Die Rolle von konzeptuellen Informationen während des Vertrautwerdens mit Gesichtern wurde in der bisherigen Forschung im Vergleich zu wahrnehmungsbezogenen Informationen eher vernachlässigt. Dabei spricht sowohl die theoretische Grundlage der Gesichtserkennung als auch bisherige Forschungsergebnisse zum ORE für eine eklatante Rolle semantischer bzw. konzeptueller Informationen. Die vorliegende Arbeit soll die Erforschung des konzeptuellen Ansatzes weiterführen und einen Beitrag zu diesem Forschungsfeld leisten, indem der Fragestellung nachgegangen wird, ob der ORE durch eine konzeptuelle Intervention maßgeblich beeinflusst oder gar beseitigt werden kann. Es wird zunächst die theoretische Grundlage der Thematik aufgeführt und anschließend werden Hypothesen aus der Fragestellung abgeleitet. Hiernach wird das methodische Vorgehen dieser Untersuchung erläutert und berichtet, welche Ergebnisse die Studie hervorgebracht hat und was sich daraus für die Thematik und für zukünftige Forschung ableiten lässt.
Jüngste Untersuchungen zum Other-‘Race’-Effekt (Gesichter der eigenen Ethnie werden besser wiedererkannt als Gesichter anderer Ethnien) zeigen, dass die Rolle konzeptueller Informationen intensiver erforscht werden sollte, da sie einen mindestens genauso wichtigen Einfluss auf den ORE zu haben scheinen, wie die gut erforschte visuelle Expertise. In dieser Untersuchung (N = 281) wurden weiße Testpersonen auf ihre Wiedererkennungsleistung (Sensitivität d‘) für weiße und MENAT-Gesichter getestet.
Dabei bekam ein Teil der Stichprobe (n = 131) eine konzeptuelle Instruktion („Wem sieht diese Person ähnlich?“) in der Lernphase. Verglichen wurde diese Stichprobe mit einer Kontrollgruppe (n = 150). Es wurde zum einen untersucht, ob das Ausmaß des ORE in der Kontrollgruppe größer ist als in der Interventionsgruppe (H1). Zum anderen wurde getestet, ob in der Kontrollgruppe OR-Stimuli besser erkannt werden als SRStimuli (H2) und ob es in der Interventionsgruppe keinen Unterschied in der Wiedererkennungsleistung zwischen OR- und SR-Stimuli gibt (H3). Eine gemischte ANOVA im 2 (Instruktion vs. Kontrollgruppe) x 2 (weiße vs. MENATStimulusgesichter)
Inhaltsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Zusammenfassung
Abstract
1. Einleitung
2. Theorie
2.1 Stand der Forschung
2.1.1 Grundlagen der Gesichtserkennung
2.1.2 Erklärungsmodelle und theoretische Ansätze zum ORE
2.2 Fragestellung/Hypothesen
3. Methodik
3.1 Stichprobe
3.2 Vorgehen und Material
3.2.1 Stimuli
3.2.2 Lernphase
3.2.3 Wiedererkennungsphase
3.2.4 Erfassung relevanter Variablen
3.2.5 Weitere Instrumente
3.2.6 Datenanalyse
4. Ergebnisse
4.1 Deskriptive Ergebnisse
4.1.1 Manipulationscheck
4.1.2 Abhängige Variable.
4.2 Inferenzstatistische Ergebnisse
4.2.1 Voraussetzung der inferenzstatistischen Verfahren
4.2.2 Ergebnisse zum Interaktionseffekt (H1)
4.2.3 Ergebnisse der Follow-up t-Tests (H2 und H3)
4.2.4 Explorative Datenanalyse
4.3 Zusammenfassung der Ergebnisse
5. Diskussion
5.1 Interpretation der Ergebnisse vor dem theoretischen Hintergrund
5.2 Limitationen
5.3 Theoretische und praktische Implikationen
5.4 Fazit
Literaturverzeichnis
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1 Formeln zur Berechnung der Hit-Rate, False Alarm-Rate und d‘
Tabelle 2 Häufigkeitsverteilung des Antwortverhaltens auf den Manipulationscheck in der Interventionsgruppe
Tabelle 3 Deskriptive Eigenschaften der Variablen Sensitivität d‘ und ORE für die Kontrollgruppe
Tabelle 4 Deskriptive Eigenschaften der Variablen Sensitivität d‘ und ORE für die Interventionsgruppe
Tabelle 5 Mittlere Sensitivität d‘ und ORE für alle Bedingungen
Tabelle 6 Mittlere Hit-Werte für alle Bedingungen
Tabelle 7 Mittlere False Alarm-Werte für alle Bedingungen
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1 Funktionales Model der Gesichtswiedererkennung (Bruce & Young, 1986, S. 312)
Abbildung 2 Beispiele für verwendetes Bildmaterial
Abbildung 3 Stimulusbilder in der Wiedererkennungsphase
Abbildung 4 Codierungsmatrix nach Antwortverhalten auf Stimulusbild
Abbildung 5 Wahrscheinlichkeit der Signalwahrnehmung in Abhängigkeit der Signalintensität
Abbildung 6 Interaktionseffekt der gemischten 2x2 ANOVA
Abbildung 7 Ausmaß des ORE in der Interventions- vs. Kontrollgruppe
Abkürzungsverzeichnis
CIM Kategorisierungs-Individuations-Modell
FRU’s Face Recognition Units
MENAT Middle Eastern, North African and Turkish
OR Other Race
ORE Other-‚Race‘-Effect
PIN’s Personal Identity Nodes
SR Same Race
Zusammenfassung
Jüngste Untersuchungen zum Other-‘Race’-Effekt (Gesichter der eigenen Ethnie werden besser wiedererkannt als Gesichter anderer Ethnien) zeigen, dass die Rolle konzeptueller Informationen intensiver erforscht werden sollte, da sie einen mindestens genauso wichtigen Einfluss auf den ORE zu haben scheinen, wie die gut erforschte visuelle Expertise. In dieser Untersuchung (N = 281) wurden weiße Testpersonen auf ihre Wiedererkennungsleistung (Sensitivität d‘) für weiße und MENAT-Gesichter getestet. Dabei bekam ein Teil der Stichprobe (n = 131) eine konzeptuelle Instruktion („Wem sieht diese Person ähnlich?“) in der Lernphase. Verglichen wurde diese Stichprobe mit einer Kontrollgruppe (n = 150). Es wurde zum einen untersucht, ob das Ausmaß des ORE in der Kontrollgruppe größer ist als in der Interventionsgruppe (H1). Zum anderen wurde getestet, ob in der Kontrollgruppe OR-Stimuli besser erkannt werden als SR-Stimuli (H2) und ob es in der Interventionsgruppe keinen Unterschied in der Wiedererkennungsleistung zwischen OR- und SR-Stimuli gibt (H3). Eine gemischte ANOVA im 2 (Instruktion vs. Kontrollgruppe) x 2 (weiße vs. MENAT-Stimulusgesichter) Design und anschließende t-Test Analysen bestätigten sowohl die Interaktionshypothese als auch die erwarteten Mittelwertunterschiede innerhalb der Gruppen. Es konnten somit alle Hypothesen bestätigt werden, wenn auch mit kleinen Effekten. Eine anschließende explorative Analyse konnte zeigen, dass die signifikanten Unterschiede in d‘ durch Unterschiede in den False Alarm-Werten zustande kamen. Diese Ergebnisse unterstützen die Annahme, dass konzeptuelle Informationen zu einer Verringerung des ORE beitragen können und geben Anlass dazu, dies auch in zukünftigen Untersuchungen weiterzuerforschen und die Rolle von konzeptuellen Informationen in den jüngsten theoretischen Erklärungsmodellen (z. B. CIM) noch besser zu integrieren.
Schlüsselwörter: Other-Race-Effekt, Gesichtserkennung, konzeptuelle Intervention
Abstract
Recent research on the other-race effect (faces of one's own ethnicity are recognized better than faces of other ethnicities) recommend that the important influence of conceptual information should be explored more intensively, as it seems to have at least as important an impact on ORE as the well-researched visual expertise. In this study (N = 281), white subjects were tested on their recognition performance (sensitivity d') for white and MENAT-faces. One sample (n = 131) received a conceptual instruction ("Who does this person look like?") in the learning phase. This sample was compared with a control group (n = 150). First, it was examined whether the extent of ORE was greater in the control group than in the intervention group (H1). Second, the assumptions that OR-stimuli are better recognized than SR-stimuli in the control group (H2) and that there is no difference in recognition performance between OR- and SR-stimuli in the intervention group (H3) were tested. A mixed ANOVA in 2 (instruction vs. control group) x 2 (white vs. MENAT) design and subsequent t-test analyses confirmed all three hypotheses, but all with small effects. A subsequent exploratory analysis showed that the significant differences in d' were due to differences in the false alarm values. These results support the assumption that conceptual information can contribute to a reduction of ORE and give reason to further explore this in future studies and to better integrate the role of conceptual information in recent theoretical explanatory models (e.g., CIM).
Keywords: other-race-effect, face recognition, conceptual intervention
1. Einleitung
„Eure Landsleute sehen alle gleich aus.“ Eine Aussage, die nicht selten fällt, wenn Personen andere Individuen zu beschreiben versuchen. In den meisten Fällen ist davon auszugehen, dass diese Äußerung vom Kommunikator nicht aus mangelndem Respekt dem Gegenüber geäußert wird. Jedoch kann dies beim Empfänger auf Unverständnis und Kränkung stoßen. Dabei ist der Kommunikator vermutlich nur ehrlich, wenn auch im Falle einer solchen Äußerung, unsensibel. Es scheint jedenfalls Gründe zugeben, weshalb Gesichter der eigenen Ethnie bzw. der Same Race (SR) besser erkannt und unterschieden werden als solche von fremden Ethnien bzw. der Other Race (OR). In der Wissenschaft ist dieses Phänomen unter anderem als Other-‚Race’-Effekt (ORE) bekannt und wird bereits seit über 50 Jahren erforscht (Allport, 1954; Malpass & Kravitz, 1969). Der ORE gehört zu den am erfolgreichsten replizierten und robustesten Phänomenen der Gesichtswahrnehmung (Meissner & Brigham, 2001) und wird in der Literatur unter verschiedenen Bezeichnungen aufgeführt. Unter anderem wird der ORE auch als Other-‚Race‘-Bias oder Cross-‚Race‘-Effect tituliert. Um sich jedoch mit der Mehrheit der Veröffentlichungen einheitlich zu zeigen, wurde sich bei dieser Arbeit für die Bezeichnung Other-‚Race‘-Effect entschieden.
Es steht außer Frage, dass Gesichter die wichtigsten visuellen Reize sind, die wir wahrnehmen. Gesichter erkennen zu können, gehört zu den am weitesten entwickelten visuellen Wahrnehmungsfähigkeiten des Menschen (Haxby et al., 2000). Bereits Säuglinge zeigen beim Wahrnehmen ihrer Umgebung eine deutliche Präferenz für Gesichter. Sobald wir das Gesicht einer Person sehen, können wir daraus Schlüsse z. B. über ihre Ethnie, ihr Alter oder ihre Stimmung ziehen (Tsao & Livingstone, 2008). Unsere Fähigkeit Gesichter zu erkennen ist ein essenzieller Teil unserer alltäglichen zwischenmenschlichen Interaktionen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass die meisten Gesichter im Kontext von sozialen Interaktionen betrachtet werden. Sie liefern eine Fülle von Informationen und sind, da wir Informationen auf unseren Kommunikationspartner abstimmen müssen, für das soziale Zusammenleben mit anderen unabdingbar (Haxby et al., 2000). Andernfalls können für alle Beteiligten unangenehme Situationen und Beeinträchtigungen entstehen. Wie entscheidend unsere Fähigkeit Gesichter zu erkennen für Menschen ist, zeigt sich z. B. an Personen, welche an Prosopagnosie leiden, auch bekannt als „Gesichtsblindheit“ (Goldstein, 1989). Betroffene sind, entweder von Geburt an oder aufgrund von Beschädigung von bestimmten Gehirnarealen, nicht in der Lage, vertraute Gesichter von fremden zu unterscheiden (Goldstein, 1989). Es leiden ca. zwei Prozent der Bevölkerung an diesem kognitiven Störungsbild. Diese Personen sind häufig auf Eselsbrücken und verschiedene praktische Methoden angewiesen, um im Alltag adäquat mit ihren Mitmenschen interagieren zu können. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass ein Defizit in der Fähigkeit Gesichter voneinander zu unterscheiden, unweigerlich ein gravierendes Problem für das soziale Leben darstellt. Prosopagnosie betrifft zwar einen kleinen Anteil der Weltbevölkerung, der Einfluss der Ethnie auf die Gesichtserkennung hingegen nicht. Denn im Zeitalter der Globalisierung, Klima- und Flüchtlingskrisen ist der ständige Kontakt mit anderen Kulturen und Ethnien nahezu unausweichlich. Hinzu kommt, dass der Faktor Ethnie die interpersonalen Interaktionen, mit Hinblick auf gesellschaftlich relevante und emotional aufgeladene Themen wie Rassismus, noch komplizierter gestalten kann (DeGutis et al., 2014).
Doch nicht nur alltägliche soziale Interaktionen mit anderen Personen können negativ vom ORE beeinflusst werden. Verheerendere Konsequenzen können beispielsweise Augenzeugenaussagen (Wells & Olson, 2001; Brigham & Malpass, 1985) bei gerichtlichen Prozessen oder Ungenauigkeiten beim Abgleichen von Gesichtern, z. B. bei Passkontrollen an Flughäfen (Megreya et al., 2011), nach sich ziehen. Vor allem Ersteres kann das Leben der Beteiligten bzw. Betroffenen maßgeblich beeinflussen. Wells und Olson (2001) nach sind falsche Augenzeugenaussagen ein häufiges Ereignis im Strafverfolgungssystem, was daran liegt, dass das Erinnern von Ereignissen, das Identifizieren von Verdächtigen und das Erkennen von Gesichtern Individuen vor Probleme stellt und sie anfällig für Verzerrungen macht. Eine unschuldige Person kann versehentlich als TäterIn, ebenso ein/e TäterIn fälschlicherweise als unschuldig identifiziert werden. Umso gravierender ist die Tatsache, dass trotz dessen ein großer Einfluss von Zeugenaussagen auf Geschworene zu beobachten ist und dass sich die Strafjustiz verschiedenster Länder in der Mehrheit der Fälle auf solche Identifizierungen stützt (MacLin et al., 2001). Auch wenn diesbezüglich mehrere Einflussfaktoren in der Literatur genannt werden, so stellt auch die Ethnie einen maßgeblichen Einflussfaktor dar (Wells & Olson, 2003). Als Beispiel ist die Untersuchung von Smith et al. (2004) zu nennen. In dieser Studie konnten die AutorInnen demonstrieren, dass kaukasische Teilnehmende besser darin waren, ebenfalls kaukasische Kriminelle auf Videoaufnahmen korrekt zu identifizieren im Vergleich zu schwarzen Kriminellen. Auch wenn solche Ergebnisse nicht bedeuten, dass der ORE die alleinige Ursache für falsche Identifizierungen ist, liefern sie dennoch wichtige Hinweise darauf, dass es dieses Problem begünstigen kann. Es ist unwahrscheinlicher, dass Augenzeugen Personen ihrer eigenen Ethnie falsch identifizieren, als Personen einer anderen Ethnie (Wells & Olson, 2001). Aus diesem Anlass ist das große und zunehmende Interesse an dem Phänomen gerechtfertigt. Es ist notwendig, die Mechanismen des ORE zu verstehen, sie zu mildern oder bestenfalls abzuschalten (Hugenberg et al., 2007).
Eine Durchforstung der bisherigen Studien zum ORE lässt schnell feststellen, dass bisher hauptsächlich Personen miteinander verglichen wurden, die den Ethnien „weiß“ und „schwarz“ zugeordnet werden können. Dies ist zumindest in den Studien mehrheitlich der Fall, die im englischsprachigen Raum erfasst wurden. Untersuchungen von anderen ethnischen Gruppen sind zwar seltener, aber dennoch vorhanden und zeigen vergleichbare Ergebnisse. Gesichter der SR werden besser erkannt als Gesichter der OR (Platz & Hosch, 1988). Folglich ist der ORE nicht nur bei spezifischen Ethnien vorzufinden, sondern betrifft immerhin jene, die bisher untersucht wurden. In einer Studie in Deutschland mit deutschen und türkischen Testpersonen konnte ein Wechselwirkungseffekt zwischen der Stimulusethnie und der Ethnie der Teilnehmenden festgestellt werden (Sporer, 1999, zitiert nach Chiroro et al., 2008). In der Gruppe der türkischstämmigen Testpersonen konnte kein signifikanter Unterschied zwischen der Wiedererkennungsleistung zwischen SR-Gesichtern und OR-Gesichtern festgestellt werden, wohingegen in der Stichprobe der deutschen Teilnehmenden SR-Gesichter bedeutsam besser erkannt wurden als OR-Gesichter. Auch die AutorInnen Platz und Hosch (1988) untersuchten in einer Feldstudie Angestellte (N = 86) aus Lebensmittelgeschäften, indem sie diese darum baten, weiße, schwarze und lateinamerikanische Kunden zu identifizieren, die zwei Stunden zuvor das Geschäft besucht hatten. Dass die SR besser erkannt wurde, traf dabei auf weiße und lateinamerikanische Kunden zu, nicht jedoch auf schwarze, da diese keine bedeutsamen Unterschiede zeigten. Kritik lässt sich jedoch an den ungleichen Stichprobengrößen üben.
Zusammengefasst haben sich auf der Suche nach Einflussfaktoren, die den ORE begünstigen können, verschiedene Paradigmen und theoretische Ansätze entwickelt. Die Rolle von konzeptuellen Informationen während des Vertrautwerdens mit Gesichtern wurde in der bisherigen Forschung im Vergleich zu wahrnehmungsbezogenen Informationen eher vernachlässigt. Dabei spricht sowohl die theoretische Grundlage der Gesichtserkennung als auch bisherige Forschungsergebnisse zum ORE für eine eklatante Rolle semantischer bzw. konzeptueller Informationen. Die vorliegende Arbeit soll die Erforschung des konzeptuellen Ansatzes weiterführen und einen Beitrag zu diesem Forschungsfeld leisten, indem der Fragestellung nachgegangen wird, ob der ORE durch eine konzeptuelle Intervention maßgeblich beeinflusst oder gar beseitigt werden kann. Es wird zunächst die theoretische Grundlage der Thematik aufgeführt und anschließend werden Hypothesen aus der Fragestellung abgeleitet. Hiernach wird das methodische Vorgehen dieser Untersuchung erläutert und berichtet, welche Ergebnisse die Studie hervorgebracht hat und was sich daraus für die Thematik und für zukünftige Forschung ableiten lässt.
2. Theorie
2.1 Stand der Forschung
Dieser Abschnitt befasst sich mit der zugrundeliegenden Theorie der Thematik. Dazu wird zunächst betrachtet, wie Gesichtserkennung funktioniert und welche Erklärungsmodelle bzw. theoretischen Ansätze auf Basis dieses Wissens bisher für den ORE abgeleitet wurden. Dabei soll auf zwei große Theoriefamilien (visuellen Expertise und sozial-motivationale-Prozesse) eingegangen werden. Anschließend wird ein neuer und integrativer Theoriezweig, mit entsprechenden Modellen, näher betrachtet. Darauf aufbauend wird der Fokus auf den konzeptuellen Ansatz der Gesichtserkennung gelegt, indem bisherige Befunde erörtert werden. Anschließend wird die zentrale Forschungsfrage der Arbeit abgeleitet.
2.1.1 Grundlagen der Gesichtserkennung
Auf welche Art und Weise Gesichtserkennung funktioniert, wird anschaulich von Bruce und Young (1986) erklärt. Dieses Modell, das zur Erklärung der Gesichtsverarbeitung entwickelt wurde, kann als eines der meinungsbildenden Modelle, zur Auffassung der beteiligten kognitiven Abläufe während der Gesichtsverarbeitung, bezeichnet werden. Aufgrund zahlreicher Evidenz durch wissenschaftliche Erprobung und aus dem bisherigen Erkenntnisstand der Neurophysiologie, tätigen Bruce und Young (1986) die Annahme, dass bei dem Vorgang der Gesichtsverarbeitung verschiedene Prozesse beteiligt sind, die sowohl zeitgleich als auch nacheinander ablaufen. Die AutorInnen fassen zusammen, dass es sieben verschiedene Arten von Informationen gibt, welche Menschen aus Gesichtern ableiten können. Bruce und Young (1986) bezeichnen diese als unterschiedliche Informationscodes und unterscheiden zwischen folgenden: bildliche, strukturelle, visuell abgeleitete semantische, identitätsspezifische semantische, Namens-, Ausdrucks- und Gesichtssprachcodes. Jegliche Art von Verwendungsmöglichkeiten von Gesichtsinformationen können den AutorInnen zufolge durch diese Codes abgedeckt werden. Beim Erkennen von bekannten Gesichtern seien in erster Linie strukturelle, identitätsspezifische semantische Codes und Namenscodes involviert. Bildliche, mimische und sprachliche Codes hingegen würden eine eher untergeordnete Rolle beim Erkennen einnehmen. Darauf aufbauend wird als erster Schritt im gesamten Prozess die strukturelle Verarbeitung aufgeführt. Dieser Schritt sorgt demnach dafür, dass ein Gesicht als solches wahrgenommen und eingeordnet wird. Was daraufhin folgt, sind unterschiedliche Subprozesse, welche die weiterführende Verarbeitung des Reizes bestimmen. Diese Prozesse können auch parallel stattfinden. Eine wichtige Kernannahme ist, dass variable Gesichtsmerkmale von Gesichtsmerkmalen, welche unabhängig vom Gesichtsausdruck sind, getrennt werden (Bruce & Young, 1986). Hierbei werde auch die Qualität beider Merkmale differenziert. Weitere Verarbeitungsschritte sind die Verarbeitung von Perspektiven/Blickrichtungen des wahrgenommenen Gesichtes und die Verarbeitung von veränderbaren Aspekten des Gesichtes (z. B. Mimik oder visuell abgeleitete semantische Informationen wie Alter oder Geschlecht). Ein weiterer Teilschritt, der gesondert verläuft und von der Verarbeitung variabler Faktoren unabhängig ist, ist die von der Mimik losgelöste Beschreibung, durch welche merkmalsbezogene Informationen über den Gesichtsreiz gewonnen werden.
Um nun den Prozess des Wiedererkennens von bekannten Gesichtern zu erläutern, sprechen die AutorInnen von einer zweiten entscheidenden Stufe, bei der von einer eigenen Gesichtserkennungseinheit, den sogenannten face recognition units (FRU’s), die Rede ist. Die FRU‘s stellen demzufolge eine abstrakte und schnell arbeitende Form der Verarbeitung dar. Das funktionale Model zu dieser Theorie ist in Abbildung 1 zu sehen. Innerhalb kürzester Zeit werden eingehende Informationen mit bekannten Gesichtern, welche in eben diesem Teil des Gedächtnisses (FRU’s) gespeichert sind, verglichen. Dabei nutzt dieser Mechanismus strukturelle Ähnlichkeiten wie z. B. die Form der Nase (besonders breit oder distinkt) und gleicht sie mit bereits abgespeicherten Gesichtern ab. Erst im nächsten Schritt werden biografische Informationen (z. B. Beruf, Kontext) durch sogenannte Person Identity Nodes (PIN’s) mit einbezogen. Schlussendlich wird dann aus dieser Informationszusammensetzung innerhalb kürzester Zeit ein Name generiert. (z. B. auffällige Glatze à Schauspieler in einem Actionfilm à Dwayne „The Rock“ Johnson). Es lässt sich also festhalten, dass in einem bestimmten Areal in unserem Gehirn visuelle Repräsentationen von vertrauten Gesichtern gespeichert werden, mit der Besonderheit, dass diese Einheit getrennt ist von den damit verbundenen begrifflichen Informationen (wie z. B. Name, Geschlecht oder andere semantische Informationen) über diese Gesichter (Schwartz & Yovel, 2019).
Ergänzend zu diesem Modell und naheliegend scheinen auch die Berichte von Olson et al. (2013). Die AutorInnen sprechen von vermehrten Hinweisen darauf, dass sogenannte face patches im ventralen und vorderen Temporallappen dafür sorgen, dass komplexe und visuelle Repräsentationen von Gesichtern und sozial relevanten semantischen Informationen ineinander integriert werden. Dabei sollen Neuronen, die in diesem Areal des Gehirnes angesiedelt sind, eminent sensibel auf bereits kleinste Wahrnehmungsunterschiede reagieren, wodurch die Identität von neuen bzw. unbekannten Gesichtern von anderweitigen unterschieden werden können (Nestor et al., 2011). Zusätzlich soll eine erhöhte Aktivität in diesem Bereich zu beobachten sein, wenn Gesichter in Kombination mit spezifischen konzeptuellen Informationen verarbeitet werden. Die AutorInnen weisen dabei auf ähnliche Ergebnisse aus einer interessanten Studie hin (Eifuku et al., 2010), bei der eine bestimmte Primatengattung (Makaken) ebenfalls hinsichtlich ihres ventralen Temporallappen untersucht wurden. Auch bei diesen Tieren stellen die Neuronen in diesem Gehirnareal Verknüpfungen zwischen der Identität von Gesichtern und abstrakten semantischen Informationen her.
Abbildung 1 Funktionales Model der Gesichtswiedererkennung (Bruce & Young, 1986, S. 312)
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Anmerkung. Zur Hervorhebung wurden hier die Prozessschritte eingekreist, die für die Erkennung von bereits bekannten Gesichtern entscheidend sind.
Der theoretischen Grundlage von Bruce und Young (1986) entsprechend, nach welcher visuelle und begriffliche Informationen über bekannte Gesichter gesondert voneinander gespeichert werden, hat sich die Mehrheit bisheriger Studien (z. B. Rhodes et al., 1989; Ritchie & Burton, 2017), welche die Repräsentation von bekannten Gesichtern untersucht haben, hauptsächlich auf die entwicklungsbedingten und wahrnehmungsbezogenen Unterschiede in der Verarbeitung von Gesichtern konzentriert (Young et al., 2012). Die Rolle von konzeptuellen Informationen, während des Vertrautmachens mit einem neuen Gesicht, wurde in der Vergangenheit überwiegend vernachlässigt (Schwartz & Yovel, 2019). Daraus haben sich im Laufe der Zeit verschiedene Erklärungsmodelle entwickelt. Nachfolgend soll darauf eingegangen werden.
2.1.2 Erklärungsmodelle und theoretische Ansätze zum ORE
Eine Übersicht über 30 Jahre Forschung zum ORE lieferten Meissner und Brigham (2001). Den beiden Autoren gemäß lassen sich in der Forschung bis 2001 folgende theoretische Ansätze zusammenfassen: Racial Attitudes, Physiognomic Homogeneity, Interracial Contact und Perceptuell Learning. Nach aktuellem Forschungsstand können die vielfältigen Theoriezweige allgemein in Erklärungsmodelle des Wahrnehmungslernens und in sozial-kognitive bzw. motivationale Modelle unterteilt werden (Young et al., 2012; Hugenberg et al., 2010).
Visuelle Expertise und sozial-motivationaler Ansatz. Sowohl sozial-motivationale Prozesse als auch der Prozess der visuellen Expertise wurden bisher zur Erklärung des ORE vorgeschlagen, wobei zu Letzterem bisher die meisten Forschungsbefunde und Theorien zu finden sind (Bernstein et al., 2007). Unter dem wahrnehmungsbezogenen Ansatz lassen sich die Theorien zu repräsentativen, entwicklungsbedingten und wahrnehmungsbezogenen Asymmetrien bei der Gesichtsverarbeitung zusammenfassen. Die Annahme ist, dass Individuen Experten werden können, wenn es um die Unterscheidung von Merkmalen gleichartiger (selbe Ethnie) Gesichter geht. Dies geschieht, wenn sie mehr Kontakt zu Mitgliedern ihrer eigenen „Rasse“ haben als zu Mitgliedern anderer „Rassen“ (Malpass & Kravitz, 1969). Daher wird auch davon ausgegangen, dass vermehrter Kontakt mit Gruppen einer anderen Ethnie zu einer verbesserten Wiedererkennungsleistung für Gesichter dieser Ethnie führt (Chance et al., 1975). Umgekehrt führt ein mangelnder Kontakt mit Menschen anderer Ethnien zu einem Defizit an Wahrnehmungserfahrung mit eben diesen, was wiederum in einer unzureichenden Verarbeitung und Kodierung endet. Als Folge werden Gesichter anderer Rassen schlechter wiedererkannt, so die Theorie (Rhodes et al., 1989; Young et al., 2012).
Ein anderer Erklärungsansatz für den ORE fokussiert sich auf sozial-motivationale Prozesse, welche sich in jüngerer Zeit an gesteigertem Forschungsinteresse erfreuen können (Hugenberg et al., 2007; MacLin et al., 2001; Meissner et al., 2005). Dieser Ansatz verfolgt die Annahme, dass Individuen Gesichter fremder Ethnien auf einer unspezifischen und gruppenbezogenen Stufe verarbeiten, welches deutlich weniger kognitive Ressourcen in Anspruch nimmt und mit weniger Aufwand verbunden ist. Im Gegensatz dazu ist die Vorhersage, dass Gesichter der eigenen Ethnie kognitiv aufwändiger individualisiert verarbeitet werden. Entscheidend ist bei diesem Ansatz die Motivation, einem Mitglied der eigenen Gruppe mehr Aufmerksamkeit zu schenken und aufgrund dessen diese auch besser zu kodieren und zu verarbeiten als Mitglieder einer fremden Gruppe. Diese Motivation wird durch das Bedürfnis nach Zugehörigkeit getrieben, welches in der Regel Mitglieder der eigenen Gruppe erfüllen können (Bernstein et al., 2007). Verzerrungen in der Gesichtswahrnehmung werden bei diesem Ansatz daher einer unterschiedlichen Verarbeitung von In- und Outgroup Mitgliedern, aufgrund von unterschiedlicher Motivation, zugeschrieben. Die grundlegende Fähigkeit Gesichter unabhängig davon ob sie der eigenen Ethnie oder einer anderen Ethnie angehören, zu unterscheiden, ist nach diesem Ansatz daher vorhanden. Der entscheidende Faktor ist, dass Personen diese Fähigkeit bei der Verarbeitung von Gesichtern fremder Ethnien nicht anwenden. Im Gegensatz dazu postulieren Theorien der visuellen Expertise, dass die Fähigkeit Gesichter der eigenen Ethnie gut zu verarbeiten, erst im Laufe des Lebens erworben wird. Ursache sind bei diesem Ansatz daher Defizite beim Lernen und Wahrnehmen (Young et al., 2012).
Hybride Erklärungsmodelle. Trotz der augenscheinlichen Einfachheit des ORE, welcher mittlerweile seit einem halben Jahrhundert erforscht wird (Malpass & Kravitz, 1969), hat sich das Herausarbeiten eines einzigen ursächlichen Mechanismus für die Entstehung des ORE als schwierig herausgestellt. Beide theoretischen Ansätze, sowohl wahrnehmungsbezogene Expertise als auch sozial-kognitive Modelle, konnten bisher einen gewissen Varianzanteil des ORE gut erklären (Young et al., 2012). Im vorherigen Abschnitt wurde auf beide übergeordneten Theoriefamilien eingegangen. Dem Ansatz der visuellen Expertise nach entsteht der ORE im Kern durch die Erfahrung eines Individuums mit der eigenen und/oder anderen Ethnien. Der sozial-motivationale Ansatz hingegen postuliert, dass der ORE in Abhängigkeit der Motivation entsteht, Gesichter anderer Ethnien zu individualisieren. Die Erfahrung mit anderen Ethnien spielt keine Rolle. Dennoch weisen beide Theoriefamilien auch Schwierigkeiten und Grenzen auf, wenn es darum geht, die entscheidenden Mechanismen des Effektes unabhängig voneinander aufzuzeigen (Young et al., 2012). Gemäß den Autoren Young et al. (2012) gäbe es Forscher, die argumentieren, dass ein Mangel an Motivation oder Expertise für sich nicht ausreiche, um den ORE zu erklären. Angesichts dieser Tatsache wurden neue hybride Erklärungsmodelle postuliert, welche versuchen, sowohl die visuelle Expertise als auch sozial-kognitive und motivationale Prozesse zu einem integrativen Erklärungsansatz zu vereinen. Zu nennen sind an dieser Stelle vor allem das Ingroup-/Outgroup-Modell (Sporer, 2001), das Dual-Process-Modell (Meissner et al., 2005) und das Kategorisierungs-Individuations-Modell (CIM) (Hugenberg et al., 2010).
Das Erklärungsmodell von Sporer (2001) verfolgt die Grundannahme, dass die weitere Verarbeitung eines Gesichtes davon abhängig ist, ob das Gesicht als Ingroup (Eigengruppe) oder Outgroup (Fremdgruppe) wahrgenommen wird. Durch die Zuordnung zu einer dieser Kategorien, findet eine unterschiedliche Verarbeitung statt, was eine bessere bzw. schlechtere Wiedererkennungsleistung zur Folge hat. Es wird davon ausgegangen, dass Ingroup-Gesichter holistischer und Outgroup-Gesichter merkmalsorientiert verarbeitet werden.
Das ebenfalls hybride Dual-Process-Modell von Meissner et al. (2005) zur Gesichtserkennung postuliert, dass es zwei verschiedene Gedächtnisprozesse gibt, welche das Entscheidungsverhalten bei klassischen Wiedererkennungstests für Gesichter beeinflussen, eine auf Vertrautheit und eine auf Erinnerung basierende Verarbeitung. Dabei wird Letztere mit einem höheren kognitiven Aufwand in Verbindung gebracht. Mit Hinblick auf den ORE besagt dieses Modell, dass Gesichter der SR den aufwändigeren Verarbeitungsweg der Erinnerung durchlaufen, wohingegen OR-Gesichter aufgrund ihrer fehlenden sozialen Bedeutung oberflächlicher verarbeitet werden und daher lediglich auf das Gefühl der Vertrautheit zurückgegriffen wird, um zu entscheiden, ob ein Gesicht bereits bekannt oder neu ist (Young et al., 2012).
Das jüngste Modell, welches versucht, beide Theoriefamilien zu integrieren und als Erklärung für den ORE vorgeschlagen wird, ist das Kategorisierungs-Individuations-Modell (CIM) von Hugenberg et al. (2010). Im Mittelpunkt des CIM steht die gut belegte Annahme, dass Gesichter auf zwei verschiedene Arten während der Enkodierung verarbeitet werden, mit Kategorisierung und Individuation. Unter Individuation wird der Prozess der Unterscheidung zwischen zwei Entitäten einer Kategorie verstanden. Kategorisierung soll hingegen als die Zuordnung unterschiedlicher Entitäten zu einer übergeordneten Kategorie verstanden werden. Mit dieser Komponente, der sozialen Kategorisierung, soll das Augenmerk auf die Schwierigkeit gelegt werden, Gesichter fremder Ethnien zu unterscheiden. Als mögliche Ursache für diese Problematik werden kategorie- und identitätsdiagnostische Prozesse bei Gesichtern fremder Ethnien genannt. Der Faktor Expertise, welcher als Wahrnehmungserfahrung zu verstehen ist, wird ebenfalls mit einer besseren bzw. schlechteren Wiedererkennungsleistung in Verbindung gebracht. Machen Personen mehr visuelle Erfahrung mit Gesichtern ihrer eigenen Ethnie, kann das zu einer besseren Wiedererkennungsleistung für diese Gesichter führen. Ebenso kann eine schlechtere Wiedererkennungsleistung für Gesichter anderer Ethnien mit einer mangelnden Erfahrung bzw. mit begrenztem Kontakt mit Gesichtern anderer Ethnien begründet werden. Im Gegensatz zu den anderen Modellen geht das CIM von Hugenberg et al. (2010) davon aus, dass ein weiterer dritter Prozess, die Motivation, ebenfalls eine feste Rolle spielt. Diesem Faktor wird insofern ein relevanter Einfluss nachgesagt, als die Wiedererkennungsleistung für Gesichter fremder Ethnien verbessert werden kann, wenn eine Person dazu motiviert/animiert wird, Gesichter anderen Ethnien auf der Ebene der Identität genauso gut zu unterscheiden, wie Gesichter der eigenen Ethnie. Zusammengefasst wird der ORE durch ein Zusammenspiel aus sozialer Kategorisierung, Expertise und Motivation des Wahrnehmenden in der Gesichtsverarbeitung erklärt. Betont wird vor allem, dass eine Kombination aus Erfahrung/Kontakt mit anderen Ethnien und induzierte Motivation den ORE dahingehend beeinflussen, dass sie ihn verringern, indem Gesichter andere Ethnien besser wiedererkannt werden. Unabhängig voneinander könne allerdings keiner dieser beiden Faktoren eine ähnlich bedeutsame Verbesserung bewirken wie im Zusammenspiel (Hugenberg et al., 2010).
Es lässt sich schlussfolgern, dass alle drei Modelle verbindet, dass sie im Kern versuchen, beide Theoriefamilien zu vereinen. Sie unterscheiden sich jedoch in bestimmten Merkmalen und gehen von unterschiedlichen zugrundeliegenden Mechanismen aus, was auch jeweils eigene Stärken und Schwächen hervorbringt (Young et al., 2012). Das CIM, welches das jüngste entwickelte Modell darstellt, wird von Young et al. (2012) als am umfassendsten eingeschätzt. Unter anderem aus dem besonderen Grund, da das Modell vorhersagt, dass die Nutzung der Expertise in Abhängigkeit der Motivation eingesetzt wird und dementsprechend variiert.
Einordnung des konzeptuellen Ansatzes . Der konzeptuelle Ansatz ist am ehesten dem sozial-motivationalen bzw. kognitiven Theoriezweig zuzuordnen. Jedoch, trotz vielversprechender und vermeintlicher Ganzheitlichkeit dieser Modelle (vor allem des CIM), wird die Rolle von semantischen Informationen bei der Entstehung des ORE, nach wie vor in keines dieser Erklärungsansätze ausreichend hervorgehoben und gewürdigt. Dabei konnte die entscheidende Rolle semantischer Informationen beim Lernen von Gesichtern nicht nur theoretisch erklärt (Bruce & Young, 1986), sondern auch mehrfach in Untersuchungen gezeigt werden (z. B. Eifuku et al., 2010; Olsen et al., 2013). Schwartz und Yovel (2016) beispielsweise haben sich der Untersuchung des Einflusses von konzeptuellen Informationen auf die Gesichtserkennungsleistung gewidmet. In ihrer Studie sollten Teilnehmende zum Erlernen von Gesichtern diese mit einer personenbezogenen Bezeichnung (z. B. Name) in Assoziation setzen, um damit eine konzeptuelle Manipulation zu bewirken. Im Vergleich dazu, wurden auch Gesichter gelernt, die mit keinerlei Bezeichnungen versehen wurden. Die Ergebnisse zeigten, dass die Gesichter, die mit personenbezogenen Bezeichnungen gelernt wurden, besser erkannt wurden als jene ohne Bezeichnungen. Eine weitere entscheidende Erkenntnis aus der Studie ist, dass Gesichter, welche zwar mit einer Bezeichnung versehen wurden, diese aber nicht personenbezogen war, nicht besser erinnert wurden als die Gesichter ohne jegliche Informationen. Dies unterstreiche gemäß den beiden Autorinnen die Annahme, dass die Verknüpfung eines Gesichtsstimulus mit einer konzeptuellen Intervention zu einer besseren Wiedererkennungsleistung in der Abrufphase geführt hat und nicht das bloße Individuieren oder das Lenken der Aufmerksamkeit auf jene beschrifteten Gesichter. Eine verbesserte Leistung der Erinnerungsfähigkeit durch spezifische bzw. konzeptuelle Informationen konnten auch Tanaka und Pierce (2009) bestätigen. Auch in diesem Fall zeigten Testpersonen eine signifikante Verbesserung der Wiedererkennungsleistung, wenn Gesichter in der Lernphase mit dazugehörigen Informationen gelernt wurden. Hierbei wurden vor allem Prozesse wie Kategorisierung und Individuation genutzt. Von ähnlichen Ergebnissen berichten ebenfalls Gordon und Tanaka (2011). Die AutorInnen verschafften in ihrer Untersuchung zunächst einen Überblick über bisherige Befunde zu Verhaltens- und neurophysiologische Veränderungen beim Erkennen von Gesichtern (und auch Objekten), um den Einfluss und die Relevanz des Namens auf verschiedenen Ebenen zu untersuchen. Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass sowohl Gesichter als auch Objekte, die auf einer Subebene durch Namen individualisiert wurden, leichter zu unterscheiden waren. Auch Collins und Olson (2014) konnten nachweisen, dass der Erwerb von abstraktem semantischem Wissen über Gesichter und Objekte sowohl zu Verhaltens- als auch zu elektrophysiologischen Veränderungen führt, welche auf eine verbesserte Reizverarbeitung hindeuten.
Jüngst haben vor allem Schwartz und Yovel (2019) eine umfassende Studie mit fünf Experimenten durchgeführt und einen wichtigen und inkrementellen Beitrag zu der Erforschung der Gesichtserkennung geleistet. In jeder ihrer Experimente wurde die konzeptuelle Intervention einer wahrnehmungsbezogenen Intervention gegenübergestellt und war dieser jeweils in allen Bedingungen überlegen. Zudem wurden vier alternative Erklärungen (feature elaboration, global processing, rating variablilty und perceptual cost) für den konzeptuellen Vorteil getestet und konnten jeweils alle widerlegt werden. Den Autorinnen zufolge ist dies eine bisher neue und wichtige Erkenntnis für die Erforschung der Gesichtserkennung.
Auch wenn die in diesem Abschnitt genannten Ergebnisse keinem einheitlichen Leitbild gefolgt sind und mit unterschiedlichen personenbezogenen Informationen während der Lernphase gearbeitet wurde, haben sie dennoch die Gemeinsamkeit, dass sie für eine Verarbeitung bzw. Repräsentation von Gesichtern in Form von Konzepten anstelle von Wahrnehmungen sprechen. Diese und weitere Ergebnisse deuten darauf hin, dass konzeptuelle Informationen eine mindestens genauso wichtige Rolle beim Erkennen von Gesichtern spielen, wie die visuelle Expertise bzw. anderweitige sozial-motivationale Prozesse. In zukünftigen Untersuchungen sollte vermehrt auf die Assoziation des Gesichtes mit einer semantischen Bedeutung konzentriert werden, um die Wahrnehmungsrepräsentation zu erhöhen und die Gesichtserkennung zu verbessern (Schwartz & Yovel, 2016). An dieser Stelle soll die vorliegende Studie anknüpfen.
2.2 Fragestellung/Hypothesen
Diese Arbeit soll den konzeptuellen Ansatz im Zuge des ORE weiter erforschen. Der Einfluss konzeptueller Informationen im Prozess der allgemeinen Gesichtserkennung hat zwar bereits eine aussagekräftige Anzahl an Studien und Befunden. Untersuchungen, welche die Relevanz von konzeptuellen Informationen spezifisch für den ORE untersucht haben, sind jedoch nach wie vor überschaubar. Daher soll sich in dieser Untersuchung im Rahmen einer Masterthesis konkret mit der Frage beschäftigt werden, wie der ORE mithilfe einer neuen konzeptuellen Intervention verringert bzw. eliminiert werden kann. Dabei sollen Testpersonen durch eine Instruktion dazu animiert werden, sich zu überlegen, wem ein gezeigter Gesichtsreiz ähnelt. Dadurch sollen Informationen über ein Gesicht in ein bereits bestehendes semantisches Netzwerk integriert werden. Bereits bestehende semantische bzw. konzeptuelle Informationen im Langzeitgedächtnis sollen so mit den präsentierten Gesichtern aus der Lernphase verknüpft werden, um die Gesichtserkennung in der späteren Abrufphase zu erleichtern (Collins & Olson, 2014). Verglichen werden soll die Interventionsgruppe mit einer Kontrollgruppe ohne spezifische Instruktion, um die Validität der Ergebnisse gewährleisten und diese der tatsächlichen Wirkung der Intervention zuschreiben zu können. Auf Basis der erläuterten Überlegungen sollen daher folgende Hypothesen überprüft werden.
H1: Personen, welche in der Lernphase die konzeptuelle Instruktion bekommen haben, zeigten einen kleineren Unterschied in der Wiedererkennungsleistung zwischen OR-Gesichtern und SR-Gesichtern als Personen, welche keine Instruktion bekommen haben.
H2: Personen, welche während der Lernphase keine konzeptuelle Instruktion bekommen haben, konnten signifikant schlechter OR-Gesichter wiedererkennen als SR-Gesichter.
H3: Personen, welche während der Lernphase die konzeptuelle Instruktion bekommen haben, zeigten keinen signifikanten Unterschied in der Wiedererkennungsleistung zwischen OR-Gesichtern und SR-Gesichtern.
3. Methodik
Für diese Untersuchung wurde ein Online-Wiedererkennungstest durchgeführt. Dieser stellt in der Erforschung des ORE die typischste Methode dar (Hugenberg et al., 2010). Der Test wurde über die Plattform Unipark (ESF Survey) der FernUniversität Hagen realisiert, mit dem Titel: Gesichtserkennungstest. Im Zeitraum vom 15.01.2022 bis zum 11.02.2022 konnten interessierte Personen über einen Link an der Studie teilnehmen. Der Umfragelink wurde im beruflichen und privaten Umfeld sowie über soziale Medien (WhatsApp, LinkedIn, Facebook) verbreitet. Zusätzlich konnten Psychologiestudierende durch die Teilnahme 0.5 Versuchspersonenstunden erlangen. Die Testpersonen wurden randomisiert zu einer von zwei Lernbedingungen (konzeptbasierte Intervention vs. Kontrollgruppe), mittels Zufallstrigger zugewiesen. Die Testphase wiederum war für alle Teilnehmenden gleich. Es handelt sich hierbei um ein 2 (Interventions- vs. Kontrollgruppe) x 2 (weiße vs. arabisch aussehende Stimulusgesichter) Studiendesign. Eine Präregistrierung vor Studienbeginn wurde durchgeführt.
3.1 Stichprobe
Insgesamt haben 342 Personen den Online-Test beendet. Dabei gaben acht Personen an, nicht ernsthaft an der Untersuchung teilgenommen zu haben. Da die Studie auf Personen abzielte, die sich der Ethnie „weiß“ zuordnen, wurden weitere 22 Personen ausgeschlossen. Insgesamt kreuzten 32 Personen an, bereits an einer ähnlichen Studie teilgenommen zu haben. Acht Personen gaben nicht ihr Einverständnis zur Nutzung ihrer Daten.
Weiter wurde die Stichprobe für die abhängige Variable d‘ (bzw. ORE = d‘- weiß – d‘- MENAT) auf Ausreißer untersucht. Bei näherer Betrachtung ergaben sich drei auffällige Fälle (zwei in der Interventionsgruppe, eine in der Kontrollgruppe), bei denen Antwortmuster oder Eingabefehler ausgeschlossen werden und diese nicht eindeutig als unplausibel eingestuft werden konnten. Da das Forschungsinteresse allerdings dem Querschnitt der Bevölkerung gilt und die Analysen im Optimalfall diesen Querschnitt darstellen sollen, erscheint es legitim, diese Extremwerte von der weiteren Analyse auszuschließen. Denn um Ableitungen treffen zu können, welche die Mehrheit der Menschen beschreiben, sind hauptsächlich jene Fälle interessant, die sich nahe dem Durchschnitt bzw. Mittelwert bewegen. Basierend auf dieser Argumentation wurden diese drei Fälle daher nicht weiter im Datensatz berücksichtigt (Field, 2013).
Nach Überprüfung dieser Voraussetzungen ergab sich eine Gesamtstichprobengröße von 281 Personen. Davon waren 131 Personen (46.6 %) in der Interventionsgruppe und 150 Personen (53.4 %) in der Kontrollgruppe. Das Alter der Teilnehmenden lag zwischen 20 und 68 Jahren (M = 36.35, SD = 11.52). Von 281 Teilnehmenden waren 235 Personen weiblich (83.6 %), 45 männlich (16 %) und eine Person divers (0.4 %). Eine Person (0.4 %) gab als höchsten Ausbildungsgrad einen Hauptschulabschluss an, vier Personen (1.4 %) hatten die Mittlere Reife, 13 Personen (4.6 %) das Fachabitur, 97 Personen (34.5 %) Abitur, 68 Personen (24.2 %) einen abgeschlossenen Bachelor, 42 Personen (14.9 %) einen abgeschlossenen Master, 40 Personen (14.2 %) eine abgeschlossene Berufsausbildung und 16 Personen (5.7 %) einen anderen Abschluss. Weiter gaben insgesamt 264 Personen (94 %) Deutschland als ihren Wohnort an; 10 Personen (3.6 %) nannten Österreich, eine Person (0.4 %) die Schweiz und 6 Personen (2.1 %) ein anderes Land als ihren aktuellen Wohnort. Unter den angegeben anderweitigen Ländern wurden Niederlande, Schweden, Frankreich, DACH (Deutschland, Österreich, Schweiz) und China angegeben. Auf die Frage hin, in welchem Land die meiste Zeit des Lebens verbracht wurde, gaben 268 Personen (95.4 %) Deutschland, 11 Personen (3.9 %) Österreich, eine Person (0.4 %) Schweiz und eine weitere Person (0.4 %) ein anderes Land (Frankreich) an. Als berufstätig stuften sich 167 Personen (59.4 %) ein. Weitere 11 Personen (3.9 %) gaben sonstiges (z. B. Elternzeit) an. Zwei Personen (0.7 %) bezeichnet sich als arbeitsuchend und weitere zwei (0.7 %) befanden sich in einer Ausbildung. Es gab niemanden der angab Schüler zu sein, was bei dem niedrigsten angegeben Alter von 20 Jahren nicht verwundert. Insgesamt gaben 132 Personen (47 %) an Studenten zu sein. Dabei lag in der Gesamtstichprobe der Anteil an Personen, die Psychologie studieren (Bachelor Psychologie, Master Psychologie, Wirtschaftspsychologie o.ä.) bei 114 Personen (40.6 %).
Für die Schätzung der benötigten Stichprobengröße wurde das Paket Superpower des Statistikprogramms R verwendet. Mittels einer Power-Analyse mit einer Teststärke 1 – ß = .80 und α = .05 wurde eine angestrebte Stichprobengröße von N = 240 ermittelt. Als Orientierung für die erwartete Effektgröße, wurde die aktuelle Metaanalyse von Stelter et al. (in prep.) herangezogen. Es wurde daher auf eine Effektstärke f =.34 getestet, wobei von einer Standardabweichung von .61, einer Korrelation von .50 zwischen den Innersubjektfaktoren und Erwartungswerten von µ= 1.90 (Interventionsgruppe für weiße Gesichter), µ= 1.62 (Interventionsgruppe für arabische Gesichter), µ= 1.79 (Kontrollgruppe für weiße Gesichter) und µ= 1.72 (Kontrollgruppe für arabische Gesichter) ausgegangen wurde. Auch wenn sich die Effektstärke in der Untersuchung von Stelter et al. (in prep.) auf Individuierungs-Instruktionen bezieht, wurde mit Hinblick auf die aktuelle Datenlage dies als nächstliegender Orientierungswert für dieses Vorhaben eingeschätzt.
3.2 Vorgehen und Material
Vor Beginn des Online-Wiedererkennungstestes erhielten die Teilnehmenden beider Gruppen jeweils eine kurze Instruktion dahingehend, welche Aufgabe sie erwartet, wurden über datenschutzrechtliche Punkte aufgeklärt und um ihr Einverständnis gebeten.
Teilnehmende der Kontrollgruppe wurden lediglich gebeten, sich die Gesichter in der Lernphase bestmöglich einzuprägen und erhielten keine weitere Instruktion:
Jetzt wo Sie wissen, dass Menschen oft unzuverlässig sind, wenn es darum geht zuvor gesehene Gesichter wiederzuerkennen, möchten wir, dass Sie sich besonders anstrengen die Gesichter in dieser Aufgabe zu lernen. Geben Sie Ihr Bestes, Ihre volle Aufmerksamkeit darauf zu richten, was ein bestimmtes Gesicht von einem anderen Gesicht unterscheidet. Denken Sie daran, geben Sie Ihr Bestes, Ihre volle Aufmerksamkeit auf die Gesichter zu richten. Wir werden Ihnen jetzt mehrere Gesichter der Reihe nach zeigen. Seien Sie hochaufmerksam, denn jedes Gesicht wird nur sehr kurz präsentiert. Versuchen Sie sich die Gesichter so gut es geht einzuprägen. Klicken Sie auf „Weiter“, um den Erinnerungstest zu beginnen.
Zur Operationalisierung der experimentellen Manipulation hingegen, wurden die Personen in der Interventionsgruppe dazu aufgefordert, sich bei jedem Gesicht zu überlegen, wem das Stimulusbild ähnelt. Die Instruktion sah dabei wie folgt aus:
Jetzt wo Sie das wissen, möchten wir Sie darum bitten, beim Lernen der Gesichter Ihre volle Aufmerksamkeit darauf zu richten, ob ein gezeigtes Gesicht Sie an ein Ihnen bereits bekanntes Gesicht aus Ihrem Leben erinnert. Anschließend werden Sie nach jedem Gesicht dazu aufgefordert kurz anzugeben, ob und falls Ja, an wen Sie das Gesicht erinnert hat. Es genügt, wenn Sie im Antwortfeld Initialen oder Abkürzungen angeben, da es ausreichend ist, wenn Sie wissen, wer damit gemeint ist. Die Gesichter werden sehr kurz präsentiert. Denken Sie daran, geben Sie Ihr Bestes Ihre volle Aufmerksamkeit darauf zu richten, an wen Sie die jeweils gezeigten Gesichter erinnern. Klicken Sie auf „Weiter“, um den Erinnerungstest zu beginnen.
[...]
- Quote paper
- Anonymous,, 2022, Der Other-"Race"-Effekt. Entwicklung einer konzept-basierten Intervention zur Reduktion, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1335487
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.