Dies ist ein ausführlicher Unterrichtsentwurf mit detaillierter Sachanalyse, didaktischer Analyse und durchdachter methodischer Planung zu Georg Büchners "Woyzeck"; genauer, zu dem Verhältnis zwischen dem Hauptmann und Woyzeck.
In diesem Entwurf geht es darum, dass die Schüler:innen des 12. Klasse Gymnasium Deutschgrundkurses die sog. "Rasierszene" analysieren. Sie unterziehen die Szene (5) einer inhaltlichen Analyse unter Berücksichtigung einzelner sprachlicher Auffälligkeiten, erfassen dadurch die hierarchische Rollenverteilung zwischen dem untergebenen Woyzeck und dem höhergestellten Hauptmann und erkennen, dass Woyzeck im Verlauf der Szene eigentlich gedanklich überlegen auftritt, sich jedoch am Machtverhältnis der beiden Figuren nichts ändert, da dies durch ihre gesellschaftliche Stellung vorgegeben ist. Anschließend bewerten die Schüler und Schülerinnen unter Einbezug ihres Vorwissens zum Hessischen Landboten, inwiefern die Rasierszene Büchners Gesellschaftskritik widerspiegelt.
Der Unterrichtsentwurf beinhaltet einen detaillierten Verlaufsplan, eine Analyse der Zusammensetzung der Klasse, eine Sachanalyse des Werkes, eine didaktische Legitimation des Unterrichtsvorhabens und eine detaillierte Beschreibung der Aufgabenstellungen.
I Groblernziel
Die Schüler und Schülerinnen unterziehen die Rasierszene (Szene 5) einer inhaltlichen Analyse unter Berücksichtigung einzelner sprachlicher Auffälligkeiten, erfassen dadurch die hierarchische Rollenverteilung zwischen dem untergebenen Woyzeck und dem höhergestellten Hauptmann und erkennen, dass Woyzeck im Verlauf der Szene eigentlich gedanklich überlegen auftritt, sich jedoch am Machtverhältnis der beiden Figuren nichts ändert, da dies durch ihre gesellschaftliche Stellung vorgegeben ist. Anschließend bewerten die Schüler und Schülerinnen unter Einbezug ihres Vorwissens zum Hessischen Landboten, inwiefern die Rasierszene Büchners Gesellschaftskritik widerspiegelt.
II Feinlernziele
-Die Schüler und Schülerinnen beschreiben das Bild (Woyzeck-Inszenierung) und werden für das Machtverhältnis und das Gesprächsverhalten von Woyzeck und Hauptmann sensibilisiert.
-(Hausaufgabe) Die Schüler und Schülerinnen erfassen die ungleiche Machtverteilung zwischen Hauptmann und Woyzeck im ersten Teil der Szene und belegen dies durch Hinweise auf die räumliche Position, die Redenanteile sowie den Gesprächsinhalten.
-Die Schüler und Schülerinnen analysieren den zweiten Teil der Szene und erkennen, dass der Hauptmann im Verlauf der Szene selbst als gedanklich unterlegen entlarvt wird, während Woyzeck auf die Anschuldigungen bezüglich seines unmoralischen Lebens sehr reflektiert antwortet.
-Die Schüler und Schülerinnen erkennen, dass sich trotz Woyzecks gedanklicher Überlegenheit auch am Ende der Szene nichts am Verhältnis oder der Machtverteilung der beiden Figuren geändert hat und erklären dies mit der gesellschaftlichen Stellung der beiden.
-Die Schüler und Schülerinnen bewerten unter Einbeziehung ihres Vorwissens zum Hessischen Landboten, inwiefern die Rasierszene Büchners Kritik an der Gesellschaft widerspiegelt (mögliche Stichworte: Hauptmann als Repräsentant der Oberschicht, Woyzeck als Repräsentant der Unterschicht, Ausbeutung,
Ausnutzung, Willkür, schlechte Arbeits- und Lebensbedingungen, Determiniert- heit/Fatalismus etc.)
-Optionales Lernziel: Die Schüler und Schülerinnen transferieren Büchners gesellschaftliche Auffassungen auf die heutige Zeit und erkennen, dass seine in der Rasierszene dargestellten Kritikpunkte wie Ausbeutung von armen Menschen durch Reiche oder die von Geburt an vorbestimmte soziale Stellung trotz gesellschaftlicher Fortschrittlichkeit auch heute noch Probleme darstellen.
III Verlaufsplan
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Vorbereitende Hausaufgabe: SuS lesen die Szene und erarbeiten das Verhältnis der beiden Figuren im ersten Teil der Szene (Aufgabenstellung: siehe Anhang)
IV Lerngruppenanalyse
Den Deutschgrundkurs der 12. Jahrgangsstufe unterrichte ich seit Beginn des Vorbereitungsdienstes dreistündig eigenverantwortlich. Der Kurs besteht aus vier Mädchen und 19 Jungen, wobei mehr als die Hälfte der Lerngruppe erst zum Beginn dieses Schuljahres zu uns gestoßen ist. Mein Verhältnis zu den Schülern und Schülerinnen empfinde ich als angenehm und freundlich und auch untereinander verstehen sich die Jugendlichen sehr gut und arbeiten gerne zusammen. Der Kurs ist bis auf ein paar Ausnahmen ruhig und eher zurückhaltend. Vor allem drei, vier der Schüler und Schülerinnen sind sehr still und melden sich nicht freiwillig, wobei nach Aufforderung durchaus auch richtige Antworten geäußert werden. Trotzdem versuche ich, diese Jugendlichen nicht noch weiter zu verunsichern, indem ich sie meist nicht mehr als einmal oder höchstens zwei Mal in einer Stunde aufrufe. Oft versuche ich, sie vor allem in offenen Phasen, wie dem Einstieg, miteinzubeziehen. Da der Kurs insgesamt eher zurückhaltend ist, habe ich - vor allem in Vertiefungsphasen - gute Erfahrungen mit kurzen Murmelphasen gemacht, in denen sich die Schüler und Schülerinnen miteinander austauschen können, bevor sie sich melden. Das mindert Unsicherheiten, sodass mehr Schüler und Schülerinnen etwas beitragen können. Das Leistungsniveau des Kurses schätze ich als mittel ein. Die mündliche Mitarbeit des Kurses ist etwas besser als die schriftlichen Leistungen, wobei bei der mündlichen Beteiligung klare Unterschiede erkennbar sind. Einige der Schüler und Schülerinnen beteiligen sich rege am Unterricht und liefern auch gute bis sehr gute Beiträge, die den Unterricht merklich voranbringen, während es immer noch zwei oder drei Schüler gibt, die das derzeit im Unterricht thematisierte Drama nicht vollständig oder sogar gar nicht gelesen haben. Durch kurze Präsentationsphasen, in denen die Schüler und Schülerinnen ihre Ergebnisse selbst vorstellen, versuche ich regelmäßig die Kompetenz des mündlichen Vortragens zu trainieren und den Kurs daran zu gewöhnen, was mittlerweile auch relativ gut funktioniert. Leider ist die Anzahl der abwesenden Schüler und Schülerinnen zurzeit hoch. Immer wieder fehlen Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Kurses. Drei davon haben in den letzten 5 Stunden durchgängig gefehlt, ein Schüler fehlt sogar schon seit der zweiten Deutschstunde. Insgesamt war der Kurs in diesem Jahr noch in keiner Stunde vollständig. Materialien und Hausaufgaben sollen sich die Schüler und Schülerinnen entweder über ihre Whatsappgruppe oder den E-Mail-Verteiler besorgen. In der Deutschstunde vor dem Prüfunterricht wird etwa die Hälfte des Kurses wegen eines spontanen Ausfluges mit dem Erdkunde-Leistungskurs nicht anwesend sein. Auch in diesem Fall habe ich die Schüler und Schülerinnen dazu angehalten, sich über die verpasste Stunde und die Hausaufgaben zu informieren. Was das Erledigen der Hausaufgaben angeht, stechen ein paar Schüler und Schülerinnen durch Zuverlässigkeit und gewissenhaftes Arbeiten heraus, während es bei anderen trotz Ermahnungen und Gesprächen immer wieder vorkommt, dass die Hausaufgaben gar nicht oder unzureichend erledigt werden, vor allem wenn diese zeitaufwendiger sind.
Textarbeit funktioniert in der Lerngruppe mittel bis gut, wobei es den Schülern und Schülerinnen oft schwerfällt, über die inhaltliche Analyse hinauszugehen. Deshalb erachte ich vor allem in diesem Kurs die didaktische Reduktion oder die Aufteilung verschiedener didaktischer Ebenen auf mehrere Stunden als sehr wichtig. Oft bietet es sich auch an, bei der Analyse nicht zu viele, sondern nur ein oder zwei zentrale sprachliche Auffälligkeiten herauszufiltern, die dann genauer in den Fokus gerückt werden. Am Tag der Lehrprobe findet der Unterricht in einem anderen Saal statt, der zum einen etwas größer ist, zum anderen im ersten Stock des Gebäudes liegt, wodurch sich Störungen auf dem Flur durch Schüler und Schülerinnen der Orientierungsstufe vermeiden lassen sollten. In der vierten Stunde schreiben die Schüler und Schülerinnen eine Leistungskursklausur, weshalb der Fokus der Jugendlichen möglicherweise nicht ganz so zielgerichtet ist wie sonst. Die Stunde findet nach der ersten großen Pause statt, leider nicht in einer regulären Deutschstunde. Die Schüler und Schülerinnen wurden dazu angehalten, schon fünf Minuten vor dem Klingeln an ihrem Platz zu sein, sodass die Stunde pünktlich beginnen kann.
V Sachanalyse
Georg Büchner entfernte sich vom Weltbild und den Traditionen des klassisch-idealistischen Dramas und wollte die Lebensbedingungen des einfachen Volkes in realistischen Inszenierungen zeigen (Völkl & Diekhans, 2010). Büchners Drama „Woyzeck“ wurde somit in einer Umbruchszeit verfasst, in der das bürgerliche Trauerspiel langsam von der neueren Form des sozialen Dramas in den Hintergrund gedrängt wurde. „Noch regierten die Fürsten, noch genossen die Adligen ihre alten Standesvorrechte“ (Schede, 2018). Während im bürgerlichen Trauerspiel noch das private bürgerliche Leben im Fokus stand, bei dem sich der zentrale Konflikt stets zwischen Protagonisten und (adligem) Antagonisten abspielte, verschob sich der Fokus des sozialen Dramas auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die nun zum Akteur und zum Antagonisten der Unterschicht wurden (Schößler, 2015). In der historischen Situation, in der Büchner sein Drama „Woyzeck“ schrieb, war Armut ein Massenproblem, welches durch den Begriff Pauperismus bezeichnet wurde (Wirthwein, 2018).
„Der Pauperismus ist da vorhanden, wo eine zahlreiche Volksklasse sich durch die anstrengendste Arbeit höchstens das notdürftigste Einkommen verdienen kann, auch dessen nicht sicher ist, in der Regel schon von Geburt an und auf Lebzeit solcher Lage geopfert ist, keine Aussicht auf Änderung hat [...]“ (Brockhaus, 1846, zitiert nach Wirthwein, 2018).
Die Ursachen dieser Massenverarmung lagen in der Industrialisierung und dem damit verbundenen wirtschaftlichen Wandel und der Verstädterung. Des Weiteren wuchs die Kluft der Gesellschaftsschichten stetig. Wie sehr Büchner diese Kluft zwischen Armen und Reichen bzw. Unterschicht und Obrigkeit beschäftigte, zeigte sich bereits in seiner legendären Flugschrift „Der Hessische Landbote“, in welcher er die Ausbeutung und Unterdrückung der Bauern und einfachen Bürger durch die Obrigkeit massiv kritisierte und mit der bekannten Parole „Friede den Hütten! Krieg den Palästen!“ die Bevölkerung zu einer gemeinsamen Idee der Revolution gegen das Großherzogtum und die Staatsordnung bewegen wollte (Bühnemann, 2006). Weiterhin kritisiert er die Ungerechtigkeiten zwischen den Armen und den Reichen durch signifikante sprachliche Bilder, wie zum Beispiel: „Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, [.] Das Leben der Bauern ist ein langer Werktag“ (Büchner, 1834, zitiert nach Bühnemann, 2006) und weist auf die Willkür und die Ausnutzung der einfachen Bürger hin: „Klagt einmal, dass ihr der Willkür einiger Fettwänste überlassen seid, [.] klagt, dass ihr Ackergäule des Staates seid, klagt über eure verlorenen Menschenrechte“ (Büchner, 1834, zitiert nach Bühnemann, 2006).
Im zweiten Teil des Brockhauszitates findet sich ein weiteres Konzept, das für die Rezeption des „Woyzeck“ eine zentrale Rolle spielt: Büchners Fatalismusgedanke (Wirthwein, 2018). So schreibt Büchner in seinem Brief an die Braut:
„Ich fühle mich wie zernichtet unter dem grässlichen Fatalismus [.]. Der Einzelne nur Schaum auf der Welle, die Größe ein bloßer Zufall, die Herrschaft des Genies ein Puppenspiel, ein lächerliches Ringen gegen ein ehernes Gesetz, es zu erkennen das Höchste, es zu beherrschen unmöglich“. (Büchner, 1834, zitiert nach Diekhans, 2004).
Büchners Weltbild ist also deterministisch-fatalistisch geprägt, das heißt, er ging davon aus, dass Ereignisse bzw. das Schicksal der Menschen durch Vorbedingungen festgelegt sind. Die ökonomischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, in die man hineingeboren wird, bleiben demnach immer die gleichen. In dieser determinierten, vorherbestimmten Welt sind auch die Hauptfiguren im Drama „Woyzeck“ gefangen, was zum Beispiel an Marie, Woyzecks Freundin, deutlich wird, die den Wunsch nach sozialem Aufstieg hegt, der Spirale aus finanzieller Not und gesellschaftlicher Unterdrückung jedoch nicht entfliehen kann. Auch Franz Woyzeck ist in seinem Schicksal und seiner ökonomischen Misere gefangen. Seine Armut ist nicht selbstverschuldet, sondern vielmehr wird sie als gegeben vorausgesetzt (Wirthwein, 2018). Aufgrund seiner Armut muss Woyzeck neben seiner niederen Stellung beim Militär weitere Tätigkeiten verrichten, um für sich und seine Familie etwas dazuzuverdienen. So rasiert er zum Beispiel den Bart des Hauptmannes oder steht dem Doktor für entwürdigende Experimente zur Verfügung, die ihn nicht nur körperlich, sondern auch psychisch stark schwächen. Woyzeck hetzt von einer Tätigkeit zur anderen und hat keine Zeit für Marie oder ihren gemeinsamen unehelichen Sohn. Der finanzielle Druck, der auf Woyzeck lastet, führt zu Arbeitsdruck und schließlich zu Zeitdruck, was man daran erkennt, dass er ständig in Eile ist („Ich muss fort“, S. 8, Z. 9). Seiner Situation ist sich Woyzeck durchaus bewusst und spürt, dass es für Leute wie ihn, kein Entkommen aus den miserablen Verhältnissen gibt. So erkennt er auch, dass sein Sohn, obwohl er noch ein Kleinkind ist, ebenfalls keine Chance auf einen sozialen Aufstieg haben wird und ihm schon von Geburt an der gleiche Lebensweg vorgeschrieben ist („Alles Arbeit unter der Sonn, sogar Schweiß im Schlaf. Wir arme Leut“, S. 11, Z. 26f.). Auch für die gutbürgerliche Bevölkerung hatten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbrüche
Folgen. Georg Büchner zeigt dies an den beiden Figuren Doktor und Hauptmann. Beide gehören der Oberschicht an und üben auf unterschiedliche Weise Druck auf Woyzeck aus (Wirthwein, 2018). Wie bei Schößlers (2015) Definition des sozialen Dramas deutlich wird, fehlt auch bei „Woyzeck“ das typische Spannungselement der unmittelbaren Konfrontation zwischen Protagonisten und Antagonisten. Der Tambourmajor stellt nicht wirklich einen Antagonisten dar, denn am Ende beendet Woyzeck die Affäre zwischen ihm und Marie nicht, indem er mit dem Tambourmajor auf Konfrontation geht, sondern Marie tötet. „Weil die Täter unerreichbar bleiben, entlädt sich die Gewalt zwischen den Opfern“ (Schede, 2018). Dem Hauptmann und dem Doktor kann Woyzeck nur mit Respekt begegnen, denn sie sind nicht nur seine Peiniger, sondern im weiteren Sinne auch seine „Wohltäter“ bzw. Sponsoren (Schede, 2018), da er finanziell von ihnen abhängig ist. Der Hauptmann wird als Vertreter der Oberschicht somit quasi als personifizierte Form der sozialen Ungerechtigkeit dargestellt, die auf den armen Woyzeck einwirkt (Schede, 2018).
Ziel der Unterrichtsstunde soll es sein, das Verhältnis zwischen Hauptmann und Woy- zeck mit dem Blick auf ihre soziale Stellung genauer zu untersuchen. Dazu ist es für die Sachanalyse zunächst wichtig, sich die beiden Figuren und ihre Weltbilder genauer anzuschauen sowie ihr Gesprächsverhalten zu untersuchen. Den Hauptmann konzipierte Büchner in erster Linie als „Vertreter der Macht“, welcher Woyzeck drangsaliert und nicht als individuelle Figur, was man alleine daran erkennt, dass der Hauptmann nicht mit Namen genannt wird, sondern nur mit seiner Dienstbezeichnung (Schede, 2018). Außerdem macht Büchner so seine „Seelenlosigkeit“ deutlich (Hoff & Wirthwein, 2022). Woyzeck hingegen wird mit vollem Namen vorgestellt, was hervorhebt, dass er - genauso wie Marie, sein Sohn Christian und sein Freund Andres - kein bedeutendes Amt und keine wichtige Rolle in der Gesellschaft einnehmen, „welche sie schützt und stützt und ihnen das Recht gibt, über andere zu verfügen“ (Schede, 2018). Das Machtgefälle zwischen dem Hauptmann und seinem Untergebenen wird allein schon durch die Situation in der fünften Szene ersichtlich. Obwohl Woyzeck, der eigentlich Soldat ist, hier die Tätigkeit des Barbiers einnimmt, um zusätzlich etwas Geld zu verdienen, wird der Hauptmann nicht zum Kunden, sondern bleibt der militärische Vorgesetzte, was man unter anderem an seiner Sprechweise, die im weiteren Verlauf der Analyse thematisiert wird, erkennt (Schede, 2018). Auch die Regieanweisung zu Beginn der Szene („Hauptmann auf einem Stuhl, Woyzeck rasiert ihn.“, S. 12, Z. 1), die die räumliche Position der Figuren beschreibt, macht das Machtgefälle zwischen bedientem Hauptmann und dienendem Woyzeck deutlich. Das Gesprächsverhalten der beiden spiegelt dies ebenfalls wider. So ist es der Hauptmann, der das Gespräch beginnt und das mit einem Befehl („langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem anderen“, S. 12, Z. 2). Die „feudale Abgehobenheit des Hauptmanns“ (Hoff & Wirthwein, 2021) zeigt sich, als er Woyzeck für seine Eile mit den Worten kritisiert: “Ein guter Mensch tut das nicht“ (S.12, Z. 20f.), denn ein guter Mensch mit einem guten Gewissen dürfe nicht in Eile sein, was impliziert, dass seiner Meinung nach arme und arbeitstüchtige Menschen automatisch schlechte Menschen sind (Hoff & Wirthwein, 2021). Der Widerspruch, der darin liegt, Woyzeck, der durch seine Armut zur ständigen Eile gezwungen ist, einerseits herumzukommandieren, aber andererseits für seinen gehetzten Eindruck zu kritisieren, fällt dem Hauptmann nicht auf. Der Hauptmann denkt viel mehr an sich selbst und an das Unbehagen, dass ihm Woyzeck mit seiner Eile bereitet: „Was soll ich denn mit den zehn Minuten anfangen, die er heute zu früh fertig wird? [.]“ (S. 12, Z. 4f.). Während der Hauptmann auf diese Frage keine Antwort hat, kann es aus Woyzecks Perspektive nur eine Antwort geben: Arbeit (Wirthwein, 2018). Wenn der Hauptmann „an die Ewigkeit denkt“ wird ihm „ganz Angst um die Welt“ (S. 12, Z. 10). Hier wird der Unterschied zwischen Woyzeck und Hauptmann erneut hervorgehoben, denn während für Woyzeck jede Minute zählt, plagen den Hauptmann Luxusprobleme wie Langeweile und Beschäftigungslosigkeit, welche ihm das Gefühl einer existenziellen Sinnlosigkeit geben und ihn wehleidig und melancholisch wirken lassen (Völkl & Diekhans, 2010). Mit der Figur des Hauptmanns stellt Büchner die Zeitströmung des Nihilismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts dar, denn der Hauptmann, der nichts mit sich und seiner Zeit anzufangen weiß, weist nihilistische Züge auf (Diekhans, 2022). Wegen all der Langeweile will er seinen Tag mit Unterhaltungen und Beschäftigungen füllen und diese am liebsten so weit wie möglich in die Länge ziehen („Beschäftigung, Woyzeck, Beschäftigung!“, S. 12, Z. 11f.). Der Hauptmann fordert Woyzeck auf: „Red Er doch was, Woyzeck.“ (S. 12, Z. 22). Gleichzeitig wird durch die Anrede in der dritten Person Hauptmanns Überlegenheit verdeutlicht. Das Machtgefälle und die Unterwerfung Woyzecks werden ebenso deutlich daran, dass der Hauptmann die größten Redeanteile einnimmt, die Gesprächsinhalte vorgibt und auch wenn er Woyzeck zum Sprechen auffordert, dieser nur in kurzen Sätzen oder mit der Standardfloskel eines Soldaten „Jawohl, Herr Hauptmann“ (S. 12, Z. 9, 19, 28) antwortet. Diese Antwort liefert Woyzeck aus Gewohnheit auch, als ihm der Hauptmann eine sprachliche Falle stellt: „Ich glaub, wir haben so was aus Süd-Nord.“ (S. 12, Z. 27f.). Dies nimmt der Hauptmann als Anlass sich lauthals über seinen Untergebenen lustig zu machen und ihn ganz unbekümmert als „abscheulich dumm“ (S. 12, Z. 30) zu bezeichnen, wodurch seine Geringschätzung und sein Überlegenheitsgefühl gegenüber Woyzeck erneut deutlich werden (Völkl & Diekhans, 2010). Während der Hauptmann Woyzeck gönnerhaft und jovial als „guter Mensch“ (S. 12, Z. 21) bezeichnet, gleichzeitig jedoch genau das Gegenteil impliziert, erfährt das Publikum bzw. die Leserschaft viel über des Hauptmanns Vorstellungen eines guten Menschen, denn der Hauptmann präsentiert sich hier als Vertreter bürgerlicher Werte und Moral. Die Tatsache, dass Woyzeck ständig in Eile ist, führt der Hauptmann auf seinen angeblich unmoralischen Lebensstil zurück (Völkl & Diekhans, 2010). Denn jemand, der „ein Kind ohne den Segen der Kirche“ (S. 12, Z. 34) hat, kann laut Hauptman nicht moralisch und somit auch kein guter Mensch sein. Ebenso wirft er Woyzeck vor, keine Tugend zu besitzen, denn ein tugendhafter Mensch könne, anders als Woyzeck, seine Gelüste und Triebe unterdrücken („Fleisch und Blut?“, S. 13, Z. 15). Während der Hauptmann sich als Vertreter von Moral und Tugend präsentiert, gibt er gleichzeitig zu, regelmäßig am Fenster zu stehen und den Frauen hinterherzuschauen, denn auch er habe „Fleisch und Blut“ (S. 13, Z. 19). Um sein tugendhaftes Leben aufrechterhalten zu können, muss der Hauptmann unter großer Anstrengung seine Triebe unterdrücken und sich selbst immer wieder sagen: „Du bist ein tugendhafter Mensch, [...] ein guter Mensch, ein guter Mensch“ (S. 13, Z. 21f.). Der Hauptmann verlangt also von Woyzeck, auf sexuelle Bedürfnisse zu verzichten, um tugendhaft zu sein, hat jedoch selbst Schwierigkeiten, sich daran zu halten (Wirthwein, 2018). Dass sich der Hauptmann in dieser Szene selbst als Dummkopf entlarvt, bezeichnet Wirthwein (2018) als „besondere[n] dramaturgische[n] Kniff“. Vor allem fallen seine philosophischen Ausführungen auf, die eloquent verpackt sind, sich dann doch als leere Worthülsen entpuppen und nur nichtssagende Begriffsdefinitionen sind: „Ewig, das ist ewig“, (S. 12, Z. 12) oder „Moral, das ist, wenn man moralisch ist“ (S. 12, Z. 32f.). Auch die vielen Wiederholungen zeigen die „gedankliche Unbeweglichkeit des Hauptmanns“ (Völkl & Diekhans, 2010). Nachdem Woyzeck anfangs nur „brav salutiert“ (Hoff & Wirthwein, 2021), nimmt er den Vorwurf des unmoralischen Lebens nicht kommentarlos hin. In dieser Hinsicht kommt es mitten in der Rasierszene zu einem Wendepunkt. Woyzeck antwortet auf die Anschuldigungen des Hauptmanns, indem er sich auf die Bibel beruft und allen Kindern - ob ehelich oder unehelich - Gottes Barmherzigkeit zuspricht: „Herr Hauptmann, der liebe Gott wird den armen Wurm nicht drum ansehen, ob das Amen drüber gesagt ist, eh er gemacht wurde. Der Herr sprach: Lasset die Kindlein zu mir kommen“ (S. 13, Z. 1 - 4). Während der Hauptmann sein Verständnis von einem moralischen Leben mit einem Zitat des Garnisonspredigers unterstreicht (S. 12, Z. 35) präsentiert Woyzeck hier den Glauben an einen gütigen „liebe[n] Gott“ (S. 13, Z. 1) und somit genau das Gegenteil zur „normativen Auslegung des Gottesglaubens“ durch die Institution Kirche (Wirthwein, 2018). Es wird also zwischen einem „privaten und einem institutionell legitimierten Gottesglauben“, der durch die gesellschaftliche Oberschicht repräsentiert wird, unterschieden. Doch Woyzeck lehnt sich nicht gegen den Glauben und das idealistische Weltbild des Hauptmanns auf, vielmehr wird deutlich, dass er diese Werte und Verhaltensregeln akzeptiert und ihnen eigentlich auch gerne folgen würde (Wirthwein, 2018). Doch wie schon in anderen Szenen des Dramas gesehen, ist sich Woyzeck auch in dieser Szene offensichtlich seiner finanziellen Misere und seiner ausweglosen Situation bewusst („Unseins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt, ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen“, S. 13, Z. 11ff.) Er weiß, dass er und seine Familie aufgrund ihrer Lebenssituation diese Vorstellungen von Moral und Tugend nicht erfüllen können, denn um Marie, die Frau seines unehelichen Kindes, zu heiraten, fehlen ihm die finanziellen Mittel und auch sonst sieht er ein tugendhaftes Leben als etwas, das nur bessergestellte Menschen erreichen können (Völkl & Diekhans, 2010). Das wird an folgendem Zitat sehr deutlich:
[...]
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