Die Virtuosität, die höchste Meisterschaft in einem Genre, als Grundmotiv der darstellenden Künste ermöglicht es einen neuen und übergreifenden Diskurs über das pulsierende Herz der Ästhetik führen. Mehr noch soll der vorliegende Artikel helfen einige Wesenszüge alter und neuer Formen der Virtuosität herauszufiltern.
Der Autor erweitert den komplexen Begriff der Virtuosität ausgehend von der klassischen Musik (Franz Liszt/Niccolò Paganini) auf Literatur (Der Steppenwolf), Malerei und Film (Das Mädchen mit dem Perlenohrring). Diese Erweiterungsspektren werden anhand von Fallbeispielen vom 18. Jahrhundert bis heute zu illustriert. Virtuosität bleibt letztlich ein faszinierendes polarisierendes Kraftfeld der Aufführung und der Rezeption, das sich unförmig immer wieder wissenschaftlicher Systematik verweigert und über sie hinausweist.
Inhaltsverzeichnis
1. Versuch einer entgrenzten Eingrenzung3
2. Neue Dimensionen und Metamorphosen der Virtuosit a
2.1. Der Rahmen der Meisterschaft: Virtuositat als Reise und Umzug
2.2. Hillen der Virtuositat: eine kurze Typologie der Virtuosen
2.2.1. Die Virtuosen des Lichts
2.2.2. Die Virtuosen der Nacht
2.2.3. Die Virtuosen des Wahnsinns
2.3. Das Herz der Virtuositat/1: Strukturen , Paradoxe und Besonderheiten
2.3.1. Vom gelungenen Paradox
2.3.2. Virtuose Ellipsen
2.3.3. Ausnahmezustand
2.3.4. (Ur-)Schrei der Engel
2.3.5. Taumel, K6rper und Sex
2.4. Das Herz der Virtuositat/2: Zeitlosigkeit und Virtuositat... wenn die Zeit anfangt zu tanzen
2.4.1. Steppenwolfe
2.4.2. Mojos Hand
2.4.3. Der Magier
2.5. Das Herz der Virtuositat in Malerei und Film/3: Das Madchen mit dem Perlenohrring
2.5.1. Ober glOckliche Geheimnisse
2.5.2. Poetische Krafte
2.5.3. Ein Blick , ein Zauberkreis
2.6. Die Kritik der Virtuositat: Virtuosen als Scharlatane und Exhibitionisten
3. Ausblick
Literaturverzeichnis
Internet
Ressourcen
Filmographie
1. Versuch einer entgrenzten Eingrenzung
[Definition]
Virtuosität [virtuosismo (ital.) - virtuosity (frz.) - virtuosity (engl.)] ist die vollendete technische Fähigkeit ein Instrument, die Stimme , den eigenen Körper oder auch die Sprache meisterhaft und wiederholbar In-Szene-zu-setzen. Den spiegelnden Beweis dieses allerhöchsten-nicht-zu-übertreffenden , künstlerischen Kön-nens liefert das Publikum — es ist überwältigt , staunt und tobt — es "hält den Atem an". Das heillt: Virtuosität ist mindestens zur Hälfte Wirkung und Resonanz. Dabei entwickelt der Virtuose aus dem gleichen Text bzw. aus den gleichen Noten in seinen Aufführun-gen immer neue Meisterschaften verschiedenster jeweils abwei-chender Dimensionen. So war ein begnadeter Virtuose wie der bekannte und vielzitierte Teufelsgeiger Niccolo Paganini (17821840) in der Lage während einer Tournee ein identisches Noten-stück in jedem Konzert in einer neuen meisterhaften Variante zu interpretieren (van Eikels 2007).
Die Wurzeln der Virtuosität liegen im lateinischen virtus (Mannhaftigkeit , Tugendhaftigkeit , Tugend): die Auserwählten sind hier mit virtu (aullergewöhnliches Können) gesegnet. Der Virtuose ist der Meister seines Fachs , dessen Persönlichkeit und Charisma untrennbare Facetten seiner künstlerischen Leuchtkraft sind. Vir-tuosen können gottgleich , dämonisch (Paganini) , erotisch , lasziv , eitel, exhibitionistisch , ernsthaft , "echt" oder "unecht" daherkom-men. Sie spielen aullerirdisch und schnell, dynamisch und absolut oder schlicht einzigartig. Sie spielen mit groller Leichtigkeit und ohne Mühe — nicht ohne Grund fanden die Italiener für jenen er-folgreichen Widerstand gegen die sterbliche Trägheit den Begriff sprezzatura. Eben jenes mühelose Schwingen des Virtuosen ist eine Kopfgeburt: ein virtuoso gilt auch als Intellektueller der Kunst und als ideal ausgebildeter Mensch. Der kanadische Pianist Glenn Gould (gest. 1982) dachte beispielsweise die Noten Johann Se- bastian Bachs neu und setzte sie auf virtuose Weise wieder zu-sammen (Brandstetter 2003a: 7-12; 2002: 213-243; Brandl-Risi 2005: 382-385; Said 2000: 1-16; Riethmüller 2004: 39-44; Küster 1993: 123-130).
[Chronologie]
Konnten im barocken England Virtuosen Sammler , Weltmän-ner , Gentlemen oder schlicht Kenner der Naturwissenschaften sein , ändert sich diese Ansicht in Deutschland und Italien im Ver-lauf des 18. Jahrhundert. Kunst und Kunstfertigkeit und vor allem die Musik werden die Elixiere der neuen Virtuosen (Stadler 2006: 19-35).
Die Heimstätten dieser Virtuosen waren nach 1800 die Opernhäuser und die Konzertsäle. Die Virtuosen schaffen es da-bei auf besondere , nicht uneitle Weise sich aus der Komposition eines Orchesters und seiner Struktur herauszulösen und als Solis-ten und Könner zu dominieren (Küster 1993: 123-130).
Paganini symbolisierte den Ur-Typus des gehasst-geliebten Virtuosen schlechthin. Im Gegensatz dazu avancierte der ungari-sche Virtuose des Piano Franz Liszt (1811-1886) eher zum gutarti-gen Botschafter der extravaganten Zunft. Daneben zählten die Pianisten Frederic Chopin (1810-1849) und Anton Rubenstein (1829-1894) zu den meistgenannten Klaviervirtuosen. Der Höhe-punkt der Bewegung und Begeisterung der musischen Virtuosität lag in den 1830er und 1840er Jahren. Für den mühelosen Aufstieg zu diesem bislang unerreichten Plateau sorgten vor allem die Aus-nahme-Könner Liszt und Paganini.
Spätestens im 19. Jahrhundert wanderte der Begriff des Vir-tuosen auch vom Italienischen ins Deutsche. Während zunächst die sogenannten Instrumentalvirtuosen oder auch die Opernsän-ger Ruhm erlangten , weitete sich das "Virthuosenthum" auf die ge-samte Welt der darstellenden Künste (Tanz , Schauspiel) aus. Im 20. Jahrhundert setzte sich die Erkenntnis durch , dass Virtuosen auch Tänzer (Josephine Baker), Theater-Schauspieler (Gustaf Gründgens) oder Dichter sein konnten. Die erste Generation der Vamps, Stars und Diven war geboren (Brandstetter 2003b: 20-37).
Im 20. Jahrhundert erstritt sich der russisch-amerikanische Jascha Heifetz (1901-1987) den Ruf der Teufelsgeiger des 20. Jahrhunderts und der legitime Thronfolger Paganinis zu sein (Fournier 2001: 238-243).
Die klassische Musik ist insgesamt das natürliche Terrain, das „Heimspiel" der Virtuosen bis zum heutigen Tage geblieben. In der Frankfurter Alten Oper begeistert sich beispielsweise das Publikum heute an der Geigen- und Klaviervirtuosin Julia Fischer (FR 03.01.2008: 33).
2. Neue Dimensionen und Metamorphosen der Virtuosität
Ich möchte in diesem interdisziplinären Lexikonartikel zeigen , dass sich virtuose Momente nicht nur auf die klassische Musik be-schränken , sondern sich auch auf die Bereiche Literatur , Malerei oder Film erweitern lassen. Dabei verschränken und beziehen sich diese neue Bühnen der Virtuosität wechselseitig aufeinander. So entstand beispielsweise aus dem virtuosen Gemälde Das M a d-chen mit dem Perlenohrring von Jan Vermeer zunächst ein Roman und schliefllich ein bildgewaltiger Kino-Film (vgl: Kap. 2.5.).
Um das multidimensionale Potenzial der Virtuosität zu ver-stehen werde ich Hille und Herz der höchsten Meisterschaft er-kunden.
Dazu untersuche ich einerseits verschiedenen Segmente der äufleren virtuosen Praxis, wie sie sich dem Publikum auflenwelt-lich als HOlle darstellten. Konkret bedeutet das , dass ich zeigen werde wie sich Virtuosität während einer Konzert-Tournee entfal-tete und verschiedene Typologien von Virtuosen vorstelle.
In einem zweiten Schritt werde ich dann von diesen äufleren Erscheinungen ubergehen und schliefllich den Herzschlag , also die innere Struktur der Virtuosität mehr als eine Ahnung , denn als eine Gewissheit zu umreiflen. Eigentlich eine unlösbare Aufgabe , genauso schwierig wie Mozart zu spielen ...
„Warum sollte man eine Mozart-Partitur getreu wiedergeben , wenn diese Partitur Mozarts Musik gar nicht wiedergab? Um diese Musik lebendig erstehen zu lassen , musste der Musiker gleichsam selbst ein Mozart werden; er gleicht dem Zauberer, der durch das Reiben an der Wunderlampe eine Figur zum Leben erweckt (Sennett 1983: 229)."
2.1. Der Rahmen der Meisterschaft: Virtuosität als Reise und Umzug
Die Tourneen der virtuosen Ikonen wie Paganini und Liszt hatten einen historischen Vorlauf bzw. besondere kulturelle Vorbil-der. So eroberten die fahrenden Künstler im 18. und 19. Jahrhun-dert mit ihrer eigenen Virtuosität volkstümlich geprägte Räume. Ihre Gastspiele werden zur Legende , die neuen Virtuosen wurden gefeiert , hofiert und bejubelt. Das fahrende Künstlervolk profitier-ten dabei von der stark erleichterten europäischen Reisefreiheit im Napoleonischen Zeitalter und den Errungenschaften eines Kontin-ents in dem Räume nun dynamisch und schnell überwunden wer-den k6nnen (Küster 1993: 123-130; Klassen 2004: 123f; Charle 1997: 78ff).
Paganini an der Geige und Liszt am Klavier füllten während ihrer "Tour" die Säle und liellen das Publikum erschaudern (Andersen 1973: 14ff). Aber auch die musikalischen Kompositionen transportierten Virtuosität und das Konzept des Nomadentums mit ihrer eigenen Struktur (vgl: Triest 1802: 737). Ich denke hierbei an den verträumten Nomaden in den Wanderer-Fantasien und der Winterreise (1827) von Franz Schubert und Franz Liszt und ihren Pfad durch wirkliche und geträumte Gefilde. Diese ästhetisierten Nomaden schafften es auf diese Art und Weise ihr nomadisches Herz in eine kraftvolle Virtuosität zu übersetzen (Steiner 2004: 7883; Wellbery 2003: 703-733; Herrgott 1997: 199-230; Baugut 2008: 50ff).
Neben der klassischen Instrumentalmusik etablierten sich im 18. Jahrhundert aber auch Sänger und Tänzer als Virtuosen. Bald staunte so das italienische Publikum über den kraftvollen virtuosen Gesang der Kastraten , wenn sie ihre Stimme virtuos zum messa di voce an- und abschwellen liellen1. Die Tänzer ihrerseits schei-nen dem Boden und der Schwere zu entfliehen: die Figuren der Pirouette und der Arabeske schwebten plötzlich virtuos Ober die Bretter der Welt.
Die Tanzvirtuosinnen der Romantik Marie Togliani (die ">christliche Ballerina<") und Fanny Elssler (die ">heidnische Ballerina>") verkörperten beispielhaft diesen fliegenden Zustand (Probst 2002: 31-36; 67-70). Die Schauspieler entwickeln aus der Tradition der "Wandertruppen" einen ganz eigenen virtuosen Stil: Akrobaten und Komödianten machen die eigene Persönlichkeit (Mimik , Gestik , Sprachstil) und das eigene Charisma zum untrenn-baren Bestandteil ihrer Rolle und gefallen als erste Vertreter eines Starkults in Miniatur (Brandl-Risi 2005: 382-385).
Im 19. Jahrhundert verdankten diese neuen Stars, also die Tänzer , Sänger , Schauspieler und Instrumentalvirtuosen ihren Ruhm einer erstarkenden Figur: dem Bildungsbürger. Die Zeiten sind vorbei als der virtuosismo nur in Schlössern , auf den romanti-schen Terrassen der gelangweilten Barone und in den fürstlichen Lustgärten eingehegt war. Im Gegenteil: das Opernhaus, das Theater und das Varieté werden zunehmend zum Tempel eines Plebiszits Ober die höchste virtuose Meisterschaft (Said 2000: 116).
2.2. Hiillen der Virtuosität: eine kurze Typologie der Virtuosen
Ohne die künstlerische Meisterschaft von Virtuosen unterein-ander zu vergleichen könnte man Ober drei theoretische Idealty-pen dieses elitären Clubs unterscheiden:
2.2.1. Die Virtuosen des Lichts
Bei den Virtuosen des Lichts herrscht Zuversicht. Sie sind voll Hoffnung und machen Mut. Sie haben Lust am Leben , sind mit donnernder Sinnlichkeit gesegnet und Meister ihres Metiers. Das Tanzwunder Josephine Baker repräsentiert diese Synthese lebensbejahender Virtuosität.
Die Virtuosen des Lichts sind Ikonen , Heiligkeiten und Göt-tern gleich. Der Pianist Franz Liszt wurde als Prophet und Priester 8 seines Elements gehandelt. Liszt erscheint auch übermenschlich und unverletzlich entrückt:
"Liszt kann denn auch nicht, wie im Schul- und Professoren-zimmer Sitte Oben , Skalen vor sich bringen , Fingerkasteiungen vornehmen! - Uebt sich der Adler im Fliegen? Er schlägt die Au-gen auf, sieht in die Sonne , entfaltet die Schwingen , fliegt in den Brand (von Lenz 2000: 5)!"
Die Virtuosen des Lichts sind überzeitliche anerkannt gutarti-ge Ausnahmen ihres Genre, sie spielen auflerhalb der Noten und vereinigen auf sich das gesamte Repertoire und die Genesis ihrer Kunst.
2.2.2. Die Virtuosen der Nacht
Schmerz , Untergang und das geniale Bose sind die Triebfe-dern und die Schöpferkraft der Virtuosen der Nacht. Aus ihnen spielt der Teufel (Paganini) , sie sind die Hohepriester des Rau-sches , des Ausnahmezustands und werden auch als Gespenster gefürchtet (von Lenz 2000: 4; Fournier 2001)2. Ihre Aufführungen werden unerträglich anziehend. Sie spielen das Schlechte und das Geniale ihrerselbst oder besingen ihren eigenen Untergang. So mimte Gustaf Gründgens den Mephisto auf der Theaterbühne mit legendärer Perfektion und Hingabe — eben und gerade weil seine Aura, sein Charisma, seine gesamte Persönlichkeit und seine reale Biographie zu einer Einheit zusammenschmolzen3 (Boh-me 2003: 7-22; Gooley 2006: 75-111; Sennett 1983: 225ff).
[...]
1 Margriet de Moor verfasste einen herausragenden Roman ("Der Virtuose"; 2005) über einen virtuosen Kastraten und seine Wirkung auf eine junge und sch6ne adlige Frau im Italien des 18. Jahrhundert.
2 Pascal Fournier schreibt in Der Teufelsvirtuose (2001) einen detaillierten kul-turgeschichtlichen Vergleich zwischen Mephisto-Vorstellungen und Pagani-nis Ausstrahlung und Wirkung.
3 Klaus Mann illustriert in seinem bekannten Roman "Mephisto" den Schau-spieler und Opportunisten des nationalsozialistischen Kulturbetriebs Gustaf Gründgens.
- Quote paper
- Marcus Fiebig (Author), 2009, Das pulsierende Herz der Meisterwerke, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/133503
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