn unbedingt zu zitieren (anzuführen) oder auch nur zu erwähnen [...]“69 handelt. Als Beispiel für metatextuelle Texte (kurz Meta-Texte) sind beispielsweise wissenschaftlich the oretische Schriften, die über andere Texte geschrieben werden, oder Rezensionen, die sich beispielsweise durch die Vergabe einer Sterne-Bewertung mit einem Text auseinandersetzen. Sie reflektieren, kommentieren oder kritisieren ihren Bezugstext.
Mit dem Begriff der Hypertextualität benennt Genette „jede Beziehung zwischen einem Text B (den ich als Hypertext bezeichne) und einem Text A (den ich, wie zu erwarten, als Hypotext bezeichne), wobei Text B Text A auf eine Weise überlagert, die nicht die des Kommentars ist.“70
Das bedeutet, dass der Hypertext auf eine wie auch immer geartete Weise vom Hypotext abgeleitet wird, wobei der Hypotext im Zuge der betreffenden Passagen im Hypertext nicht explizit genannt wird. Dieser Vorgang kann auf zwei Arten in einem konkreten Text realisiert werden. Zum einen durch die Transformation, zum anderen durch Nachahmung. Die Transformation ist dabei die einfachere und direktere Form, während die Nachahmung von Genette als komplexer und indirekter charakterisiert wird.
Ein Beispiel für die Transformation ist der Roman „Ulysses“71 von James Joyce, der ein Hypertext vom Hypotext von Homers „Odyssee“72 ist. Die Transformation findet dabei durch die Verlegung der Handlung ins Dublin des 20. Jahrhunderts statt. Darüber hinaus ist eine Transformation in Hinblick auf die Übersetzung eines Textes in eine andere Sprache vorhanden.73 Allerdings muss dazu angemerkt werden, dass es sich bei Übersetzungen eher um eine Mischform zwischen Transformation und Nachahmung handelt, da Übersetzer bei dem Prozess des Sprachwechsels selten eine Wort für Wort Übersetzung anstreben und neben Satzstrukturen, beispielsweise im Falle von Wortwitz oder Dialekten, eine Anpassung in den Sprachgebrauch der Zielsprache vornehmen müssen. In diesem Fall wird durch das Auswechseln von Wörtern oder die Änderung von Inhalten in wörtlichen Dialogen eine Nachahmung des Originals angestrebt, die es den Lesern der Übersetzung erleichtert, den Sinn und die Atmosphäre des originalen Inhaltes in ihrer Sprache erleben zu können.
Bei der Nachahmung soll mit einer Aussage eine bestimmte „typische Manier“74 ausgedrückt werden, die im Hypotext zuvor als solche identifiziert worden ist und weiterverwendet werden soll, nunmehr mit einem anderen Inhalt und einem anderen Kontext.
Die fünfte Form der Transtextualität ist die Architextualität. Sie ist laut Genette die „abstrakteste und impliziteste“75 von allen. Architextualität ist eine „unausgesprochene Beziehung, die bestenfalls in einem paratextuellen Hinweis auf die taxonomische Zugehörigkeit des Textes zum Ausdruck kommt“76, sie weist den Leser also auf die „Bau- form“77 eines Textes hin. Ein solcher paratextueller Hinweis kann dabei beispielsweise eine Gattungsbezeichnung des Textes sein. In den meisten Fällen wird dieser Hinweis vorgenommen, auch wenn er nicht ausdrücklich nötig ist. Ein Gedicht muss nicht mit dem Wort Gedicht untertitelt sein, um es als solches zu erkennen. Textgestalt und Kontext, beispielsweise das Vorkommen in einem Gedichtband, sind bereits Hinweis genug. Wichtig ist, dass ein Architext, in Hinsicht auf die Gattungsbezeichnung einen wesentlichen Einfluss auf die Erwartungshaltung des Lesers nimmt. Wird ein Text als Roman oder Thriller bezeichnet, hat das Auswirkungen auf die initiale wie auch schlussendliche Rezeption des Textes durch den Leser.
„Ein literarisches Werk besteht ausschließlich oder hauptsächlich aus einem Text, das heißt (in einer sehr rudimentären Definition) aus einer mehr oder weniger langen Abfolge mehr oder weniger bedeutungstragender verbaler Äußerungen. Dieser Text präsentiert sich jedoch selten nackt, ohne Begleitschutz einiger gleichfalls verbaler oder auch nicht-verbaler Produktionen wie einem Autorennamen, einem Titel, einem Vorwort und Illustrationen.“78
Mit diesen Worten leitet Genette sein Werk über die Paratextualität, den zweiten Typ der Transtextualität, ein. Damit werden gleich die wichtigsten Merkmale von Paratexten genannt. Dass sie erstens nicht der Text selbst sind. Dass sie zweitens nicht ausschließlich in verbaler Form erscheinen müssen, sondern in Gestalt von bildlichem oder akustischem Material79 existieren. Und drittens, dass sie ein fester, kaum wegzudenkender Bestandteil von Texten sind.80
Sie umfassen eine große Bandbreite an Realisierungsformen, welche, je nach Textgattung, Genre, länderspezifischen Charakteristika oder auch von Autor zu Autor unterschiedlich ausfallen können. Im Folgenden werden Paratexte in ihrer Form hinsichtlich ihres Einsatzes im deutschen Sprachraum betrachtet.
Wenn erst durch den Paratext ein „Text zum Buch“81 wird, sollte er, was Textanalysen angeht, nicht vernachlässigt oder gänzlich außer Acht gelassen werden. Wie sich in Kapitel 4 bei der Präsentation der Analyseergebnisse von Intertextualität in Felicitas Hoppes Roman zeigen wird, spielen die Paratexte eine bedeutsame, wenn nicht sogar die wichtigste Rolle bei der Vermittlung und dem Verstehen des intertextuellen Kontextes des Textes.
Der Paratext setzt sich zusammen aus dem Peritext und dem Epitext. Ersterer findet sich „im Umfeld des Textes, innerhalb ein und desselben Bandes“82 und tritt in Form einer materialisierten Botschaft wie dem Titel, einem Vorwort, Kapitelüberschriften oder Widmungen auf. Epitexte dagegen lokalisieren sich in einer größeren Entfernung zum eigentlichen Text und umfassen Interviews mit dem Autor, Rezensionen über den Text aber auch private Aufzeichnungen von Personen über den Text beispielsweise in Lesetagebüchern. Selbst die auktorialen Notizen zum eigenen Text sind, soweit sie nicht im fertigen Buch enthalten sind, epitextliche Paratexte.
Des Weiteren nennt Genette fünf Kriterien, über die sich alle Paratexte definieren können.
[...]
1 Berndt, Frauke/Tonger-Erk, Lily: Intertextualität - Eine Einführung, Berlin 2013, S. 7.
2 Plett, Heinrich F.: Sprachliche Konstituenten einer intertextuellen Poetik, in: Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hgg.): Intertextualität - Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 79.
3 Von Veldeke, Heinrich: Eneasroman, Stuttgart 1986.
4 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 65.
5 Fanfiktion.de: Homepage, URL: FanFiktion.de - Das Fanfiction Archiv (Stand: 11.09.2022).
6 Hoppe, Felicitas: Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm, Frankfurt 2021.
7 Anmerkung: Autorin und Roman werden anschließend an die theoretische Einführung vorgestellt. Siehe Kapitel 3.
8 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 112019, S. 149.
9 Anmerkung: Als Buch unspezifische Paratexte werden das Verlagssiegel, Verlagsname, Klimasiegel sowie die ISBN-Nummer gewertet, da sie auch bei Nichterscheinen des Buches existieren würden.
10 Das Nibelungenlied, Stuttgart 2020.
11 DIE Nibelungen R.: Fritz Lang. GER 1924. Fassung: DVD. Universum Film GmbH 2018. 269 Minuten.
12 Anmerkung: Der direkte Link zum Nibelungenlied: Nibelungenlied: Zusammenfassung Kapitel/Aven- tiuren (Inhaltsangabe) (antikoerperchen.de) (Stand: 12.11.2022).
13 Anmerkung: Für die Arbeit ist die DVD-Fassung des Filmes verwendet worden. Alle Zeitstempel be- ziehen sich folglich auf jene Fassung und können eventuell zu den Videos auf YouTube abweichen.
14 Genette, Gérard: Palimpseste, Frankfurt 1993.
15 Genette, Gérard: Paratexte - Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main, 82021.
16 Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt 1969, S. 120.
17 Bachtin, Michail M.: Probleme der Poetik Dostojewskijs, München 1971, S. 206.
18 Bachtin, 1969, S. 157.
19 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 30.
20 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 33.
21 Kristeva, Julia: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin, in: Ihwe, Jens (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik, Band III, Frankfurt/Main 1972, S. 348.
22 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, in: Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hgg.): Intertextu- alität - Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft, Band 35), Tübingen 1985, S. 7.
23 Pfister 1985, S. 9.
24 Pfister 1985, S. 8.
25 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 36. Siehe weiterführend dazu: Schahadat, Schamma: Intertextualität: Lektüre - Text - Intertext, in: Pechlivanos, Miltos u.a. (Hgg.): Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart 1995, S. 366-377.
26 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 36.
27 Anmerkung: Bereits der Titel des Buches verweist auf den Charakter des Inhaltes. Ist doch ein Palimpseste nichts anderes als ein seit der Antike verwendetes Stück Pergament oder Papyrus, dessen ursprüngliche Beschriftung verwischt und anschließend mit einem neuen Text überschrieben wurde.
28 Genette, 1993, S. 10.
29 Genette 1993, S. 9.
30 Broich, Ulrich/Pfister, Manfred: Intertextualität - Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985.
31 Broich/Pfister 1985, Vorwort S. X.
32 Broich/Pfister 1985, Vorwort S. XI.
33 Broich/Pfister 1985, Vorwort S. X.
34 Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption, Tübingen 1993, Vorwort.
35 Holthuis 1993, S. 31.
36 Holthuis 1993, S. 94ff.
37 Holthuis 1993, S. 123ff.
38 Stocker, Peter: Theorie der intertextuellen Lektüre. Modelle und Fallstudien, Paderborn/Schöningh 1998.
39 Isekenmeier, Guido/Böhn, Andreas/Schrey, Dominik: Intertextualität und Intermedialität - Theoretische Grundlagen: Exemplarische Analysen, Berlin 2021, S. 5f.
40 Isekenmeier/Böhn/Schrey 2021, S. 5f.
41 Stocker 1998, S. 9.
42 Blühdorn, Hardarik: Textverstehen und Intertextualität, in: Blühdorn Hardarik/Breindl, Eva/Waßner, Ulrich Hermann (Hgg.): Text - Verstehen. Grammatik und darüber hinaus, Berlin 2006, S. 277-298.
43 Blühdorn 2006, S. 292.
44 Blühdorn 2006, S. 279.
45 Blühdorn 2006, S. 280.
46 ebd.
47 Blühdorn 2006, S. 281.
48 Wie sich in diesem Beispiel bereits zeigt, und worauf Blühdorn auch im weiteren Verlauf seines Aufsatzes hinweist, ist, dass jeder der Mikrotexte in der Fernsehzeitschrift bei genauer Betrachtung wiederum als Makrotext interpretiert werden kann, da sie sich ebenfalls aus unterschiedlichen Text- und Bildmaterial aus verschiedenen Quellen von nicht nachweislich ein und demselben Verfasser zusammensetzen. Dieser Beobachtung folgend konstatiert er, dass „Streng genommen [...] wohl nur der allererste Mikrotext der Welt wirklich unabhängiger Ausgangstext für Makrotexte“ (Blühdorn 2006, S. 288.) war und „jeder weitere Mikrotext [...] schon in irgendeiner Weise auf diesen ersten Text bezogen, entweder durch Ähnlichkeit oder durch Andersheit, durch mediale Angrenzung, durch den Gebrauch ähnlicher oder gleicher Sprachmittel, wenn nicht durch Kommentierung oder gar Weiterverarbeitung“ (Blühdorn 2006, S. 288.) hinweist.
49 Blühdorn 2006, S. 283.
50 Blühdorn 2006, S. 283.
51 Pfister 1985, S. 7.
52 Blühdorn 2006, S. 293.
53 Blühdorn 2006, S. 295.
54 Broich, Ulrich/Pfister, Manfred: Bezugsfelder der Intertextualität, in: Broich, Ulrich/Pfister, Manfred (Hgg.): Intertextualität - Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien, Tübingen 1985, S. 48. Im Folgenden Broich/Pfister (II).
55 ebd.
56 Broich/Pfister (II) 1985, S. 49.
57 Bythell, Shaun: Tagebuch eines Buchhändlers, München 22019.
58 Orwell, George: Erinnerungen an eine Buchhandlung, London 1936.
59 Broich/Pfister (II) 1985, S. 48.
60 Broich/Pfister (II) 1985, S. 53.
61 Broich/Pfister (II) 1985, S. 52.
62 Miller, Madeline: Das Lied des Achill, München 2020.
63 Homer: Ilias, 8.-7. Jahrhundert v. Chr. (Anmerkung: Die Datierung der Ilias ist weitgehend umstritten. Als wahrscheinlichster Entstehungszeitraum wird der oben angegebene angenommen. Über den Ort der Niederschrift ist noch weniger bekannt, daher ist er in dieser Literaturangabe nicht angegeben. Eine aktuelle Ausgabe des Werkes liegt im Anaconda-Verlag vor: Homer: Ilias, München 2018.
64 Genette 1993, S. 10.
65 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 114.
66 ebd.
67 Anmerkung: Zur Relevanz der ausführlichen Bearbeitung der Paratextualität siehe auch Kapitel 4.2.
68 Genette 1993, S. 10.
69 Genette 1993, S. 13.
70 Genette 1993, S. 14f.
71 Joyce, James: Ulysses, England 1986.
72 Homer: Odyssee, zwischen 730 und 660 v. Chr. (Anmerkung: Wie bei der Ilias ist die genaue Entstehungsgeschichte der Odyssee und ihre Datierung unbekannt. Auch hier liegt eine aktuelle Ausgabe im Anaconda-Verlag vor: Homer: Odyssee, München 2015.).
73 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 121.
74 Genette 1993, S. 17f.
75 Genette 1993, S. 13.
76 ebd.
77 Berndt/Tonger-Erk 2013, S. 124.
78 Genette 82021, S. 9.
79 Anmerkung: Man denke insbesondere an Kinderbücher, die beim Aufklappen eine Melodie spielen oder beim Drücken auf bestimmte Stellen im Buch, Geräusche erklingen lassen.
80 Anmerkung: Genette weist zwar darauf hin, dass es theoretisch Texte geben kann, die keinerlei gedruckte oder angehängte materielle Paratexte besitzen, jedoch ist auch der mündliche Diskurs, der über einen Text geführt wird, eine Form von Paratextualität. (Genette 82021, S. 11.).
81 Genette 82021, S. 10.
82 Genette 82021, S. 12.
- Quote paper
- Lillian Götz (Author), 2022, Intertextualität im Roman "Die Nibelungen - Ein deutscher Stummfilm" von Felicitas Hoppe, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1341849
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