Die anderthalb Jahrhunderte zwischen dem Westfälischen Friedensschluss (1648) und dem Untergang des alten Reiches (1806) bilden eine eigene Epoche in der deutschen Kirchengeschichte. Diese Periode, die als ein gesamteuropäischer Prozess zu betrachten ist, „steht unter der Signatur des im 17. Jahrhundert beginnenden Prozesses der Verselbständigung des politischen und geistigen Lebens gegenüber den Mächten der konfessionellen Kirchentümer und ihrer theologischen Traditionen.“ Im Zeitalter des in Europa vorherrschenden fürstlichen Absolutismus bleibt das konfessionelle Kirchenwesen hinter den Interessen säkularer Machtpolitik immer mehr zurück, die Linien der Kirchengeschichte und der allgemeinen politischen Geschichte treten nun deutlicher auseinander. Trotzdem wirken die großen politischen Wirrungen dieser Zeit, durch die vor allem Deutschland wirtschaftlich und geistig weit hinter die westeuropäischen Nationen zurückgeworfen wurde, mittelbar auch in die Kirchengeschichte hinein. Dabei zeigt sich, dass der römische Katholizismus seine Energien im gegenreformatorischen Kampf verbraucht zu haben scheint; in Deutschland fällt er hinter den Protestantismus immer deutlicher zurück. Während die von Rom unabhängigere gallikanische Kirche Frankreichs gerade jetzt eine reiche religiöse und wissenschaftliche Blütezeit erlebt, „finden sich im deutschen Katholizismus wenig Spuren neuen Lebens.“ Die protestantischen Konfessionen dagegen bieten ein anderes Bild. Durch die Aufnahme westeuropäischen Geistesgutes und seiner „Verschmelzung mit dem eigenen reformatorischen Erbe“ bilden sich die zwei großen Bewegungen des Pietismus und der Aufklärung heraus, welche die Herrschaft des konfessionellen Geistes brechen und auch die orthodoxe Scholastik in den Hintergrund treten lassen. August Hermann Francke gilt als einer der bedeutsamsten Theologen und Pädagogen dieser Zeit. Mit der Entwicklung von bahnbrechenden Formen der Schulorganisation, Lehrerausbildung und Begabtenförderung, die in den Einrichtungen des von ihm geleiteten Halleschen Waisenhauses begründet wurden, wurde er zu einem Pionier der modernen Erziehungswissenschaften und trug maßgeblich zu einem veränderten neuzeitlichen Erziehungsverständnis bei. Diese Arbeit beabsichtigt, das Leben Franckes sowie seine Überzeugungen und sein Lebenswerk, das daraus resultiert, tiefer zu beleuchten. Dabei stehen vor allem seine pädagogischen Konzepte und seine Verdienste auf diesem Gebiet im Mittelpunkt der Untersuchungen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Pietismus
Philipp Jakob Spener und seine Pia desideria
3. August Hermann Francke
3.1 Werdejahre bis zur Bekehrung
3.2 Sein Bekehrungserlebnis
3.3 Die Entwicklung der Unterrichtsanstalten des Halleschen Waisenhauses
4. Die Pädagogik Franckes
4.1 Wissenschaftsfeindlichkeit
4.2 Gemeinnützigkeit
4.3 Erziehung des Willens
4.4 Die Mittel der Erziehung
4.4.1 Das Exempel 16
4.4.2 Ermahnungen, Drohungen und Strafen
4.4.3 Das Gebet
4.4.4 Der Unterricht
4.5 Die Lehrerausbildung
5. Nachwort
6. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die gut anderthalb Jahrhunderte zwischen dem Westfälischen Friedensschluss (1648) und dem Untergang des alten Reiches (1806) bilden eine eigene Epoche in der deutschen Kirchengeschichte.[1] Diese Periode, die als ein gesamteuropäischer Prozess zu betrachten ist, „steht unter der Signatur des im 17. Jahrhundert beginnenden Prozesses der Verselbständigung des politischen und geistigen Lebens gegenüber den Mächten der konfessionellen Kirchentümer und ihrer theologischen Traditionen.“[2] Im Zeitalter des in Europa vorherrschenden fürstlichen Absolutismus bleibt das konfessionelle Kirchenwesen hinter den Interessen rein säkularer Machtpolitik immer mehr zurück, die Linien der Kirchengeschichte und der allgemeinen politischen Geschichte treten nun deutlicher auseinander. Trotzdem wirken die großen politischen Wirrungen dieser Zeit, durch die vor allem Deutschland wirtschaftlich und geistig weit hinter die westeuropäischen Nationen zurückgeworfen wurde, mittelbar auch in die Kirchengeschichte hinein. Dabei zeigt sich, dass der römische Katholizismus seine Energien im gegenreformatorischen Kampf verbraucht zu haben scheint; in Deutschland fällt er hinter den Protestantismus immer deutlicher zurück. Während die von Rom unabhängigere gallikanische Kirche Frankreichs gerade jetzt eine reiche religiöse und wissenschaftliche Blütezeit erlebt, „finden sich im deutschen Katholizismus wenig Spuren neuen Lebens.“[3] Die protestantischen Konfessionen dagegen bieten ein anderes Bild. Durch die Aufnahme westeuropäischen Geistesgutes und seiner „Verschmelzung mit dem eigenen reformatorischen Erbe“[4] bilden sich die zwei großen Bewegungen des Pietismus und der Aufklärung heraus, welche die Herrschaft des konfessionellen Geistes brechen und auch die orthodoxe Scholastik in den Hintergrund treten lassen.
August Hermann Francke gilt als einer der bedeutsamsten Theologen und Pädagogen dieser Zeit. Mit der Entwicklung von bahnbrechenden Formen der Schulorganisation, Lehrerausbildung und Begabtenförderung, die in den Einrichtungen des von ihm geleiteten Halleschen Waisenhauses begründet wurden, wurde er zu einem Pionier der modernen Erziehungswissenschaften und trug maßgeblich zu einem veränderten neuzeitlichen Erziehungsverständnis bei.[5] Diese Arbeit beabsichtigt, das Leben Franckes sowie seine Überzeugungen und sein Lebenswerk, das daraus resultiert, tiefer zu beleuchten. Dabei stehen vor allem seine pädagogischen Konzepte und seine Verdienste auf diesem Gebiet im Mittelpunkt der Untersuchungen.
2. Pietismus
Als „Pietismus“ bezeichnet man eine weitverzweigte und gestaltenreiche Frömmigkeits- und Reformbestrebung, die zwischen 1690 und 1740 den Höhepunkt ihrer Wirksamkeit erlangte.[6] Der Pietismus verstand und versteht sich als eine Bewegung zur Erneuerung und Vertiefung des christlichen Lebens, der zwar die vornehmlich um die Bewahrung der reinen Lehre besorgte Orthodoxie ablöst, jedoch auch insofern an sie gebunden bleibt, als er die überlieferte Kirchenlehre bejaht und die entscheidenden Impulse zur Erneuerung des frommen Lebens aus der „reinen, schriftgemäßen Lehre abzuleiten sucht“[7].
Neben dem angelsächsischen Puritanismus kann der Pietismus als die bedeutendste religiöse Bewegung des Protestantismus seit der Reformation angesehen werden, die sowohl in der lutherischen als auch in der reformierten Kirche entstanden ist.[8] Mit seiner Tendenz zur Individualisierung und Verinnerlichung des religiösen Lebens, entwickelt der Pietismus neue Formen persönlicher Frömmigkeit und gemeinschaftlichen Lebens, führt zu durchgreifenden Reformen in Theologie und Kirche und hinterlässt tiefe Spuren im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der von ihm erfassten Länder.[9] Damit kehrt der Pietismus einem zu äußerer Form erstarrenden traditionellen „Gewohnheitschristentum“[10] den Rücken zu und greift insofern auf die reformatorische Bewegung zurück, als er die unvollendet gebliebene Reformation zu Ende führen bzw. die „Reformation der Lehre durch eine zweite Reformation des Lebens“[11] ergänzen will. Damit ebnet er den im konfessionellen Zeitalter aufgerissenen Graben zwischen Luthertum und Calvinismus zwar ein, verschärft jedoch die gegensätzliche Entwicklung zwischen den protestantischen Konfessionen und dem römischen Katholizismus.
Das Wort „Pietismus“ trat vermutlich erstmals um 1674 in Frankfurt am Main auf. Verwendet wurde es als ein Schimpfwort von den Gegnern der neuen Bewegung in der evangelischen Kirche. Abgeleitet von dem lateinischen Begriff pietas für Frömmigkeit sprachen ihre Gegner verächtlich von den „Pietisten“ und der „Pietisterei“. Erst nach und nach machten sich die als Pietisten Beschimpften diesen Begriff selbst zu Eigen und bezeichneten sich auch selbst so.[12] Erst im 19. Jahrhundert wurde Pietismus zu einem Begriff der Kirchengeschichtsschreibung und zu einer Epochenbezeichnung, der jedoch bis heute in einigen Dingen unbestimmt und in seiner Anwendung innerhalb der Forschung umstritten ist.[13]
Philipp Jakob Spener und seine Pia desideria
Als Begründer des lutherischen Pietismus gilt der Theologe Philipp Jakob Spener (1635-1705). Als Senior des Predigerministeriums in Frankfurt am Main bemühte er sich im Geist damaliger Reformgesinnung um Verbesserungen hinsichtlich des Predigergottesdienstes, der Katechismusunterweisung, der schwer zu verwirklichenden Kirchenzucht sowie der Armenfürsorge durch den Bau eines städtischen Waisenhauses.[14]
Auf Anregung einer kleinen Gruppe von Männern, denen an erbaulichem Austausch und frommer Gemeinschaft anstelle von weltlicher Geselligkeit gelegen war, kam es 1670 in Speners Pfarrhaus zur Bildung eines Collegium pietatis, einer bis dahin in der Kirche unüblichen Gemeinschaftsform, aus der sich dann die abschätzig auch als Konventikel bezeichneten Versammlungen oder Erbauungsstunden des Pietismus entwickelten. Durch die Lektüre von Erbauungsliteratur und einer sich anschließenden Diskussion sah Spener die Praktizierung des allgemeinen Priestertums der Gläubigen verwirklicht. Jedoch waren seine Erfahrungen mit den sich immer weiter ausbreitenden Collegia pietatis nicht nur positiv. Der Magistrat sah in ihnen überflüssige Neuerungen und die Mitglieder selbst standen in dauernder Gefahr, „ein elitäres Bewußtsein auszubilden, sich als Avantgarde zu verstehen, einige liebäugelten gar mit der Abspaltung von der großen Gemeinde.“[15] Spener versuchte jedoch stets, diesen Strömungen entgegenzuwirken und sprach sich für eine feste Verankerung der Gemeindekreise als „Kirchlein“ in der Gemeinde aus (ecclesiola in ecclesia). Das intensive Gemeinschaftserlebnis, die Intensivierung der gegenseitigen Hilfsbereitschaft sowie schließlich die Überzeugung, eine Bekehrung oder Wiedergeburt erlebt zu haben, führten zu einer ständig wachsenden positiven Grundüberzeugung Speners, welche die ängstlichen und negativen Gedanken, u.a. verursacht durch den Dreißigjährigen Krieg, in den Hintergrund rückte.[16]
Diese Erfahrungen, die Spener durch die Collegia pietatis sammeln konnte, bezieht Spener im Frühjahr 1675 in seinem, zunächst als Vorwort zu einer Neuausgabe der Postille Johann Arndts[17] veröffentlichten Kirchenreformprogramm mit ein, das noch im selben Jahr unter dem Titel Pia desideria oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche separat gedruckt wurde. In diesem Dokument konstatiert Spener die innere Zerrüttung der evangelischen Kirche in allen drei Ständen, dem Obrigkeitsstand, dem Predigerstand und dem Laienstand. Die Ursache dieses Verderbens sieht er im Mangel am wahren, lebendigen Glauben.[18] In diesem Zusammenhang schlägt Spener ein Sechs-Punkte-Programm vor, das Besserung bringen soll. Vor allem spricht er sich für mehr Bibellektüre aus. Durch das gemeinsame Gespräch über die Bibel in Erbauungsversammlungen soll die Heilige Schrift als „einzige Quelle aller Besserung kräftiger zur Wirksamkeit gebracht werden.“[19] Die übrigen Reformvorschläge ordnen sich diesem Hauptvorschlag, der den Pietismus zu einer Bibelbewegung macht, unter: Aktivierung des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, Schwerpunktverlagerung von der Theorie auf die Praxis des Christentums, Einschränkung der konfessionellen Polemik, Reform des Theologiestudiums im Sinne der Praxis Pietatis und schließlich Abzweckung der Predigten auf die Erbauung und Förderung des „inneren Menschen“.[20]
Dieses Pia desideria löste schnell ein gewaltiges Echo aus und beherrschte zwei Generationen lang die theologische und kirchliche Diskussion.[21] Speners Aufwertung der Praxis gegenüber der Theorie ließen ihn zu einem äußert geschätzten und angesehenen Theologen werden, der bereits von seinen Zeitgenossen den Ehrentitel „Vater des Pietismus“ erhalten hat.[22] Der aus pietistischer Sicht wichtigste Schüler Speners, die unbestrittene „Nr. 2 unter den Pietisten“[23], war August Hermann Francke, der im Folgenden das Zentrum der vorliegenden Arbeit bildet.
3. August Hermann Francke
Während Speners Leben äußerlich gesehen „geradlinig, stetig und über alle Jahre in hohem öffentlichen Ansehen“[24] verlaufen ist, ist das Leben August Hermann Franckes durch zahlreiche „Höhen und Tiefen, Sprünge und Brüche“[25] gekennzeichnet. Einen zentralen Wendepunkt in seinem Leben stellte sein Bekehrungserlebnis im Herbst 1687 dar, welches für seinen weiteren Lebens- und Entwicklungsweg ein äußerst bedeutsames Ereignis darstellte. Es soll nun dargelegt werden, wie es zu diesem Bekehrungserlebnis Franckes gekommen ist und welche Auswirkungen dieses Ereignis insbesondere für seine pädagogische Arbeit gehabt hat.
[...]
[1] Vgl. Johannes Wallmann: Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation. Tübingen 52000. S. 123.
[2] Ebd.
[3] Wallmann: Kirchengeschichte. S. 124.
[4] Wallmann: Kirchengeschichte. S. 125.
[5] Udo Sträter und Juliane Jacobi: Francke, August Hermann. Pädagogische Bedeutung. In: Hans Dieter Betz et al. (Hrsg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Bd. 3. Tübingen 42000. Sp. 209-211, hier Sp. 211.
[6] Vgl. Friedrich-Franz Mentzel: Pietismus und Schule. Die Auswirkungen des Pietismus auf das Berliner Schulwesen 1691-1797. In: Benno Schmoldt und Michael-Søren Schuppan (Hrsg.): Materialien und Studien zur Geschichte der Berliner Schule. Bd. 11. Hohengehren 1993. S. 11.
[7] Gottfried Hornig: Lehre und Bekenntnis im Protestantismus seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. In: Carl Andresen (Hrsg.): Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 3: Die Lehrentwicklung im Rahmen der Ökumenizität. Göttingen 1984. S. 13.
[8] Vgl. Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005. S. 21.
[9] Vgl. ebd.
[10] Ebd.
[11] Ebd.
[12] Vgl. Martin H. Jung: Pietismus. Frankfurt am Main 2005. S. 3.
[13] Bis weit ins 19. Jahrhundert verstand man unter dem Begriff Pietismus lediglich die von Philipp Jacob Spener (1635-1705) und August Hermann Francke (1663-1727) ausgehende religiöse Bewegung innerhalb der lutherischen Kirche. Dieser enge Begriffssinn wurde jedoch am Ende des 19. und im 20. Jahrhundert weiter ausgedehnt und teilweise inhaltlich verschoben. Vgl. dazu Wallmann: Pietismus. S. 22ff.
[14] Vgl. Martin Brecht: Pietismus. In: Gerhard Müller (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. Bd. 26. Berlin, New York 1996. S. 606-631, hier S. 612.
[15] Herbert Kemler: Wer ist ein Christ? Pietismus in Geschichte und Gegenwart. In: Karl Dienst et al. (Hrsg.): Der evangelische Erzieher. Zeitschrift für Pädagogik und Theologie. 38. Jg. H. 4. Frankfurt am Main 1986. S. 362-377, hier S. 366.
[16] Vgl. ebd.
[17] Johann Arndt (1555-1621) gilt als einer der wichtigsten nachreformatorischen Theologen. Geprägt durch Einflüsse der Mystik sprach sich Arndt für ein verifiziertes, erfahrenes, verinnerlichtes Christentum und den Vorrang christlichen Tuns und Lebens vor bloßem Wissen aus. Vgl. Brecht: Pietismus. S. 610. Die vielfältigen geistigen Impulse Arndts lösten zwar teilweise heftigen Widerspruch aus, mündeten jedoch schließlich in der Bewegung des deutschen Pietismus.
[18] Vgl. Wallmann: Kirchengeschichte. S. 127.
[19] Wallmann: Kirchengeschichte. S. 128.
[20] Vgl. ebd.
[21] Vgl. Kemler: Wer ist ein Christ? S. 363f.
[22] Vgl. Kemler: Wer ist ein Christ? S. 367.
[23] Ebd.
[24] Ebd.
[25] Ebd.
- Quote paper
- Tino Wiesinger (Author), 2009, August Hermann Francke und seine Pädagogik im Kontext des Pietismus, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133717
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