Um die Kompetenzen von Lernenden einschätzen und daraus resultierend neue Unterrichtskonzepte generieren, realisieren und kritisch reflektieren zu können, ist es hilfreich, Lernprozesse zu analysieren (vgl. Petrik 2007: 19).
Das Problem der gegenwärtigen fachdidaktischen Lernprozessanalyse ist, dass sie „nicht sehr viele tragfähige Ergebnisse vorzuweisen“ hat (Hilligen 1992: 132). Die Analyse von Einzelstunden muss dabei als wenig fruchtbar gelten, da so „größere Lernbögen“ von Lernenden nicht erfasst werden können (Petrik 2007: 84). Es wurden jedoch schon vor knapp fünfzig Jahren Konzepte gefordert, die „überzeugende, erziehungswissenschaftlich begründete Modelle einer Bildungs- und Erziehungspraxis im Sinne des Elementaren, Fundamentalen, Exemplarischen“ (Klafki 3/41964: 458) realisieren sollten.
Es musste ein Umdenken stattfinden, um „politische Bildungsgänge lernpsychologisch angemessen“ (Petrik 2007: 87) zu generieren und kritisch reflektieren zu können. Vor allem die Bildungsgang- und die Lehrkunstdidaktik sind „lernprozessorientiert“ und ermöglichen aussagekräftige Analysen (ebd.).
Petriks Dorfgründung beginnt dabei in einem „vorzivilisatorischen Naturzustand“ (ebd.: 295), in dem die SchülerInnen versuchen müssen, ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen. Das Dorf eröffnet als Exempel somit die Möglichkeit, die Lernenden in eine Ursprungssituation zu versetzen, in der keine politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Antworten vorgegeben sind, sondern sich erst Fragen durch die Interaktion ergeben, die gemeinsam besprochen und entschieden werden. Somit werden SchülerInnen gezwungen, sich begründend zu positionieren und kritisch zu reflektieren. Genau dieses genetische Prinzip des Lehrstückes eignet sich, um Lernprozessanalysen anzufertigen.
Mit dieser Arbeit werde ich, aufbauend auf Petriks Untersuchungen, den kollektiven Lernprozess des GK13 aus dem Jahr 2002 während der konstitutiven Dorfversammlung analysieren. Dazu werde ich die Entwicklung der mikropolitischen Konflikt- und Urteilsfähigkeit, sowie die (mögliche) kollektive politische Grundorientierung des Grundkurses während der konstitutiven Dorfversammlung anhand von zwei „Schlüsselstellen“ untersuchen, interpretieren und darauf aufbauend die Fehlkompetenzen bzw. Lernhürden, sowie politische Lernprogressionen darstellen.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Die Methode „Lernprozessanalyse“
2.1 Best-Practice-Forschung zur qualitativen Interpretation von Lernprozessen
2.2 Der „hermeneutische Dreischritt“
2.3 „Vier Niveaus der (alltags-)politischen Auseinandersetzung“
3. Beschreibende Zusammenfassung des kollektiven Lernprozesses
3.1 Verlauf der konstitutiven Dorfversammlung
3.2 Streitkultur, Konfliktlösung und Beschlüsse
4. Interpretation von „Schlüsselstellen“
4.1 „[...] das Ganze ist 'n bisschen stressig!“
4.2 „Brauchen wir `nen Polizist?“
5. Die Typologisierung eines kollektiven Lernprozesses? Versuch einer Merkmalsraumeinordnung
6. Abbildungsverzeichnis
7. Quellen- und Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Um die Kompetenzen von Lernenden einschätzen und daraus resultierend neue Unterrichtskonzepte generieren, realisieren und kritisch reflektieren zu können, ist es hilfreich, Lernprozesse zu analysieren (vgl. Petrik 2007: 19).
Der Ursprung von Lernprozessen ist dabei immer durch eine Konfrontation mit negativen Erfahrungen gekennzeichnet (vgl. Buck 1969: 44). Aus der Krisenerfahrung resultierend findet ein Perspektivwechsel statt, der sich eben durch die benannte Konfrontation erklären lässt (vgl. Gagel 1986: 34f.). Wirkungsvoll wird der Perspektivwechsel aber erst, wenn der provozierte Konzeptwechsel vom Lernenden realisiert wird (vgl. Wagenschein 91991: 94ff.). Allerdings bedeutet dies nicht, die eigene Perspektive zugunsten anderer zu verdrängen. Vielmehr ist der „Endzustand“ des Lernprozesses durch das „komplexe Nebeneinander“ gekennzeichnet (Petrik 2007: 52).
Das Problem der gegenwärtigen fachdidaktischen Lernprozessanalyse ist, dass sie „nicht sehr viele tragfähige Ergebnisse vorzuweisen“ hat (Hilligen 1992: 132). Die Analyse von Einzelstunden muss dabei als wenig fruchtbar gelten, da so „größere Lernbögen“ von Lernenden nicht erfasst werden können (Petrik 2007: 84). Es wurden jedoch schon vor knapp fünfzig Jahren Konzepte gefordert, die „überzeugende, erziehungswissenschaftlich begründete Modelle einer Bildungs- und Erziehungspraxis im Sinne des Elementaren, Fundamentalen, Exemplarischen“ (Klafki 3/41964: 458) realisieren sollten.
Es musste ein Umdenken stattfinden, um „politische Bildungsgänge lernpsychologisch angemessen“ (Petrik 2007: 87) zu generieren und kritisch reflektieren zu können. Vor allem die Bildungsgang- und die Lehrkunstdidaktik sind „lernprozessorientiert“ und ermöglichen aussagekräftige Analysen (ebd.). Die Verknüpfung beider Allgemeindidaktiken gelang Andreas Petrik, der mit der Realisierung einer logisch-genetischen Dorfgründung die aufschlussreiche Untersuchung von kollektiven und individuellen Lernprozessen ermöglichte.
Petriks Dorfgründung beginnt dabei in einem „vorzivilisatorischen Naturzustand“ (ebd.: 295), in dem die SchülerInnen versuchen müssen, ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen. Das Dorf eröffnet als Exempel somit die Möglichkeit, die Lernenden in eine Ursprungssituation zu versetzen, in der keine politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Antworten vorgegeben sind, sondern sich erst Fragen durch die Interaktion ergeben, die gemeinsam besprochen und entschieden werden. Somit werden SchülerInnen gezwungen, sich begründend zu positionieren und kritisch zu reflektieren. Genau dieses genetische Prinzip des Lehrstückes eignet sich, um Lernprozessanalysen anzufertigen: Die inhaltlichen und argumentativen Entwicklungen werden bei den SchülerInnen während des Lehrstückes erkennbar, da sie immer wieder im Sinne des Politikzyklus ihre eigenen Positionen in Aushandlungsprozessen darstellen, auf andere Wortbeiträge reagieren und letztlich eigene und fremde Positionen kritisch reflektieren müssen. Die Dorfgründung, die aus Prolog (Auswanderungsintention), dem ersten (pluralistische Gesellschaft realisieren), zweiten (eigene und fremde Gesellschaftsbilder systematisieren) und dritten Akt (Gesellschaftsbilder auf makropolitischer Ebene anwenden), sowie dem Epilog (Reflexion) besteht (vgl. ebd.: 300f.), erfüllt genau die Voraussetzungen, um Lernprozesse zu initiieren und auch abzuschließen: Im Prolog formulieren die SchülerInnen ihre Homogenitäts- und Harmonieillusionen (Auswanderung, Streben nach harmonischen Zusammenleben), die dann im ersten Akt in Frage gestellt werden (kontroverse Aushandlungsprozesse zu elementaren Fragen künftigen Zusammenlebens). Hier liegt auch der Ursprung des Lernprozesses: Die Konfrontation mit negativen Erfahrungen (keine Harmonie und Homogenität). Der Epilog bewirkt, dass der provozierte Konzept- und Perspektivwechsel von den SchülerInnen realisiert und Petriks angestrebtes „komplexes Nebeneinander“ der Perspektiven erreicht wird.
Mit dieser Arbeit werde ich, aufbauend auf Petriks Untersuchungen, den kollektiven Lernprozess des GK13 aus dem Jahr 2002 während der konstitutiven Dorfversammlung analysieren. Dazu werde ich die Entwicklung der mikropolitischen Konflikt- und Urteilsfähigkeit, sowie die (mögliche) kollektive politische Grundorientierung des Grundkurses während der konstitutiven Dorfversammlung anhand von zwei „Schlüsselstellen“ untersuchen, interpretieren und darauf aufbauend die Fehlkompetenzen bzw. Lernhürden, sowie politische Lernprogressionen darstellen. Dabei werde ich beweisen, dass sich im Grundkurs libertäre Gemeinschaftsloyalisten (Martin, Wencke, Andrea, Kerstin) und liberale Systemloyalisten mit konservativen Zügen (Petra, Laura, Elke, Johanna, Nora, Alexander und Ines) gegenüber stehen, die es in der konstitutiven Dorfversammlung noch nicht schaffen, auf institutionellem Niveau zu argumentieren. Einzig Andrea schafft das (Transkript: S. 20/270.).
In diesem Zusammenhang kann man die individuellen oder kollektiven „Politisierungstypen“ bestimmen. Diese sind nach Petrik „auffällige Startschwierigkeiten und Entwicklungshürden der politischen Selbstkompetenzentwicklung in Abhängigkeit von der inhaltlichen Positionierung“ (Petrik 2007: 485). Nehmen wir die kollektiven „Politisierungstypen“ des GK13 als Beispiel: Hier stehen sich libertäre Gemeinschaftsloyalisten und liberale Systemloyalisten gegenüber. Wie ich noch zeigen werde, hatten diese „Politisierungstypen“ in der konstitutiven Dorfversammlungen Startschwierigkeiten (Homogenitäts- und Harmonieillusionen) und Entwicklungshürden („Gemeinschaftszerstörer“ vs. „elitäre Willkürherrschaft“) und konnten demnach die Selbstkompetenzentwicklung aufgrund ihrer „Abgrenzungskämpfe“ nicht sicherstellen.
Dirk Lange verbindet seinen Begriff der „Sinnbildungstypen“ mit dem Begriff des „Bürgerbewusstseins“. „Bürgerbewusstsein“ ist laut Lange die „subjektive Dimension von Politik und Gesellschaft“ (Lange 2007: 8). Der Begriff bezeichnet also die subjektive Wahrnehmung der politischen Wirklichkeit. Ausgehend vom „Bürgerbewusstsein“ entwickelte Lange verschiedene „Sinnbildungstypen“, um das „Bürgerbewusstsein“ diagnostizieren zu können (Lange 2008: 434): „Vergesellschaftung“ (Vorstellungen über die Gesellschaftsintegration), „Wertbegründung“ (Vorstellungen über die Prinzipien, die das Zusammenleben leiten), „Bedürfnisbefriedigung“ (Vorstellungen über die Bedarfsbefriedigung durch Güter), „Gesellschaftswandel“ (Vorstellungen über den sozialen Wandel) und „Herrschaftslegitimation“ (Vorstellungen über den Wandel von Partikularinteressen zu allgemeingültigen Regeln). Diese Typen beeinflussen Lernprozesse, können aber auch durch Lernprozesse verändert werden. Durch diese „Sinnbildungstypen“ kann man Prozesse und Strukturen verständlich machen (vgl. ebd.: 433).
Die „Sinnbildungstypen“ helfen den Lehrenden also, die subjektiven Vorstellungen der SchülerInnen über den politischen Alltag zu entschlüsseln. Die „Politisierungstypen“ geben jedoch die Möglichkeit, eigene „Typen-Definitionen“ zu generieren. Somit ist diese Bestimmungsmöglichkeit deutlich flexibler. Außerdem verbindet Petrik die „Politisierungstypen“ eng mit seinem Kompetenzmodell (vgl. 2.3), sodass sich Lernprogression und –lernhürden systematisch darstellen lassen und sich anschließend das Kompetenzniveau ausgehend von der inhaltlichen Positionierung bestimmen lässt. Lange bleibt jedoch ein bestimmtes Messverfahren schuldig, sodass die Diagnose bei seinen „Sinnbildungstypen“ eher spekulativ ist.
Bevor ich jedoch Petriks Kompetenzmodell vorstelle und die „Politisierungstypen“ bestimme, widme ich mich zunächst der Methode „Lernprozessanalyse“ und skizziere diese knapp (2.). Anschließend werde ich den kollektiven Lernprozess des GK13 beschreiben (3.) und anhand von zwei „Schlüsselstellen“ interpretieren (4.). Im letzten Schritt werde ich systematisierend meine Thesen belegen (5.).
2. Die Methode „Lernprozessanalyse“
2.1 Best-Practice-Forschung zur qualitativen Interpretation von Lernprozessen
Die bisherigen Methoden zur Unterrichtsforschung, Karl Mannheims genetische Methode und Ulrich Oevermanns objektive „Hermeneutik“ (Bohnsack 2000: 97ff.), verbindet Petrik zur Best-Practice-Forschung, „mit dem Ziel, Lernprozesse in einer genetischen Lernumgebung qualitativ zu interpretieren, um das didaktische Setting und seine Hintergrundtheorie auf ihre Tauglichkeit zu prüfen“ (Petrik 2007: 320). Dabei soll es darum gehen, die Lehrstücke (in Petriks Fall die Dorfgründung) gemäß des Best-Practice-Prinzips „zu optimieren“ bzw. Kriterien für neue Konzeptionen zu entwickeln. Darüber hinaus soll so die genetische Theorie weiterentwickelt werden (ebd.: 321).
Im Zentrum stehen laut Petrik vier Leitfragen (ebd.):
1. Welche inhaltliche und argumentative Entwicklungen sind bei „politischen Alltagstheorien“ von Lernenden erkennbar, wenn diese „in einer mikropolitischen Lernumgebung“ ihre Ideen für ein Zusammenleben zur Diskussion stellen?
2. An welchen „Stellen der Unterrichtsdramaturgie“ treten welche Lernprobleme auf?
3. Wie kann das Lehrstück modifiziert werden, um „politische Entdeckungsprozesse zu erleichtern“?
4. Welche Auswirkungen hat dies auf die Theorie der genetischen Politikdidaktik?
Bei Lernprozessen gehen wir von Konzeptwechseln aus, die individuelle Konzepte zugunsten von sozial gewünschten bzw. erwarteten Konzepten modifiziert oder komplett ablöst (vgl. Marotzki 1990: 41). Messbar werden sie durch den „hermeneutischen Dreischritt“, der nun in den Fokus meiner weiteren Betrachtungen treten soll.
Das politische Lehrstück löst also durch das genetische Prinzip diesen Politisierungs- und Lernprozess aus. Die SchülerInnen müssen realistische Probleme lösen, sie werten mit unterschiedlichen Interessen ihrer Klassenkameraden konfrontiert, entwickeln ein pluralistisches Gesellschaftsverständnis und die Kompetenz, ihr Wissen auf die makropolitische Ebene zu transferieren. Sie handeln zunächst in dieser Simulation und werden somit auf das alltagspolitische Handeln vorbereitet (vgl. Spranger 21963: 60). Diese zu bewältigenden Probleme, die sich aus der Ursprungssituation ergeben und die SchülerInnen zum Handeln zwingen, lassen die SchülerInnen neue Seiten an sich und anderen erkennen (vgl. Wagenschein 91991: 45), der anfängliche Verbal-Krieg weicht einer geregelten, respektvollen Diskussion (vgl. Transkript: S. 167/Robert). „Im Mikrokosmos Dorf können politische, rechtliche, wirtschaftliche und gesellschaftliche Elementarfragen und zu demokratischen Prinzipien und Verfahren sowie politischen Grundorientierungen ausgestaltet werden“ (Petrik 2007: 501). Mit Hilfe des „hermeneutischen Dreischritts“ lassen sich die damit verbundenen Lernprozesse analysieren.
2.2 Der „hermeneutische Dreischritt“
Um die „Schlüsselszenen“ (vgl. 4.) interpretieren zu können, werde ich mit dem „hermeneutischen Dreischritt“ (vgl. Kuhn & Massing 1999: 196ff. u.a.) arbeiten. Im ersten Schritt („Verstehen“) werde ich anhand von „Schlüsselszenen“ auf „Besonderheiten“ hinweisen, die ich bei den Themendiskussionen während der konstitutiven Dorfversammlung identifiziert habe. Im zweiten Schritt („Auslegen“) soll es um die „reflektierende Interpretation“ (Bohnsack 2000: 150) gehen. Dabei werde ich anhand der „Schlüsselszenen“ Inhalt (policy), Prozesse (politics) und Ergebnisse (polity) herausstellen und die Kompetenzniveaus (vgl. 2.3) analysieren. Im dritten Schritt („Anwenden“) versuche ich dann eine Typologisierung vorzunehmen (vgl. 5.), um den kollektiven Lernprozess im Merkmalsraum verorten zu können.
2.3 „Vier Niveaus der (alltags-)politischen Auseinandersetzung“: Petriks Kompetenzmodell
Das Kompetenzmodell von Andreas Petrik (vgl. Petrik 2007: 346f.) umfasst einen fünffachen Bildungsgang. Beschränken möchte ich mich bei meiner Analyse jedoch auf die Entwicklung der „mikropolitischen Urteils- und Konfliktfähigkeit“ (ebd.: 346) in der Gruppe (vgl. 4.) und die daraus resultierende Frage, ob durch die Gruppendynamik eine zu verallgemeinernde politische Grundorientierung (nach Petrik als „Selbstkompetenz“ (ebd.: 347) bezeichnet) entstanden ist, die man entsprechend verorten kann (vgl. 3.3 & 5.).
Vier Niveaus lassen sich bei Petriks „Argumentations- und Diskussionskompetenz“ und der „Selbstkompetenz“ (ebd.: 346f.) unterscheiden:
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- Quote paper
- Robert Griebsch (Author), 2009, Das Lehrstück „Dorfgründung“., Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133612
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