Im Rahmen dieser Literaturarbeit wird eine historische und definitorische Einführung in die Bibliotherapie gegeben. Es wird auf die verschiedenen Formen und Anwendungsbereiche der Methode eingegangen und dargestellt, was es beim bibliotherapeutischen Vorgehen zu beachten gilt. Daraufhin werden die Ziele und Funktionen sowie die Grenzen und Nebenwirkungen der Bibliotherapie herausgearbeitet. Anschließend werden die Grundzüge der Klinischen Sozialarbeit kurz erläutert, um im weiteren Verlauf die Einsatzmöglichkeiten der Bibliotherapie in der klinisch sozialarbeiterischen Behandlung und Beratung herausarbeiten zu können.
In der sogenannten Bibliotherapie werden literarische Materialien zur Unterstützung einer Behandlung herangezogen. Die Literatur soll dabei die behandelnde Person keineswegs ersetzen, sondern gezielt und auf den individuellen Fall abgestimmt in die Behandlung oder Beratung integriert werden.
Auch wenn der bibliotherapeutische Ansatz seit geraumer Zeit bekannt ist, wird die Bibliotherapie meistenteils in anglo-amerikanischen Ländern, insbesondere von Psycholog*innen, Psychiater*innen und Mediziner*innen, zur Behandlung von psycho-somatischen Problemlagen eingesetzt. Im deutschsprachigen Raum findet die Bibliotherapie erst sukzessive Anwendung. Die vorliegende Arbeit hat aus diesem Grund das Ziel, einen Beitrag zur Verbreitung der bibliotherapeutischen Methode zu leisten, indem sie der Profession der Klinischen Sozialarbeit die Einsatzmöglichkeiten der Bibliotherapie vorstellt und die Eignung der Methode für die psychosoziale Behandlung in der Klinischen Sozialarbeit untersucht. Aufgrund dessen beschäftigt sich die Ausarbeitung mit der Frage, inwiefern sich die Bibliotherapie als methodischer Baustein für die Klinische Sozialarbeit eignet.
Die Arbeit gliedert sich in die Beschreibung der Konzeption und Wirkungsweise der bibliotherapeutischen Methode, die Erläuterung der Konzeption der Klinischen Sozialarbeit, eine Untersuchung der Einsatzmöglichkeiten der Bibliotherapie im klinisch sozialarbeiterischen Vorgehen und abschließend die Diskussion der Ergebnisse. Um ein Verständnis für das behandelte Thema herzustellen, wird zunächst im 2. Kapitel ein historischer Überblick über die Entwicklung der Bibliotherapie gegeben. Im folgenden Kapitel wird die Bibliotherapie definiert und in ihren verschiedenen Anwendungsformen erläutert. Im 3. Kapitel werden außerdem die Grundzüge der Bibliotherapie dargestellt, indem das Vorgehen in den verschiedenen Anwendungsbereichen sowie die beruflichen Qualifikationen beleuchtet werden. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit ist die theoretische Untersuchung der Wirkungsweise der Bibliotherapie, indem die Ziele und Funktionen der Methode im 4. Kapitel erläutert werden. Es folgt eine kurze Betrachtung der aktuellen Studienlage zur Wirksamkeit des Verfahrens. Anschließend werden im 4. Kapitel auch die Nebenwirkungen und Grenzen der Methode herausgearbeitet. Um die Eignung der bibliotherapeutischen Methode für die klinisch sozialarbeiterische Vorgehensweise prüfen zu können, wird im 5. Kapitel der Arbeit der Gegenstand der Klinischen Sozialarbeit bestimmt. Es werden therapeutische Elemente in der Profession sowie Grundformen der psychosozialen Behandlung beleuchtet. Im nachfolgenden Kapitel wird analysiert, inwiefern die Bibliotherapie bei einzelnen Elementen der psychosozialen Intervention unterstützend eingesetzt werden kann. Außerdem werden die Einsatzmöglichkeiten der Methode in verschiedenen Klientelgruppen untersucht. Zuletzt erfolgt im 7. Kapitel die Diskussion der Ergebnisse, bei welcher die Umsetzbarkeit der bibliotherapeutischen Anwendung in der Klinischen Sozialarbeit durch eine Darstellung der Voraussetzungen, Chancen und Grenzen des methodischen Bausteins ergründet wird. Es folgt eine kritische Betrachtung der Ergebnisse. Eine Schlussbemerkung über die gewonnenen Erkenntnisse schließt die Ausarbeitung ab.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2 Geschichte der Bibliotherapie
3. Konzept der Bibliotherapie
3.1 Definition Bibliotherapie
3.2 Formen der Bibliotherapie
3.2.1 Institutionelle, klinische und entwicklungsfördernde Bibliotherapie
3.2.2 Rezeptive und produktive Bibliotherapie
3.2.3 Fiktionale und didaktische Bibliotherapie
3.2.4 Therapeutisch begleitete und selbstverantwortete Bibliotherapie
3.2.5 Adjuvant symbolische oder induktive Bibliotherapie
3.3 Anwendungsbereiche und Vorgehen beim Einsatz von Bibliotherapie
3.3.1 Setting
3.3.2 Indikation
3.3.3 Literaturauswahl
3.3.4 Therapeutische Betreuung
3.3.5 Therapeutische Beziehung
3.4 Berufliche Qualifikation
4. Wirkungsweise der Bibliotherapie
4.1 Ziele der Bibliotherapie
4.2 Funktionen der Bibliotherapie
4.2.1 Information- und Überlieferungsfunktion
4.2.2 Funktion des Iso-Prinzips
4.2.3 Funktion der Identifikation, Projektion, Katharsis und Einsicht
4.2.4 Spiegelfunktion
4.2.5 Modellfunktion
4.2.6 Achtsamkeits- und Erholungsfunktion
4.2.7 Stärkung der Resilienz und Sinnhaftigkeit
4.2.8 Förderung von Phantasie und Regression
4.2.9 Mobilisierungsfunktion
4.3 Wirkungsnachweis der Bibliotherapie
4.4 Grenzen und Nebenwirkungen der Bibliotherapie
5. Konzept der Klinischen Sozialarbeit
5.1 Gegenstandsbestimmung
5.2 Therapeutische Elemente in der Klinischen Sozialarbeit
5.3 Psychosoziale Behandlung
6. Einsatzmöglichkeiten der Bibliotherapie in der Klinischen Sozialarbeit.
6.1 Integration der Bibliotherapie in die psychosoziale Behandlung
6.1.1 Beziehungsaufbau
6.1.2 Soziale Diagnostik
6.1.3 Behandlungssetting
6.1.4 Verstehend-erklärender Umgang mit Symptomen
6.1.5 Kompetenzförderung und Ressourcenaktivierung
6.1.6 Alltags- und Lebensweltorientierung der Methode
6.1.7 Veränderungsarbeit
6.1.8 Soziale Gruppenarbeit
6.2 Bibliotherapeutische Ansatzpunkte für Zielgruppen der Klinischen Sozialarbeit
6.2.1 Kinder und Jugendliche mit Beeinträchtigungen
6.2.2 Menschen mit psychischen Erkrankungen
6.2.3 Menschen mit Abhängigkeitserkrankungen
6.2.4 Menschen mit chronischen Erkrankungen
6.2.5 Traumatisierte Personen
6.2.6 Straffällig gewordene Menschen
7. Diskussion
7.1 Bibliotherapie als methodischer Baustein in der Klinischen Sozialarbeit
7.1.1 Voraussetzung der Methodenanwendung für die Fachsozialarbeiter*innen
7.1.2 Chancen für die psychosoziale Behandlung
7.1.3 Chancen für die Adressatinnen
7.1.4 Chancen für die Klinischen Sozialarbeiterinnen
7.1.5 Grenzen der Methodenanwendung
7.2 Diskussion der Ergebnisse
8. Schlussbemerkung
Glossar
Anhang
Anhang 1: Anwendungsbereiche der Bibliotherapie
Anhang 2: Möglichkeiten der verschiedenen Literaturgattungen
Literaturverzeichnis
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Abstract
Die Bibliotherapie ist ein vielversprechender, psychotherapeutischer Ansatz, der im Gegensatz zu anderen (anglo-amerikanischen) Ländern im deutschsprachigen Raum noch wenig angewendet wird. Das Ziel dieser Arbeit ist es, die bibliotherapeutische Methode der Klinischen Sozialarbeit vorzustellen und ihre Eignung für das psychosoziale Behandlungskonzept der Profession zu überprüfen.
Im Rahmen dieser Literaturarbeit wird eine historische und definitorische Einführung in die Bibliotherapie gegeben. Es wird auf die verschiedenen Formen und Anwendungsbereiche der Methode eingegangen und dargestellt, was es beim bibliotherapeutischen Vorgehen zu beachten gilt. Daraufhin werden die Ziele und Funktionen sowie die Grenzen und Nebenwirkungen der Bibliotherapie herausgearbeitet. Anschließend werden die Grundzüge der Klinischen Sozialarbeit kurz erläutert, um im weiteren Verlauf die Einsatzmöglichkeiten der Bibliotherapie in der klinisch sozialarbeiterischen Behandlung und Beratung herausarbeiten zu können.
Es zeigt sich, dass die bibliotherapeutische Methode einen Beitrag zur Beratung und Behandlung von physischen und psychischen Erkrankungen sowie zur Prävention und Rehabilitation leisten kann. Durch den Einsatz von Literatur können im Behandlungskontext Bewältigungs- und Lösungsstrategien für gesellschaftliche, alltägliche Probleme erarbeitet werden. Diese Arbeit veranschaulicht weiterhin, dass Bibliotherapie ein nützlicher methodischer Baustein für die psychosoziale Intervention sein kann und unterstützend in die Beratung und Behandlung der Fachsozialarbeiterinnen integriert werden kann. Somit birgt der bibliotherapeutische Ansatz Chancen für die psychosoziale Behandlung im Allgemeinen, die Adressatinnen und die klinisch sozialarbeiterischen Fachkräfte. Jedoch müssen in der Anwendung einige Vorkehrungen getroffen und Kontraindikationen beachtet werden, weshalb die qualifizierende Weiterbildung eine Voraussetzung für die Anwendung ist. Durch die Auseinandersetzung mit der Bibliotherapie in der Klinischen Sozialarbeit wurde außerdem erkannt, dass noch ein großer Bedarf an Forschungsergebnissen bezüglich der Einsatzmöglichkeiten und Wirkung der bibliotherapeutischen Methode besteht. Die Klinische Sozialarbeit könnte sich diesem Umstand annehmen, die Wirkungsforschung in den psychosozialen Arbeitsbereichen verstärken und somit zur Verbreitung der Bibliotherapie beitragen.
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
1. Einleitung
„Das mag für viele übertrieben klingen. Aber über die fundamentale Bedeutung des Lesens in der Persönlichkeitsentwicklung des Menschen, zur Bereicherung des Lebens und als Hilfe in schweren Stunden gibt es keinen Zweifel.“ (Kittler & Munzel, 1989, S. 11)
Dieses Zitat stammt aus einem Werk der beiden Autoren mit pädagogischen und psychologischen Hintergründen, Kittler und Munzel, in welchem sie die Heilkraft des Lesens postulieren. Gestützt von zahlreichen anderen Expert*innen erklären die beiden Autoren in ihren Werken, dass Literatur die Gefühle eines Menschen ansprechen und sogar Veränderungen für das Leben eines Menschen bewirken kann. Daher setzten Kittler und Munzel Literatur zu therapeutischen Zwecken ein (vgl. Kittler & Munzel, 1989).
In diesem Vorgehen sind die beiden Autoren nicht allein. Die Nutzbarmachung von Literatur in der therapeutischen Behandlung reicht in ihren Ursprüngen weit in die Geschichte zurück (vgl. Rubin, 2015). In der sogenannten Bibliotherapie werden literarische Materialien zur Unterstützung einer Behandlung herangezogen (vgl. Peters, 2017). Die Literatur soll dabei die behandelnde Person keineswegs ersetzen, sondern gezielt und auf den individuellen Fall abgestimmt in die Behandlung oder Beratung integriert werden (vgl. Frankl, 1988).
Auch wenn der bibliotherapeutische Ansatz seit geraumer Zeit bekannt ist, wird die Bibliotherapie meistenteils in anglo-amerikanischen Ländern (vgl. Petzold & Orth, 2015c), insbesondere von Psycholog*innen, Psychiater*innen und Mediziner*innen, zur Behandlung von psycho-somatischen Problemlagen eingesetzt (vgl. Pardeck, 1991b). Im deutschsprachigen Raum findet die Bibliotherapie erst sukzessive Anwendung (vgl. Rubin, 2015). Die vorliegende Arbeit hat aus diesem Grund das Ziel, einen Beitrag zur Verbreitung der bibliotherapeutischen Methode zu leisten, indem sie der Profession der Klinischen Sozialarbeit die Einsatzmöglichkeiten der Bibliotherapie vorstellt und die Eignung der Methode für die psychosoziale Behandlung in der Klinischen Sozialarbeit untersucht. Aufgrund dessen beschäftigt sich die Ausarbeitung mit der Frage, inwiefern sich die Bibliotherapie als methodischer Baustein für die Klinische Sozialarbeit eignet.
Die vorliegende Arbeit gliedert sich in die Beschreibung der Konzeption und Wirkungsweise der bibliotherapeutischen Methode, die Erläuterung der Konzeption der Klinischen Sozialarbeit, eine Untersuchung der Einsatzmöglichkeiten der Bibliotherapie im klinisch sozialarbeiterischen Vorgehen und abschließend die Diskussion der Ergebnisse. Um ein Verständnis für das behandelte Thema herzustellen, wird zunächst im 2. Kapitel ein historischer Überblick über die Entwicklung der Bibliotherapie gegeben. Im folgenden Kapitel wird die Bibliotherapie definiert und in ihren verschiedenen Anwendungsformen erläutert. Im 3. Kapitel werden außerdem die Grundzüge der Bibliotherapie dargestellt, indem das Vorgehen in den verschiedenen Anwendungsbereichen sowie die beruflichen Qualifikationen beleuchtet werden. Ein wichtiger Bestandteil der Arbeit ist die theoretische Untersuchung der Wirkungsweise der Bibliotherapie, indem die Ziele und Funktionen der Methode im 4. Kapitel erläutert werden. Es folgt eine kurze Betrachtung der aktuellen Studienlage zur Wirksamkeit des Verfahrens. Anschließend werden im 4. Kapitel auch die Nebenwirkungen und Grenzen der Methode herausgearbeitet. Um die Eignung der bibliotherapeutischen Methode für die klinisch sozialarbeiterische Vorgehensweise prüfen zu können, wird im 5. Kapitel der Arbeit der Gegenstand der Klinischen Sozialarbeit bestimmt. Es werden therapeutische Elemente in der Profession sowie Grundformen der psychosozialen Behandlung beleuchtet. Im nachfolgenden Kapitel wird analysiert, inwiefern die Bibliotherapie bei einzelnen Elementen der psychosozialen Intervention unterstützend eingesetzt werden kann. Außerdem werden die Einsatzmöglichkeiten der Methode in verschiedenen Klientelgruppen untersucht. Zuletzt erfolgt im 7. Kapitel die Diskussion der Ergebnisse, bei welcher die Umsetzbarkeit der bibliotherapeutischen Anwendung in der Klinischen Sozialarbeit durch eine Darstellung der Voraussetzungen, Chancen und Grenzen des methodischen Bausteins ergründet wird. Es folgt eine kritische Betrachtung der Ergebnisse. Eine Schlussbemerkung über die gewonnenen Erkenntnisse schließt die Ausarbeitung ab.
2. Geschichte der Bibliotherapie
Die Verwendung von Texten, Schriften und Büchern für heilende und therapeutische Zwecke reicht in ihren Ursprüngen weit in die Geschichte der Menschen zurück. Schon in der griechischen und römischen Antike war die Heilkraft des geschriebenen Wortes bekannt (vgl. Kittler, 1988). So verordnete der griechische Arzt Soranos von Ephesos seinen manisch kranken Patientinnen das Lesen von Tragödien und depressiv Erkrankten das Lesen von Komödien (vgl. Rojcewicz, 1999). Die Nutzbarmachung und Überzeugung der Heilkraft des Lesens und der Sprache lässt sich ebenso im Mittelalter finden. Davon zeugt, dass die im 10. Jahrhundert gegründete Medizinschule von Salerno die hohe Priorität des Lesens und der Worte mit dem Wahlspruch „Erst kommt das Wort, dann die Arznei und dann das Messer“ (Kittler, 1988, S. 12 f.) deutlich machte. Auch der Theologe und Schriftsteller Johannes Friedrich Stark erzielte mit seinem Werk „Tägliches Handbuch in guten und bösen Tagen, für Gesunde, Betrübte, Kranke und Sterbende“, welches er 1787 für die an innerer oder äußerer Not leidenden Menschen seiner Zeit verfasste, großen Erfolg (vgl. ebd.). Zum Ende des 18. Jahrhunderts reformierten einige humanistisch verortete Mediziner, wie Pinel (Frankreich), Chi- arugi (Italien) und Tuke (England), die Behandlung von psychischen Erkrankungen, indem sie ihren Patientinnen neben anderen Maßnahmen auch das Lesen von Büchern zur Regeneration verschrieben (vgl. Rubin, 2015).
Der Ursprung einer modernen wissenschaftlichen Bibliotherapie war eng verwoben mit der Entwicklung des modernen Büchereiwesens sowie dem zunehmenden Einsatz von Büchern in psychiatrischen Kliniken (vgl. Petzold & Orth, 2015a). In Amerika vertrat der Mediziner Benjamin Rush im Jahr 1802 die Ansicht, dass Bibliotheken in klinischen Einrichtungen zu integrieren sind. Rush leistete Pionierarbeit, wenn es darum ging, verschiedenste Textarten als methodisches Hilfsmittel in die Psychotherapie einzubauen und ausgewählte Texte für bestimmte Krankheitsbilder zu empfehlen. Hierbei verknüpfte er bereits mehrere Herangehensweisen, wie das leise und laute Vorlesen, Auswendiglernen oder Abschreiben prägnanter Textstellen (vgl. Kittler, 1988; Petzold & Orth, 2015a). Die Herangehensweise der Bibliotherapie wurde des Weiteren von dem Arzt John Minson Galt II geprägt. In einem Exposé hält Galt im Jahr 1847 fünf Grundannahmen seiner Theorie über den therapeutischen Einsatz von Literatur fest:
1. Während der kognitiven Beschäftigung mit literarischen Texten werden morbide Gedanken und wahnhafte Vorstellungen für diese Zeit ausgeschlossen.
2. Lesen kann zum einen als Zeitvertreib dienlich sein und zum anderen chronisch kranken Personen, welche das Gefühl für Zeit verlernt haben, neue Erfahrungen für das Zeitgefühl vermitteln.
3. Ausgewählte Literatur kann zur edukativen Informationsvermittlung in der therapeutischen Behandlung hilfreich sein.
4. Das pflegende Personal kann durch die Weitergabe von Büchern ihre Wertschätzung und Freundlichkeit ausdrücken und ein Gesprächsklima aufbauen.
5. Durch die Beschäftigung mit Literatur sind die behandelten Personen zufriedener und umgänglicher und erlernen Verhaltenskontrolle und -steuerung (vgl. Kittler, 1988; Petzold & Orth, 2015a).
Nachdem man im 19. Jahrhundert erkannt hat, dass Literatur zur Entfaltung der Persönlichkeit sowie zur Strukturierung, Stabilisierung und Heilung der menschlichen Psyche beiträgt, wurde in der Folgezeit in den USA vermehrt experimentell und empirisch erforscht, inwiefern sachliche und literarische Texte für therapeutische Prozesse nutzbar sind (vgl. Kittler, 1988). Eine besondere Rolle spielte ab dem Jahr 1916 der amerikanische Pastor und Schriftsteller Samuel McCord Crothers. Er lehrte den Studierenden der Western Reserve Library School in Cleveland Literatur daraufhin zu untersuchen, inwiefern sie einen therapeutischen Zweck erfüllt und eine stimulierende oder eine beruhigende, eine irritierende oder eine einschläfernde Wirkung auf die lesende Person ausübt. In der bibliotherapeutischen Einzeltherapie war Crothers nicht nur der positiven Wirkung eines bestimmten Textes in Bezug auf den zu erwartenden Effekt auf individuelle Problemlagen bedacht. Von großer Bedeutung waren für ihn auch die individuelle Phantasie und der Wille der lesenden Person, sich mit dem Lesen eines Textes weiterzuentwickeln (vgl. Crothers, 1917). Zeitgleich verbreitete sich die Anwendung der Bibliotherapie während dem ersten Weltkrieg in psychiatrischen Kliniken und Einrichtungen für Kriegsveteran*innen, wodurch die Entwicklung der Bibliotherapie einen deutlichen Aufschwung erlebte. Die Blütezeit der Bibliotherapie lässt sich in den 1930er Jahren einordnen, da zu dieser Zeit die Forschungen und deren Veröffentlichungen zu diesem Themengebiet bedeutend zunahmen (vgl. Rubin, 2015). So wurden anfängliche wissenschaftliche Untersuchungen zur Bibliotherapie in den 1930er Jahren durch Karl Menninger und seinem Vater Charles Frederick Menninger in der von ihnen gegründeten Menninger-Klinik durchgeführt (vgl. Petzold & Orth, 2015a). 1939 wurde das erste Komitee der Bibliotherapie durch das Hospital Division of the American Library Association errichtet, welches der Behandlung durch Literatur einen offiziellen Status in den Bibliothekswissenschaften zuschrieb und in den 4 darauffolgenden 40 Jahren zahlreiche Veröffentlichungen und Forschungsprojekte verantwortete. In den 30er und 40er Jahren gab die aufstrebende Entwicklung der Gruppentherapien, insbesondere die nach dem zweiten Weltkrieg entwickelten Modelle kreativer Gruppentherapien, bedeutende Impulse zur Fortschrittlichkeit der Bibliotherapie. In diesem Zeitraum etablierte sich die Gruppentherapie mit kreativ-therapeutischen Methoden zunehmend in den psychiatrischen Kliniken, während zeitgleich weitere wissenschaftliche Untersuchungen und deren Erkenntnisse zur Bibliotherapie nicht nur in medizinischen, sondern auch in pädagogischen und psychologischen Fachkreisen verbreitet wurden (vgl. Rubin, 2015). So untersuchte Caroline Shrodes im Jahr 1949 in ihrer Dissertation „Bibliotherapy: A theoretical and clinical experimental study“ an der University of California erstmalig das Grundkonzept, die Methodik sowie die Wirkungen der Bibliotherapie und legte mit ihren Erkenntnissen eine Grundlage für die heutige Konzeption der Bibliotherapie fest (vgl. Shrodes, 1949).
Während die Bibliotherapie mit der Gründung der „National Association for Poetry Therapy“ 1969 in den USA vermehrt angewendet wurde (vgl. NAPT, o.J.), wurde ihre Verbreitung in Deutschland besonders durch den Psychologen und Philosophen Hila- rion Petzold gefördert, welcher seit 1965 bibliotherapeutisch behandelt. Im Jahr 1972 gründete er gemeinsam mit der Psychotherapeutin Ilse Orth das Fritz Perls Institut für integrative Therapie, heute die staatlich anerkannte Europäische Akademie für bio- psycho-soziale Gesundheit, Naturtherapien und Kreativitätsförderung (kurz EAG). Seit der Gründung werden hier verschiedenste Berufsgruppen, wie bspw. Psychothera- peut*innen, Sozialarbeiter*innen oder Bibliothekar*innen auf Weiterbildungsseminaren mit dem Verfahren der integrativen Poesie- und Bibliotherapie vertraut gemacht, welches auf tiefenpsychologischen und gestalttherapeutischen Grundlagen beruht. Auf Initiative des Fritz Perls Instituts wurde 1984 die „Deutschsprachige Gesellschaft für Poesie und Bibliotherapie“ (kurz DGPB) ins Leben gerufen, welche sich für die Qualitätssicherung sowie die wissenschaftlich-methodische Weiterentwicklung und Lehre des bibliotherapeutischen Vorgehens einsetzt (vgl. DGPB, 2022b; Petzold & Orth, 2015c).
Mit Publikationen über theoretische und praktische Erfahrungen der Bibliotherapie hat sich in Deutschland zwischen 1970 und 1990 besonders der Verlag Herder profiliert. So erschien unter dem Titel „Heilkraft des Lesens“ im Jahr 1988 ein Sammelband, der zum Ziel hatte, über die Therapie mit Büchern und deren Anwendungsgebiete aufzuklären (vgl. Raab, 1988). Ebenfalls mit dem Herder Verlag gaben Kittler und Munzel im Jahr 1989 das Buch „Lesen ist wie Wasser in der Wüste“ heraus, um zu verdeutlichen, auf welche Weise das Buch ein hilfreicher Begleiter in verschiedenen Lebenslagen sein kann (vgl. ebd.). 1985 veröffentlichten Petzold und Orth einen Sammelband „Poesie und Therapie: Über die Heilkraft der Sprache“, um die heilende Wirkung von Literatur und die therapeutischen Möglichkeiten des Lesens und Schreibens mittels Erfahrungsberichten von Psychotherapeut*innen, Schriftsteller*innen, Ärzt*innen und Literaturwissenschaftler*innen zu verdeutlichen (vgl. Petzold, 1985). Der Sammelband erschien 2015 bereits in der 3. Auflage (vgl. Petzold & Orth, 2015b). Die Medizinerin und Poesietherapeutin, Prof. Dr. Silke Heimes, publiziert im deutschsprachigen Raum jüngste Veröffentlichungen über die Möglichkeiten von Lesen und Schreiben (vgl. Heimes, 2022).
Der kurze Überblick über die weitreichenden Wurzeln der Bibliotherapie verdeutlicht die steigende Bedeutsamkeit des Verfahrens. Die Veröffentlichungen und Forschungsarbeiten, die teilweise weit in der Geschichte zurück liegen und hier nur beispielhaft aufgeführt wurden, beeinflussen die Arbeit der gegenwärtigen Bibliothera- peut*innen nach wie vor .
3. Konzept der Bibliotherapie
Nachdem ein einführendes Verständnis für den Themenbereich dieser Arbeit durch den kurzen geschichtlichen Abriss der Bibliotherapie gegeben wurde, werden nun die Grundzüge der Methode näher erläutert. Dabei wird zunächst der Begriff Bibliotherapie verständlich gemacht. Im nächsten Schritt werden die für die weiteren Ausführungen bedeutenden Formen des bibliotherapeutischen Vorgehens verdeutlicht. Darüber hinaus werden die Anwendungsbereiche und das Vorgehen beim Einsatz der Bibliotherapie genauer beschrieben. Das Kapitel schließt mit einer Betrachtung der beruflichen Qualifikation für bibliotherapeutisches Vorgehen ab.
3.1 Definition Bibliotherapie
Der Begriff „Bibliotherapie“ setzt sich aus den griechischen Wörtern „biblion“ für Buch und „therapeia“ für Heilung zusammen und wurde erstmalig 1916 von dem amerikanischen Pastor Samuel Crothers eingeführt. Definiert wird der Terminus „Bibliotherapie“ unter anderem von Kittler (1988) als „Nutzbarmachung der Literatur zu therapeutischen Zwecken“ (ebd., S.12). Das klinische Wörterbuch Pschyrembel beschreibt den Begriff als eine „Form der Psycho- und Kunsttherapie, bei der der Patient durch Lektüre geeigneter Literatur oder die Produktion von Texten darin unterstützt werden soll, die eigene emotionale Ausdrucksfähigkeit zu fördern und verbessern.“ (Pschyrembel, 2020, S. 224).
Für Rubin (2015) ist der Begriff „Bibliotherapie“ für das heutige multimediale Zeitalter zu beschränkt, da sie der Ansicht ist, dass alle audiovisuellen Medien in die Behandlung und Beratung eingebunden werden können. Auch der Terminus „Therapie“ ist ihrer Ansicht nach ungünstig gewählt, da Bibliotherapie nicht das vollständige Heilen, sondern die Aufklärung anstrebt (vgl. ebd.). Rubin bestimmt hingegen keinen anderen Begriff, sondern betrachtet ihn als ein „Programm für Aktivitäten auf der Basis der Interaktionsprozesse zwischen den Medien und ihren Konsumenten. Gedrucktes und nichtgedrucktes, imaginatives und informatives Material wird unter der Mitwirkung eines Therapeuten erfahren und besprochen“ (Rubin, 1978, zit. nach Rubin, 2015, S. 103).
Die Autorin Orth und der Autor Petzold (2015a) betrachten Therapie als einen schöpferischen und integrativen Prozess (vgl. ebd.). Die Bibliotherapie ist ihrer Ansicht nach ein methodischer Bestandteil der integrativen, kreativen Therapieform, die seit Beginn 7 der Behandlungen psychisch erkrankter Personen angewendet wird und in den letzten Jahrzehnten eine eigenständige Entwicklung eingenommen hat. Während sich andere kreative Therapiemethoden, wie bspw. die Musiktherapie, die Bewegungs- und Tanztherapie sowie die Kunsttherapie dagegen durch die Akzentuierung und Beobachtung des nonverbalen Ausdrucks charakterisieren, macht sich die Bibliotherapie das therapeutische Medium Sprache sowie literarische Texte als Hilfsmittel zu Nutze (vgl. ebd.). Obgleich die Bibliotherapie nicht als eigenständiges Behandlungsverfahren bzw. eigenständige Therapieschule geltend gemacht werden kann, wird sie inzwischen als eigenständige Methode in der Behandlung von Personen mit psychischen und psycho-somatischen Erkrankungen und der Beratung bei Problem- und Belastungssituationen angesehen, da sie auf vorhandene anthropologische Konzepte, Persönlichkeitstheorien und Krankheitslehren Bezug nimmt (vgl. Petzold & Orth, 2015c).
Die Methode der Bibliotherapie kann in die psychotherapeutische Behandlung integriert werden. Sie ist dabei nicht an eine bestimmte Therapieschule, wie die Psychoanalyse oder Verhaltenstherapie, gebunden, sondern stellt eine offene, facettenreiche Methode dar, die in jedem Beratungs- und Behandlungskontext eingesetzt werden kann (vgl. Engelhardt, 1987).
Der Terminus „Poesietherapie“ wird zumeist für den produktiven Ansatz der Bibliotherapie verwendet. Während in der gängigen Bibliotherapie auf bereits verfügbares, literarisches Gedankengut als Medium zurückgegriffen wird, werden in der Poesietherapie Personen zum selbstständigen Schreiben eigener Texte aufgefordert. Hierbei sollen erlebte Situationen und erfahrene Gefühle beschrieben werden und nach Möglichkeit in der Einzel- oder Gruppentherapie diskutiert werden (vgl. Petzold & Orth, 2015a). Obwohl die Ursprünge der beiden Therapiemethoden auf unterschiedlichen Quellen beruhen, lassen sich die beiden Ansätze in der geschichtlichen Darstellung sowie in der praktischen Umsetzung nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen. Zudem führen die Begründerin und der Begründer des Deutschen Instituts für Poesie- und Bibliotherapie, Orth und Petzold, die beiden Therapiemethoden beständig zusammen (vgl. Räuchle, 2018). Aus diesen Gründen wird in der vorliegenden Arbeit unter der Verwendung des Überbegriffs Bibliotherapie sowohl auf den rezeptiven als auch den produktiven Ansatz Bezug genommen.
Im englischsprachigen Raum lässt sich eine Vielzahl von synonym gebrauchten Bezeichnungen, wie bspw. „bibliocounseling“, „bibliopsychology“, „bookmatching“, „library therapeutics“, „literatherapy“ (vgl. Pardeck & Pardeck, 1993), finden. Weitere 8 Begriffe, die in diesem Kontext bekannt sind, sind „Bibliodiagnostik“, bei der Texte zur Klärung der Art von Symptomen und Problemen verwendet werden, und „Biblioprophylaxe“, bei der Texte zur Prävention von Krankheiten eingesetzt werden (vgl. Grahl- mann & Linden, 2005).
Wie oben bereits erwähnt, werden diverse andere Medien neben der klassischen Literatur zum Gebrauch in der Bibliotherapie herangezogen. So können bspw. auch Videos oder Filme als therapeutisches Hilfsmittel verwendet werden oder das Internet zur Informationsgewinnung herangezogen werden (vgl. Döring & Eichenberg, 2007; Rubin, 2015). Die Verwendung digitaler Medien innerhalb eines Beratungs- oder Be- handlungskontexts stellt jedoch einen gesonderten Diskurs dar, der separat betrachtet werden müsste und in dem vorgegebenen Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist.
3.2 Formen der Bibliotherapie
Die Bibliotherapie, einschließlich der Poesietherapie, stellt keine einförmige Methode dar, sondern beinhaltet eine Auswahl verschiedener Therapiemaßnahmen (vgl. Grahl- mann & Linden, 2005). Das folgende Kapitel gibt einen Überblick über die unterschiedlichen Formen der Methode, um deren Verwendung im weiteren Verlauf verständlich zu machen.
3.2.1 Institutionelle, klinische und entwicklungsfördernde Bibliotherapie
Aufgrund der verschiedenen Anwendungsbereiche der Bibliotherapie differenziert die Autorin Rubin (2015) bei der Therapieform drei Bereiche: die institutionelle, die klinische und die entwicklungsfördernde Bibliotherapie. Institutionelle Bibliotherapie ist die Verwendung zumeist didaktischer Literatur einer behandelnden Person bei einzelnen ambulant oder stationär betreuten Patientinnen. Zu dieser traditionellen Form des Behandlungsvorgangs gehört das Anbieten psychohygienischer Literatur für psychisch erkrankte Patientinnen als eine Art „Rezept“. Die Literatur kann bei dieser Form der Bibliotherapie als reine Informationsgabe dienen oder aber als entspannungs- oder einsichtsförderndes Hilfsmittel eingesetzt werden. Unter der klinischen Bibliotherapie versteht Rubin die Besprechung von überwiegend erzählender Literatur in Gruppentherapien für Patient*innen mit Verhaltensauffälligkeiten und seelischen Problemlagen. Die Einheiten dieser Therapieform finden weitgehend in einer klinischen Einrichtung mit dem Ziel der Verhaltenseinsicht bis hin zur Verhaltensänderung statt. Bei der entwicklungs- oder wachstumsfördernden Bibliotherapie wird mit imaginativer oder 9 didaktischer Literatur in Gruppen mit Teilnehmerinnen ohne spezifischen Hintergrund gearbeitet (vgl. ebd.). Diese Form der Bibliotherapie kann in verschiedenen Kontexten, wie bspw. Bibliotheken oder Schulen, und von unterschiedlichen Berufsgruppen ausgeführt werden, um die gesunde Entwicklung, Selbstverwirklichung und Erhaltung der psychischen Gesundheit zu fördern. Auch dient die entwicklungsfördernde Bibliotherapie dazu, Personen bei der Bewältigung von gesellschaftlichen Aufgaben und persönlichen Problemlagen, wie bspw. Scheidung, Tod oder Schwangerschaft, zu unterstützen (vgl. ebd.).
3.2.2 Rezeptive und produktive Bibliotherapie
Wie oben bereits erläutert, kann innerhalb der Bibliotherapie zwischen einem rezeptiven und produktiven Ansatz differenziert werden. Im rezeptiven Vorgang werden Texte, die der Problematik oder dem Störungsbild nach ausgewählt werden, von der teilnehmenden Person selbstständig gelesen oder von der behandelnden Person vorgelesen. Es geht dabei um das Empfangen und das Verstehen der Wirkung der Literatur (vgl. Petzold & Orth, 2015a). Hynes und Hynes-Berry (1986) unterscheiden innerhalb der rezeptiven Form noch zwischen der interaktiven und lesenden Bibliotherapie. Während der interaktive Ansatz darauf abzielt, eine themenbezogene Diskussion zwischen der behandelten Person und der Fachkraft oder aber zwischen behandelten Personen untereinander zu erreichen, geht es in der lesenden Form der Bibliotherapie lediglich um das rezeptive Aufnehmen des Inhalts der Literatur (vgl. ebd.).
Dagegen soll die behandelte Person im produktiven Vorgehen aktiv eigene Werke, Texte, Gedichte oder Geschichten kreieren. Für den produktiven Ansatz der Bibliotherapie lassen sich in der Literatur verschiedenste Begriffe, wie etwa expressives, kreatives und therapeutisches Schreiben oder Schreibtherapie finden. Die Zielsetzungen des produktiven Vorgehens sind das Finden neuer Ausdrucks- und Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb selbstgestalteter Texte, die Möglichkeit der Problem- und Erlebnisverarbeitung sowie das Erreichen von Selbstwirksamkeit durch das Schaffen eigener Texte (vgl. Petzold & Orth, 2015a; Vollmer & Wibmer, 2002). Je nach Therapieverlauf und Indikation kann auch die Kombination aus dem rezeptiven und produktiven Ansatz angewendet werden. Hierbei wird der teilnehmenden Person bspw. eine Textstelle vorgelesen und im Anschluss wird sie aufgefordert, die Geschichte selbstständig fortzuführen (vgl. Petzold & Orth, 2015a).
3.2.3 Fiktionale und didaktische Bibliotherapie
In der Bibliotherapie kann durch die Verwendung von fiktionaler oder didaktischer Literatur Unterschiedliches bezweckt werden. Nach Shrodes (1949) findet während dem Lesen fiktionaler Texte ein interaktiver Prozess zwischen der lesenden Person und der Literatur statt. In diesem Prozess können Emotionen, die die persönliche Entwicklung des Lesers fördern, ausgelöst werden. Fiktionale Literatur, wie bspw. Dramen, Romane oder Gedichte, kann zur Darstellung und Behandlung emotionaler Probleme verhelfen, indem sie menschliches Verhalten dramatisch präsentiert und somit eine phantasievolle Reaktion der lesenden Person auslösen kann (vgl. ebd.).
Durch didaktische Literatur wird in der Bibliotherapie Informationsvermittlung und die Förderung von kognitivem Lernen angestrebt. Diese Form der Literatur wird besonders in der Verhaltenstherapie (vgl. Frude, 2004) und der somatischen Medizin (vgl. Linden, 1997) verwendet. Insbesondere Literatur über das individuelle Erkrankungsbild wird angewendet, um die Krankheitseinsicht, das Problemverständnis oder die Behandlungskooperation bei den behandelnden Personen zu fördern (vgl. Grahlmann & Linden, 2005).
3.2.4 Therapeutisch begleitete und selbstverantwortete Bibliotherapie
Glasgow und Rosen (1978) differenzieren in der Bibliotherapie zwischen verschiedenen Intensitätsgraden des Austauschs zwischen behandelnder und behandelter Person:
1. Keine Beteiligung einer Therapeutin/ eines Therapeuten: Die behandelte Person wählt die Literatur selbst aus und steht in keinem Austausch zu einer behandelnden Person.
2. Minimale Beteiligung einer Therapeutin/ eines Therapeuten: Die behandelte Person beschäftigt sich eigenständig mit der selbst ausgewählten Literatur, kann sich aber mit einer behandelnden Person austauschen.
3. Empfehlung einer Therapeutin/ eines Therapeuten: Die behandelnde Person empfiehlt der behandelten Person bestimmte Texte und steht für aufkommende Fragen und weitere Diskussionsthemen in den Einzel- oder Gruppensitzungen zur Verfügung.
4. Anleitung einer Therapeutin/ eines Therapeuten: Die Literatur fungiert als grundlegendes Hilfsmittel innerhalb der therapeutischen Sitzungen (vgl. ebd.).
3.2.5 Adjuvant symbolische oder induktive Bibliotherapie
Die Bibliotherapie lässt sich zudem durch adjuvant symbolische oder induktive Maßnahmen erweitern. Hierbei wird im Anschluss zum rezeptiven Ansatz der Bibliotherapie ein weiteres kunsttherapeutisches Verfahren (bspw. die Maltherapie) oder aber auch ein gesprächstherapeutisches Verfahren durchgeführt. Im Fokus dieses Vorgehens steht das intuitive Arbeiten während der Therapie: „Die intuitive Orientierung beinhaltet, sich sinnlich resonant und partnerschaftlich auf den Gesprächspartner einzustimmen und die aufsteigenden Phantasieeinfälle weder subjekt- noch beziehungsbezogen zu deuten“ (Vollmer & Wibmer, 2002, S. 70). In der induktiven Bibliotherapie versucht die behandelnde Person, blockierte Erlebniswelten der behandelten Person empathisch nachzuempfinden, sie bildsprachlich auszudrücken und mit gesprächs- oder anderen kreativtherapeutischen Methoden weitere Assoziationsräume zu erschaffen. Somit erhält die behandelnde Person einen Einblick in den Krankheitsverlauf und die Symptomatik und kann mit Hilfe dieses Einblicks Gesprächsblockaden lösen (vgl. ebd.).
3.3 Anwendungsbereiche und Vorgehen beim Einsatz von Bibliotherapie
Grundlegend kann die Bibliotherapie sowohl zur Entwicklungsförderung von Personen ohne Verhaltensauffälligkeiten oder Entwicklungsschwierigkeiten, als auch zur Behandlung von Personen mit derartigen Auffälligkeiten oder spezifischen Krankheitsbildern angewendet werden (vgl. Kittler, 1988). In diesem Kapitel wird zunächst erläutert, in welchen möglichen Bereichen Personen mit Bibliotherapie in Berührung kommen können. Da es bei der Anwendung von Bibliotherapie im beratenden und behandelnden Kontext mehrere Aspekte für eine effektive Gestaltung der Methode zu beachten gilt (vgl. Rubin, 2015), wird anschließend beleuchtet, welche Kriterien bei der Auswahl der Literatur, der therapeutischen Begleitung und der Beziehungsgestaltung zu berücksichtigen sind.
3.3.1 Setting
Obgleich die Wirkung der Literatur in der Behandlung von Menschen mit psychischen und somatischen Erkrankungen und individuellen Problemsituationen seit geraumer Zeit bekannt ist, findet das bibliotherapeutische Vorgehen in den deutschsprachigen Ländern erst allmählich Anwendung. Der gezielte Einsatz von Literatur und Poesie im therapeutischen Kontext ist besonders in den anglo-amerikanischen Ländern anerkannt. Dabei lässt sich die Bibliotherapie durch ihre vielseitigen Anwendungsmöglichkeiten in einigen Bereichen des Sozial- und Gesundheitswesens einsetzen (vgl. Petzold & Orth, 2015c). Nachfolgend werden mehrere Anwendungsbereiche exemplarisch erläutert. Außerdem wird dargestellt, was es in dem Behandlungssetting zu beachten gilt.
Medizinische Krankenhäuser
Medizinische Krankenhäuser bieten ein geeignetes Setting für das bibliotherapeutische Vorgehen, weshalb ein Großteil der angewendeten Bibliotherapie in diesem Setting stattfindet. So verfügen einige Kliniken über ein Kontingent an literarischen Materialien sowie die Räumlichkeiten für einzel- oder gruppentherapeutische Aktivitäten. In medizinischen Krankenhäusern ist zumeist therapeutisches Personal vorhanden und die Patientinnen bringen meist ein Interesse an zeitvertreibenden Aktivitäten mit. Während die bibliotherapeutische Behandlung bei Kurzzeit-Patientinnen eine Rekre- ation und Beschäftigung während des klinischen Aufenthalts bezwecken kann (vgl. Rubin, 2015), zielt die Bibliotherapie bei chronisch erkrankten Patient*innen auf die Krankheitseinsicht und -akzeptanz und die Vermittlung neuer Perspektiven und Werte ab (vgl. Kluge, 1988).
Psychiatrische Krankenhäuser
Genau wie medizinische Krankenhäuser bilden auch psychiatrische Krankenhäuser ein günstiges Setting für die Bibliotherapie. Bibliotherapeutische Gruppen lassen sich hier nach Station, Interessensgebieten oder diagnostischen Gesichtspunkten zusammenstellen. In psychiatrischen Kliniken gilt jedoch zu beachten, dass ein Teil der Patientinnen aufgrund ihrer psychischen Erkrankung oder der Medikation nicht zum Lesen oder Artikulieren im Stande ist. Die literarischen Werke, die in psychiatrischen Kliniken zur Verfügung stehen, werden zudem vom therapeutischen Personal sorgfältig ausgewählt oder zensiert (vgl. Rubin, 2015).
Schulen
Auch in schulischen Einrichtungen lässt sich die Bibliotherapie anwenden, um Schülerinnen in ihren Entwicklungsaufgaben und bei akuten Problemlagen zu fördern (vgl. Kokarnig, 2016). Die schulischen Einrichtungen bringen eine Atmosphäre mit sich, die dem Lesen, Schreiben und Diskutieren dienlich ist. Zudem sind in schulischen Einrichtung räumliche und zeitliche Möglichkeiten gegeben (vgl. Rubin, 2015).
Straf- und Maßregelvollzugseinrichtungen
Im Straf- und Maßregelvollzug lässt sich die Bibliotherapie nur unter bestimmen Vorkehrungen durchführen. Zunächst muss sich die Bibliotherapeutin oder der Bibliotherapeut der spezifischen Problemlagen der Klientinnen bewusst sein und sich durch intensive Beziehungsarbeit das Vertrauen zu ihnen gewinnen. Wichtig ist auch, dass das bibliotherapeutische Vorgehen weder als Belohnung noch als Bestrafung angewendet wird. Zudem müssen verschiedene Sicherheitsaspekte beachtet werden, wie etwa die Anwesenheit von Aufseherinnen während Gruppensitzungen und die Zensur der literarischen Materialien (vgl. Krolak, 2020; Rubin, 2015). Dennoch ist die Bibliotherapie neben anderen kreativtherapeutischen Methoden ein hilfreiches und gern angenommenes Verfahren im Straf- und Maßregelvollzug. Die teilnehmenden Personen können in der Bibliotherapie unter anderem traumatische Lebensereignisse aufarbeiten, den Umgang mit der aktuellen Lebenssituation lernen und kognitive, weiterbildende Beschäftigung erhalten (vgl. Krolak, 2020).
Einzel- oder Gruppensetting
In allen Formen der Bibliotherapie ist sowohl das Arbeiten in Gruppen als auch die Einzeltherapie möglich. In der Einzeltherapie führt die behandelnde Person in die Beziehung zwischen ihr und der behandelten Person ein weiteres „drittes“ Element mit entsprechendem Feingefühl ein. Es geht unter anderem darum, die Übertragungsphänomene und Vermeidungsstrategien deutlich zu machen und zu interpretieren. Außerdem können hier verdrängte Emotionen aufgedeckt und reflektiert werden (vgl. Petzold & Orth, 2015a). In dem Beratungsgespräch, begleitend zur Lektüre, können die Fachkräfte zudem einen Perspektivwechsel und eine Verhaltensmodifikation der behandelten Personen anstreben und begleiten (vgl. Kittler, 1988).
Das Gruppensetting ist für Gruppen mit ähnlichen oder unterschiedlichen Persönlichkeitsstrukturen und -störungen geeignet (vgl. Leedy, 2015) und besonders bei sozialen Problemthemen, wie bspw. Isolation, Kontaktvermeidung, übermäßigem Schamgefühl und Regressionstendenzen, hilfreich (vgl. Vollmer & Wibmer, 2002). In der Gruppentherapie wird die Literatur gemeinsam erfahren, es wird sich darüber ausgetauscht und es entsteht eine Gruppendynamik, die eine nicht bedrohliche Exploration der Probleme der Teilnehmerinnen ermöglicht. Die Literatur kann den Gruppenmitgliedern neue Verhaltensmodelle aufzeigen, welche innerhalb eines sicheren Rahmens in der Gruppe erprobt werden können. Auf diesem Weg können innerhalb des bibliotherapeutischen Gruppensettings Widerstände überwunden, Selbsteinsicht und Selbstakzeptanz erlernt und die Sinnhaftigkeit hinter bestimmten Lebensaufgaben erkannt werden (vgl. Lack, 1975). In der produktiven Form der Bibliotherapie werden die Teilnehmer*innen aufgefordert, eigene Texte zu schreiben, um Krisenzeiten, Phasen der Verhaltensänderung oder neu gewonnene Einsichten kreativ im Gruppensetting zu verarbeiten (vgl. Leedy, 2015).
Grundregeln für das Setting der Bibliotherapie
Unabhängig von den Anwendungsbereichen der Bibliotherapie gilt es mehrere Aspekte zu beachten, um die Methode möglichst effektiv zu gestalten. So sollten Ziele und Techniken den jeweiligen Vorteilen oder aber Schwierigkeiten eines Settings angepasst werden. Störfaktoren, die das Therapieprogramm behindern könnten, wie bspw. eine medikamentöse Einstellung, sollten von den Bibliotherapeut*innen berücksichtigt werden. Wie in jedem Therapiekontext gilt es, die räumliche Atmosphäre angenehm, hell und freundlich zu gestalten sowie Ruhe, Vertrautheit und Entspannung anzubieten (vgl. Rubin, 2015).
3.3.2 Indikation
Obwohl Bibliotherapie aufgrund ihrer oft einfachen Anwendungsweise, im Grunde bei fast jedem Erkrankungsbild als begleitende und unterstützende Maßnahme eingesetzt werden kann, haben sich im Laufe der Zeit bestimmte Bereiche als besonders geeignet für die bibliotherapeutische Anwendung gezeigt. Die Untersuchungen und Studien zur Indikation und Wirksamkeit der Bibliotherapie stammen überwiegend aus den USA, da die Bibliotherapie dort in vielen Gesundheitsbereichen Anwendung findet (vgl. Rubin, 2015). Im Anhang1 dieser Ausarbeitung ist eine Auflistung, der in den Studien und Literatur genannten Anwendungsbereiche der Bibliotherapie, zu finden, welche jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Im Folgenden wird auf ausgewählte Personengruppen, bei welchen Bibliotherapie indiziert ist, näher eingegangen, um ein besseres Verständnis des bibliotherapeutischen Vorgehens zu erreichen.
Bibliotherapie bei Personen mit depressiver Symptomatik
Sowohl die rezeptive als auch die produktive Form der Bibliotherapie wird bei der Behandlung von depressiven Symptomen erfolgreich eingesetzt, um die Entwicklung positiver Gefühle und Kognitionen, die Persönlichkeitsentwicklung und eine Verbesserung des Selbstwertgefühls zu erreichen. In der Bibliotherapie erlernen die Teilnehmerinnen sich selbst auf kreative Art und Weise näher zu kommen und erfahren durch die schöpferischen Potentiale der Schreibtherapie mehr Selbstwirksamkeit. Außerdem werden Lösungsstrategien und Verhaltensweisen verinnerlicht, welche den Personen auch außerhalb der Therapie bei der Hilfe zur Selbsthilfe nutzen (vgl. Heimes, 2012).
Bibliotherapie bei Personen mit Essstörungen
Mehrere Studien untersuchen den Einsatz der produktiven Bibliotherapie in der Behandlung von Personen mit einer Essstörungssymptomatik. In den Untersuchungen werden die Teilnehmer*innen meist gebeten, über ihr Körperbild oder belastende Situationen zu schreiben. Die Forschungsergebnisse zeigen eine Verbesserung des Körperbilds und der Stimmung sowie eine Reduktion der Essstörungssymptomatik nach dem Einsatz von Schreibtherapie (vgl. Earnhardt, Martz, Ballard & Curtin, 2002; Frayne & Wade, 2006; Lafont, 2011).
Bibliotherapie bei Personen mit posttraumatischen Belastungsstörungen
Schmid (2018) beschreibt wie die Bibliotherapie in der psychotherapeutischen Behandlung von Klient*innen mit posttraumatischen Belastungsstörungen eingesetzt werden kann. Um eine Retraumatisierung durch die Konfrontation mit bestimmten Texten zu vermeiden, ist eine bedachte Literaturauswahl und eine vorausschauende Therapieplanung vonnöten. Zunächst empfiehlt der Autor daher einen Text zur Ressourcenaktivierung auszuwählen. Im Verlauf der Therapie kann dann auch auf Literatur mit klärungsorientierten Ansätzen zurückgegriffen werden, welche traumatische Erlebnisse beschreiben. Haben die behandelten Personen bereits gelernt, über ihre belasteten Erlebnisse zu sprechen und zu reflektieren, kann im weiteren Verlauf Literatur verwendet werden, die ihnen beim Finden des eigenen Lebenssinns verhilft (vgl. ebd.).
Bibliotherapie bei Personen mit Abhängigkeitserkrankungen
Klientinnen mit Drogen- oder Alkoholsuchtproblemen haben durch ihre häufig vorhandene (Gruppen-) Therapieerfahrung bereits gelernt, wie man das innere Erleben und eigene Verhalten beschreiben und analysieren kann. Häufig kann in der Bibliotherapie mit dieser Klientel bereits mit anspruchsvollen Materialien gearbeitet werden und eine Einsicht und Verhaltensänderung angestrebt werden (vgl. Rubin, 2015).
Bibliotherapie mit Kindern und Jugendlichen
Das bibliotherapeutische Vorgehen lässt sich auch bei Kindern und Jugendlichen anwenden. Sowohl die produktive als auch die rezeptive Form der Bibliotherapie kann Kindern und Jugendlichen einen spielerischen oder kreativen Rahmen bieten. Hierbei können sie den Grenzen und Vorgaben des Alltags entfliehen, die eigene Selbstwirksamkeit stärken und potentielle Lösungsstrategien durch die Geschichten kennenlernen (vgl. Heimes, 2017). Allerdings gilt es in dem bibliotherapeutischen Vorgehen mit Kindern und Jugendlichen einige Aspekte zu beachten. Teilnehmerinnen in jüngeren Altersgruppen bringen zumeist einen kleineren Wortschatz, einen beschränkten Erfahrungshorizont, eine geringere Aufmerksamkeitsdauer und Schwierigkeiten der Verbalisierung mit sich. Daher muss sich die Materialauswahl und die Vorgehensweise an dem individuellen Entwicklungsstand orientieren. So eignen sich bei Kindern bspw. Erzählungen und Tier- oder Bildergeschichten, welche die Phantasie der Teilnehmerinnen ansprechen und den Inhalt verständlich machen. Die Literaturauswahl für jugendliche Klientinnen gleicht der Herangehensweise bei Erwachsenen. Während man Kinder weniger über die Therapietechnik und -ziele aufklärt, ist es bei Teilnehmerinnen im Jugendalter wichtig, die Ziele und Techniken im Therapieverlauf zu erläutern und den Inhalt der Materialien in Diskussionsgesprächen einzubinden (vgl. Rubin, 2015).
Grundregeln für den Umgang mit Klientinnen
Für die Bibliotherapie ist eine freiwillige Teilnahme der Klientinnen bedeutend. Dieser Anspruch ist in bestimmten Settings, bspw. Gefängnissen, Psychiatrien, Krankenhäusern nicht einfach einzuhalten, sollte aber dennoch angestrebt werden. Oft ist der richtige Zeitpunkt der Therapie entscheidend und sollte von der behandelnden Person abgewartet und erkannt werden. Überdies sollten die Bibliotherapeut*innen auf die individuellen Bedürfnisse, Fähigkeiten und Problemlagen der Klientinnen eingehen, indem sie die Literaturauswahl sowie Ziele und Techniken anpassen. So sind bspw. das Alter, Entwicklungsschwierigkeiten, Lesefähigkeiten oder das soziale Umfeld wichtige Determinanten in der Bibliotherapie (vgl. Rubin, 2015).
3.3.3 Literaturauswahl
Im Grunde kann für die Bibliotherapie eine große Bandbreite an Literatur verwendet werden (vgl. Engelhardt, 2017). Zum derzeitigen Zeitpunkt gibt es keine Untersuchungen über die Vor- oder Nachteile der unterschiedlichen Literaturgattungen für die Bibliotherapie. Wie oben bereits erwähnt, kann sowohl didaktische als auch fiktive Literatur verwendet werden. Bei didaktischem Material gilt es zu beachten, dass mit bloßem Informationsgehalt meist keine Verhaltensänderung erreicht werden kann (vgl. Rubin, 2015). Im Anhang2 der vorliegenden Arbeit werden Beispiele von verwendbaren Textgattungen und deren bibliotherapeutische Möglichkeiten genannt.
Bachl und Burgholzer (2017) betonen die Wichtigkeit, dass die behandelnde Person das schriftliche Material konstruktiv einsetzt und sich sorgfältig mit den Texten auseinandersetzt. Trotz einer großen Vielfalt der verwendbaren Literatur, haben sich im Laufe der Zeit einige Kriterien für die Auswahl des geeigneten Materials herausgebildet:
1. Bedeutend ist eine positive Absicht des Textes. In keinem Fall sollten Texte, die den Tod verherrlichen, verwendet werden.
2. Die Auswahl des Textes sollte sich an der Lesefähigkeit der behandelten Person orientieren. Die Anforderung sollte weder zu hoch und somit verwirrend oder schwer verständlich, noch zu niedrig und somit anspruchslos sein.
3. Hilfreich ist es, wenn der Handlungsraum des Textes der lesenden Person Möglichkeit zur Identifikation bietet und sich deren Erfahrungen realistisch widerspiegeln. In einem anderen Fall kann es hilfreich sein, wenn der Text der lesenden Person die Möglichkeit der Ablenkung von den eigenen Problemen bietet.
4. Es gilt zu hinterfragen, inwiefern die Hauptfigur eines Werks die heldenhafte Rolle oder aber die Rolle einer Anti-Heldin/ eines Anti-Helden, die/ der sich erst mit der Zeit zur Heldin/ zum Helden entwickelt, ausübt. Der Charakter der Hauptfigur könnte die behandelte Person zur Persönlichkeitsentwicklung anregen (vgl. ebd.).
5. Die Qualität und Quantität der in der Literatur angebotenen Beratung und Problembewältigungsstrategien sind ebenfalls zu beachten. Hierbei gilt es zu überprüfen, inwiefern die Bewältigungsstrategien hilfreich und umsetzbar sind.
6. Die Haltung des Textes sollte möglichst wertfrei und nicht verurteilend sein (vgl. Pardeck & Pardeck, 1993).
In der Regel geben die Bibliotherapeut*innen den Text im Behandlungssetting vor. Die behandelnde Person kann die Suche der Literatur in manchen Fällen auch an die behandelten Personen im Einzel- oder Gruppenkontext delegieren oder aber ihnen die Wahl aus einer Liste zusammengestellter Texte überlassen und somit die Entscheidung in einem gemeinsamen Prozess stattfinden lassen. In diesem Fall kann der Prozess der Literaturauswahl hilfreich für die Diagnostik, den Beziehungsaufbau oder die Verantwortungsentwicklung der behandelten Person sein (vgl. Rubin, 2015 f.).
3.3.4 Therapeutische Betreuung
In der angeleiteten Form der Bibliotherapie ist nicht nur eine ausreichende Vorbereitung und sorgfältige Auswahl der Literatur vonnöten. Wichtig ist auch eine Betreuung während und nach dem Lesevorgang, um einen möglichst großen Nutzen aus dem Vorgehen zu ziehen (vgl. Mazza, 2003). Wie oben bereits beschrieben, ist auch eine Bibliotherapie ohne oder nur mit minimaler therapeutischer Begleitung möglich, jedoch kann die Wirkung der literarischen Materialien durch die gemeinsame Besprechung und Reflexion im Verlauf der Therapie erheblich verstärkt werden (vgl. Schmid, 2018).
Pardeck und Pardeck (1993) beschreiben sogenannte „Follow-up“ Strategien, welche begleitend zum Lese- und Schreibvorgang eingesetzt werden können. Die Anleitung der behandelnden Person kann hilfreich bei der Identifikation der behandelten Person mit den Protagonistinnen der literarischen Werke, bei der Verbalisierung und Konfrontation aufkommender Emotionen sowie der Interpretation des Gelesenen sein. Auch beim Herausarbeiten der möglichen Lösungsstrategien aus der Literatur und dem anschließenden Adaptieren der Strategien auf eigene Problemlagen ist eine therapeutische Unterstützung von Nutzen. Pardeck und Pardeck (1993) empfehlen zudem kreative Aktivitäten, Diskussionen oder Rollenspiele in die Arbeit mit den literarischen Materialien einzubinden, um Verhaltensalternativen oder Lösungen für die bestehende Problemsituation zu erarbeiten. So kann die behandelte Person bspw. dazu aufgefordert werden, einen Tagesplan, ein Tagebucheintrag oder eine Zeitreise für die Protagonistinnen der literarischen Werke zu verfassen und deren Lebenslage im Anschluss mit der eigenen Lebenslage zu vergleichen. Weitere Beispiele sind das Schreiben eines Briefes aus Sicht eines Charakters oder einer Pressemitteilung zu einem Vorfall im Text. In Gruppentherapien sind die Möglichkeiten der Bibliotherapie noch vielfältiger. Hier können bspw. in Form von Rollenspielen Sequenzen eines Buches nachgespielt werden. In Gruppendiskussionen können einzelne Kapitel besprochen oder Stärken und Schwächen der einzelnen Charaktere sowie deren Handlungen bewertet werden (vgl. ebd.).
Böschemeyer (1988) betont die Wichtigkeit von einem aufmerksamen und bewussten Lesevorgang und vergleicht die Leseaktivität in der Bibliotherapie mit Arbeit. Häufig tendieren Leser*innen zum gedankenlosen Lesen, um dem Alltag zu entfliehen oder sich selbst zu vergessen. In der Bibliotherapie möchte man Ideen, Gedanken und Bilder, die während des Lesens aufkommen, bewusst aufgreifen und auf das eigene Leben beziehen. Aus diesem Grund formuliert Böschemeyer (1988) Aufgaben und Reflexionsfragen, die eine behandelnde Person ihren Klientinnen während der Bibliotherapie auftragen kann:
- Lesen Sie einen Sinnabschnitt, legen Sie den Text zur Seite und fragen Sie sich, was Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist.
- Erkennen Sie im Text einen Satz, der sie besonders anzieht? Lassen Sie den Satz auf sich wirken und erzählen Sie danach was Ihnen hierzu einfällt.
- Erkennen Sie im Text ein Wort, dass Sie besonders anspricht? Was löst es in Ihnen aus?
- Wenn Ihnen ein Wort, ein Satz oder ein ganzer Abschnitt besonders wichtig erscheint, scheiben Sie es auf. Das Abschreiben von Gelesenem kann zur Klärung und Vertiefung von aufkommenden Gedanken und Emotionen führen.
- Versuchen Sie Ihre aufkommenden Gedanken und Emotionen zum Text zeichnerisch oder malerisch darzustellen.
- Wenn Sie den Text oder das Buch gelesen haben, hinterfragen Sie, was die Autorin oder der Autor aussagen wollte und was für Sie besonders entscheidend war.
- Hinterfragen Sie sich, was Sie im Text angesprochen hat und was Sie in ihr Leben integrieren könnten. Was könnte Sie beim Integrieren der neuen Einsichten aufhalten?
- Suchen Sie sich geeignete Personen aus Ihrem Umfeld und sprechen Sie über Ihre neuen oder vertieften Einsichten. Indem Sie Ihre Einsichten in eigene Worte formulieren, können Sie die neuen Erkenntnisse verstärken und erweitern (vgl. ebd.).
3.3.5 Therapeutische Beziehung
Damit die oben genannte therapeutische Begleitung für die Bibliotherapie von Nutzen ist, muss eine therapeutische Beziehung zwischen der behandelnden und der behandelten Person hergestellt sein. Abhängig von dem theoretischen Hintergrund der Be- handler*innen sind hier zwei Richtungen erkennbar: Bibliotherapeut*innen, deren Arbeit auf humanistischen Konzepten beruht, und Bibliotherapeut*innen, deren Arbeit auf tiefenpsychologischer Psychologie basiert. Die humanistische Psychologie legt Wert auf den Begegnungsgedanken und auf die Klärung der Sinnfrage. Das heißt, die therapeutische Beziehung soll die behandelten Personen bei der Suche nach dem Sinn oder der Bedeutung des eigenen Lebens unterstützen. Im tiefenpsychologischen Ansatz werden Übertragung, Gegenübertragung und Widerstandsphänomene herausgearbeitet (vgl. Petzold & Orth, 2015a). Alston (1962) versucht neben einigen anderen Bibliotherapeut*innen, beide Richtungen miteinander verbunden anzuwenden. Für den Autor ist das Gesagte zweitrangig gegenüber der intensiven Beziehungserfahrung, die die behandelte Person innerhalb der Behandlung erfahren kann. In der Bibliotherapie sind seiner Ansicht nach der persönliche Einfluss der behandelnden Person auf ihre Klientel, sowohl unmittelbar als auch durch Übertragung, und der Einfluss des literarischen Materials von wichtiger Bedeutung für die Arbeitsbeziehung. Die Bibliotherapeutinnen sollten ihrer Klientel interessiert, empathisch, integer und vertraut entgegentreten. Die behandelten Personen können ihre eigenen Gedanken, Emotionen und Assoziationen zu den Texten wiedergeben, weshalb das aufmerksame Zuhören in der Bibliotherapie relevant für die Arbeitsbeziehung ist. Neben dieser Technik erklärt Alston die Strukturierung und Erklärung der Äußerungen der behandelten Person sowie die Deutung und Interpretation des Gesagten, in Form von direkter Bewusstma- chung von verdrängten Emotionen, Gedanken, Wünschen und Erinnerungen, als hilfreiche Interventionstechnik in der therapeutischen Beziehung (vgl. ebd.).
3.4 Berufliche Qualifikation
In der vorliegenden Arbeit wurde bereits herausgearbeitet, dass die Auswahl der Literatur und die therapeutische Begleitung besondere Anforderungen an die behandelnde Person richten, weshalb sie über die fachlichen therapeutischen oder beratenden Qualifikationen hinaus einen umfassenden Überblick über Literatur sowie Kenntnisse über deren Funktion und Wirkung aufweisen sollte (vgl. Kittler, 1988). Aus diesen Gründen sind Petzold und Orth (2015c) und andere Autorinnen der Auffassung, dass die Anwendung der bibliotherapeutischen Methode in der therapeutischen und psychosozialen Arbeit einer spezifischen Aus- und Weiterbildung bedarf.
Im deutschsprachigen Raum liegt nur ein begrenztes Weiterbildungsangebot im bibliotherapeutischen Bereich von überwiegend privaten Einrichtungen vor (vgl. Blumberg, 2018). Das Fritz-Perls-Institut, heute die EAG, stellt daher eine bedeutende Einrichtung für die Professionalisierung der Bibliotherapie in Deutschland dar. Hier werden Weiterbildungsseminare für Bibliothekar*innen und Personen aus pflegerischen und sozialen Berufen, wie bspw. Psychotherapeut*innen, Mediziner*innen, Sozialarbei- ter*innen oder Heil- und Sonderpädagog*innen, angeboten (vgl. Petzold & Orth, 2015c). Zielsetzung der Ausbildung ist die Befähigung dieser Berufsgruppen mit Hilfe von Büchern, Texten, Poesie und Medien im Einzel- und Gruppensetting bibliotherapeutisch zu arbeiten. Es soll ein differenziertes Behandlungskonzept zur Genesung, sozialer Reintegration und Persönlichkeitsentwicklung von Klient*innen bzw. Pati- ent*innen angeboten werden (vgl. ebd.). In der Grundausbildung zur „zertifizierten Lei- ter*in für Schreibwerkstätten und kreatives und biographisches Schreiben auf der Grundlage der Poesie- und Bibliotherapie“ werden unter anderem Fachkenntnisse über die einzelnen literarischen Formen und ihre Wirk- und Einsatzmöglichkeiten vermittelt. Der Einsatz von intermedialer Praxis, also der Einbezug von Musik, Stimme, Malen, Tanz und Theater, sowie der Einsatz der Bibliotherapie im Einzel- oder Gruppensetting wird gelehrt. Soll die Bibliotherapie im klinischen Bereich eingesetzt werden, ist eine aufbauende Weiterbildung zur/zum „Klinischen Poesie- und Bibliothera- peut*in“ notwendig. Hier werden die notwendigen theoretischen und methodischen Fähigkeiten und Kompetenzen für den Einsatz der Bibliotherapie in therapeutischen Interventionen gelehrt. Hierzu gehören unter anderem eine differenzierte Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Reflexionsfähigkeit der eigenen therapeutischen Persönlichkeit sowie der Beziehung zu den behandelten Personen. Des Weiteren werden die Fertigkeiten, Übertragungs- und Gegenübertragungserfahrungen sowie Widerstandsphänomene zu erkennen und zu händeln, gelehrt. Weitere Inhalte der Ausbildung sind bspw. Gesprächsführung, Krisenberatung, Literaturindikation und praxisfeldspezifisches Wissen (vgl. DGPB, 2022a).
In diesem Teil der Arbeit wurde ein Verständnis für das Konzept der Bibliotherapie gegeben. Die Methode wurde unter anderem definiert als therapeutische Methode, die sich Sprache und literarische Texte als Hilfsmittel zu Nutze macht (vgl. Petzold & Orth, 2015a) und in psychischen und psycho-somatischen Erkrankungen sowie Problemsituationen beraten kann (vgl. Petzold & Orth, 2015c). Die Methode wurde in ihren einzelnen Formen und Anwendungsbereichen beschrieben. Außerdem wurde erläutert, was es in der Anwendung für die behandelnde Person zu beachten gilt und welche Qualifikationen nötig sind. Für einen noch genaueren Einblick in die bibliotherapeutische Vorgehensweise, werden im folgenden Kapitel die Ziele, Funktionen und Grenzen der Methode dargestellt.
[...]
1 Siehe Anhang 1: Anwendungsbereiche der Bibliotherapie
2 Siehe Anhang 2: Möglichkeiten der verschiedenen Literaturgattungen
- Quote paper
- Jessica Kutscher (Author), 2022, Bibliotherapie in der Klinischen Sozialarbeit. Eine kritische Einschätzung des bibliotherapeutischen Vorgehens, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1329565
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