In der vorliegenden Ausarbeitung werden zunächst theoretische Entwicklungen im Kontext des Jugendalters referiert und Gefahrenpotentiale und Hemmnisse für die Entwicklung einer geschlechtlichen Identität, als Teil einer kohärenten persönlichen Gesamtidentität identifiziert. Im Anschluss daran wird Geschlecht zunächst als soziales Konstrukt innerhalb einer binären Matrix identifiziert und im weiteren Verlauf aufgezeigt, dass geschlechtliche Identität und Geschlechterrolle auch abseits einer binären Zuordnung konstruierbar sind. Dann wird der Fokus auf das männliche Geschlecht gelegt und ein theoretisches Modell zur Klassifizierung männlicher Geschlechterrollen vorgestellt, welches die Relationen dieser untereinander beschreibt und differente Männlichkeitsrollen und -identitäten identifiziert und insbesondere toxische Männlichkeit als eine dieser Geschlechterrollen näher beschreibt. Gleichsam wird das Patriarchat als Produkt männlich geschlechtlicher Performanz beschrieben und dessen Auswüchse dargestellt.
Im Anschluss wird ein Fokus auf Entstehungshintergründe toxischer Männlichkeit gelegt und toxische Männlichkeit als Produkt von Bewältigungshandeln identifiziert. Es wird der Frage nachgegangen, inwieweit toxische Männlichkeit reproduziert wird und in welchem Zusammenhang unterschiedliche Kapitalarten damit stehen können, sowie welcher theoretische Hintergrund einen Erklärungsansatz liefert, während dann im weiteren Verlauf die Verknüpfung zwischen Reproduktion und männlich geschlechtlichen Darstellungen gewagt wird. Kapitel 7 dient der Beschreibung diverser Darstellungsformen toxischer Männlichkeit und versucht diese nach ihren individuellen und strukturellen Auswirkungen zu unterscheiden. Dabei wird die Perfidie und Brisanz toxischer Männlichkeit deutlich. Es werden rechtliche Implikationen und Rahmenbedingungen beleuchtet, die der Förderung von Gleichberechtigung, als Vehikel zum Abbau toxischer Männlichkeit dienen. Anschließend werden dann sozialpädagogische und sozialpolitische Interventions- und Ordnungsmaßnahmen beschrieben, die toxischer Männlichkeit entgegenwirken und den gesamtgesellschaftlichen Abbau begünstigen sollen. Abschließend wird ein Fazit gezogen.
Inhalt
1. Einleitung / Problemaufriss / Stand der Forschung
2. Theoretische Entwicklung im Kontext Jugendalter
3. Die soziale Konstruktion von Geschlecht
4. Patriarchat und Männlichkeit
4.1. Hegemoniale Männlichkeit
4.2. Untergeordnete Männlichkeit
4.3. Komplizenhafte Männlichkeit
4.4. Marginalisierte Männlichkeit
4.5. Toxische Männlichkeit
5. Toxische Männlichkeit als Produkt von Bewältigung
6. Habitus toxischer Männlichkeit als Reproduktionsfaktor
6.1. Strategie / Feld
6.2. Kapital
6.3. Habitus
7. Darstellungsformen toxischer Männlichkeit
7.1. Individuelle Aspekte toxischer Männlichkeit
7.2. Strukturelle Aspekte toxischer Männlichkeit
7.2.1. Manspreading
7.2.2. Pornografie
7.2.3. Marginalisierung weiblicher Expertinnen
7.2.4. Gender Data Gap
8. Auftrag Sozialer Arbeit im Kontext SGB VIII
9. Grundhaltung sozialpädagogischer Interventionen
9.1. Reflexive Arbeit
9.2. Feministische Jungenarbeit
9.3. Förderung feministischer Themenstellungen/Sozialpolitische Maßnahmen
10. Fazit
11. Forderungen
12. Quellen
1. Einleitung / Problemaufriss / Stand der Forschung
Toxische Männlichkeit ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und durchzieht alle Bereiche des sozialen Miteinanders. Über Jahrhunderte der gesellschaftlichen Entwicklung hinweg, haben sich Männlichkeitsvorstellungen auf der Zielfolie von Wettkampf, Härte, Stärke, Unnachgiebigkeit, Emotionslosigkeit, Risikohandeln und letztlich Gewalt zur patriarchalen Grundordnung manifestiert (vgl. Tippe 2021, S.29ff.). Männer dominieren in gesellschaftlichen Schlüsselpositionen, sei es Politik, Wirtschaft, Sport oder in den Medien. Die Paradigmen der männlichen Dominanz sind dabei in allen Facetten dieser Felder wiederzufinden. Unterwerfen sich Individuen diesen Spielregeln nicht, werden sie ausgegrenzt, erniedrigt oder gedemütigt. Ökonomischer Erfolg und gesellschaftliches Ansehen sind nur erreichbar, wenn die Paradigmen männlicher Herrschaft akzeptiert werden und sich ihnen angepasst wird. Insbesondere für Frauen, Homosexuelle, Transsexuelle, non-binäre, oder Queers, u. a., stellt die patriarchale Grundordnung und die sich in ihr befindliche toxische Männlichkeit, Quelle der Ungleichbehandlung dar. Ob sie im Dunkeln verängstigt sind, wenn sie einem Mann begegnen, im beruflichen Kontext dabei zusehen müssen wie ihre Ideen von männlichen Kollegen als deren eigene ausgegeben werden, Männer in geschmackloser Weise im öffentlichen Raum agieren, bis auf das schmerzlichste bevormundet werden, oder gar Opfer sexueller Belästigungen und Gewalt werden, wie sich im Verlauf der ,#metoo- Bewegung gezeigt hat. Toxische Männlichkeit ist in der Lebenswelt dieser Personen allgegenwärtig und Zentrum ihrer Qualen. Doch auch abseits, individueller Folgen sind die Auswüchse toxischer Männlichkeit zu beobachten. Klimawandel, Kriege, Prostitution, Pornografie, Massentierhaltung, oder Rassismus können gleichsam Folgen toxischer Männlichkeit sein. Als aktuelle Beispiele mit beinah fulminantem Vorzeigecharakter können die Ukraine-Krise und die Corona-Pandemie herangezogen werden. In der Ukraine-Krise stehen sich, anders als seinerzeit im Kalten Krieg keine differenten gesellschaftlichen Systeme mit universell gültigem Geltungsanspruch gegenüber (wenn auch hier toxische Männlichkeit als Antriebsfeder identifiziert werden kann), sondern vielmehr, unterschiedliche Koalitionen (NATO / Russland), die sich gegenseitig in ihren territorialen Geltungsräumen gefährdet sehen und die je eigene Abwertung und sichtbare Schwäche fürchten. Stärke demonstrieren und ein fiktives kriegerisches Wettkampfszenario propagieren, können als Paradebeispiele toxisch männlicher Verhaltensweisen angesehen werden. Die Corona-Pandemie zeigt ebenfalls die Auswüchse einer patriarchalen Grundordnung und toxischer Männlichkeit. Der Anstieg an häuslicher Gewalt während der Corona-Pandemie (vgl. Tagesschau 2021b, o.S.) kann ebenso auf toxische Männlichkeit zurückgeführt werden, wie das geschlechtliche Ungleichgewicht im Kontext von Homeschooling und familialen Versorgungsleistungen (vgl. SZ 2020, o.S.). Das Patriarchat, toxische Männlichkeit und Gleichberechtigung der Geschlechter erfahren hierdurch in der medialen und gesellschaftlichen Wahrnehmung zusehends an Aufmerksamkeit, werden kritisch beleuchtet, in Frage gestellt und auch ins Zentrum der Forschung gerückt. Daher wird sich in der folgenden Abhandlung mit den Fragen beschäftigt, wie toxische Männlichkeit entstehen und wie sie sich im gesellschaftlichen Miteinander reproduzieren kann und welche sozialpädagogischen / sozialpolitischen Interventionsmaßnahmen ergriffen werden können.
Hammerschmidt / Sagebiel / Stecklina (2020) identifizieren in diesem Zusammenhang, die Themen „Geschlechterverhältnisse und Geschlechtergerechtigkeit als Gegenstand aktueller öffentlicher Aushandlung“ (Hammerschmidt et al. 2020, S.10) und Blickpunkt der Forschung. Die politisch und öffentlich formulierten Lösungsansätze summieren sich dabei zu teils plakativen Forderungen (Frauen in technische Berufe, Frauenquote im Beruf, Elternzeitausweitung für Väter), die als Lösung gehandelt werden (vgl. ebd., S.10). Bei näherer Betrachtung offenbart sich dabei, die Korrelation der propagierten Lösungsansätze mit den Kennfeldern Erwerbsarbeit und Care. Sagebiel / Weinelt (2020) gehen noch einen Schritt weiter und identifizieren die „Entwicklung der Geschlechterdifferenz“ (Sagebiel / Weinelt 2020, S.137) als direkte Folge einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung. Der gedankliche Schritt von Arbeitsteilung zur Erwerbsarbeit und Kapital, sowie von Care über kindliche Entwicklung, zu Adoleszenz und Identität junger Erwachsener ist daher nur folgerichtig.
In der vorliegenden Ausarbeitung werden daher zunächst in Kapitel 2 theoretische Entwicklungen im Kontext des Jugendalters referiert und Gefahrenpotentiale und Hemmnisse für die Entwicklung einer geschlechtlichen Identität, als Teil einer kohärenten persönlichen Gesamtidentität identifiziert. Im Anschluss daran wird in Kapitel 3 Geschlecht zunächst als soziales Konstrukt innerhalb einer binären Matrix identifiziert und im weiteren Verlauf aufgezeigt, dass geschlechtliche Identität und Geschlechterrolle auch abseits einer binären Zuordnung konstruierbar sind. In Kapitel 4 wird dann der Fokus auf das männliche Geschlecht gelegt und ein theoretisches Modell zu Klassifizierung männlicher Geschlechterrollen vorgestellt, welches die Relationen dieser untereinander beschreibt und differente Männlichkeitsrollen und -identitäten identifiziert und insbesondere toxische Männlichkeit als eine dieser Geschlechterrollen näher beschreibt. Gleichsam wird das Patriarchat als Produkt männlich geschlechtlicher Performanz beschrieben und dessen Auswüchse dargestellt. In Kapitel 5 wird im Anschluss ein Fokus auf Entstehungshintergründe toxischer Männlichkeit gelegt und toxische Männlichkeit als Produkt von Bewältigungshandeln identifiziert. In Kapitel 6 wird der Frage nachgegangen, in wie weit toxische Männlichkeit reproduziert wird und in welchem Zusammenhang unterschiedliche Kapitalarten damit stehen können, sowie welcher theoretische Hintergrund einen Erklärungsansatz liefert, während dann im weiteren Verlauf die Verknüpfung zwischen Reproduktion und männlich geschlechtlichen Darstellungen gewagt wird. Kapitel 7 dient der Beschreibung diverser Darstellungsformen toxischer Männlichkeit und versucht diese nach ihren individuellen und strukturellen Auswirkungen zu unterscheiden. Dabei wird die Perfidie und Brisanz toxischer Männlichkeit deutlich. In Kapitel 8 werden rechtliche Implikationen und Rahmenbedingungen beleuchtet, die der Förderung von Gleichberechtigung, als Vehikel zum Abbau toxischer Männlichkeit dienen. In Kapitel 9 werden dann sozialpädagogische und sozialpolitische Interventions- und Ordnungsmaßnahmen beschrieben, die toxischer Männlichkeit entgegenwirken und den gesamtgesellschaftlichen Abbau begünstigen sollen. Abschließend wird in Kapitel 10 ein Fazit gezogen.
2. Theoretische Entwicklung im Kontext Jugendalter
Die im Kontext der Identitätsentwicklung zentrale Phase der Jugend oder Adoleszenz muss bei der Herausbildung toxischer Männlichkeit zwingend beleuchtet werden, da eine geschlechtliche Identität sich insbesondere in dieser Lebensphase formiert. Daher wird im folgenden Adoleszenz vor dem Hintergrund einer beschleunigten Lebensrealität beleuchtet und Hemmnisse bzw. Voraussetzungen einer gelingenden adoleszenten Ablösung aufgezeigt.
Der Jugend, respektive Adoleszenz als Lebensphase im generationalen Entwicklungsprozess, wird aus sozialisatorischer Sicht zumeist das Charakteristikum des Aufbruchs und Wechsels zugeschrieben (vgl. King 2010, S.11). Vor dem Hintergrund der von Beck (2016) beschriebenen flexibilisierten, pluralisierten und entgrenzten Lebensrealität von Individuen (vgl. insgesamt Beck 2016), sowie einer von Rosa (2020)
konstatierten beschleunigten Lebensführung (vgl. insgesamt Rosa 2020), stellen sich jedoch zwangsläufig die Fragen nach einer definitorischen Rahmung von Adoleszenz im Sinne einer abgrenzbaren Phase im Leben eines Individuums. Während die Jugendphase, oder Adoleszenz, noch in der vormodernen Gesellschaft als abgeschlossen galt, mit dem Einmünden des jungen Menschen in eine konstante Berufsbiographie und dem Einstieg in die Familiengründung, ergo Heirat und Geburt des ersten Kindes, oder der biologischen Geschlechtsreifung, weichen diese ehemals temporal fixierten Haltemarken jedoch in der postmodernen Gesellschaft einer flexibleren Definition, oder haben sich verflüchtigt und können nicht mehr zur Determinierung von „Erwachsen-sein“ herangezogen werden. (vgl. King 2010, S.11). Vielmehr konstatiert King (2010), dass das Ende der Adoleszenz, als Prozess der persönlichen und gesellschaftlichen Individuation, als eine „[.] Verknüpfung von sozialen und psychischen Merkmalen [.]“ (ebd., S.15) verstanden werden muss. Dieser Prozess formiert sich dabei unter den Leitlinien der Herausbildung nachhaltiger und wirkmächtiger gesellschaftlicher Handlungspraktiken. Anders formuliert: der Produktion und adaptierten Reproduktion von Kultur (vgl. ebd. S.16).
In diesem Umstand begründet sich nach King (2010) die Notwendigkeit von Adoleszenz als Lebensphase im gesamtgesellschaftlichen Kontext. Jedwede Gesellschaft ist im Sinne ihrer sowohl biologischen, als auch kulturellen Reproduktion auf Humankapital angewiesen, welches eine im Laufe der Zeit älterwerdende Generation von Individuen als Kulturträger: innen ablöst. Adoleszenz kann demgemäß als Phase des Vorbereitens und Erprobens verstanden werden, innerhalb derer die jungen Menschen, durch die vorherige Generation auf die Rolle als Kulturschaffende vorbereitet werden und die Fähigkeiten zum Tradieren von Kulturgütern als auch zum kulturellen Wandel erhalten (vgl. King 2010, S.12). Adoleszenz kann aus dieser Perspektive folgerichtig, als „soziale Form“ begriffen werden. Dem aufgezeigten Bild von Adoleszenz, als einer Phase der begleiteten Vorbereitung immanent, ist daher die gemeinschaftliche Verzeitlichung der gesellschaftlichen Teilhabe. Sowohl die aktuellen Kulturträger: innen als auch die jungen Menschen, oder potentiellen Kulturträger: innen partizipieren anteilig am Prozess der Kulturproduktion. Parallel dazu wird die soziale Form der Adoleszenz aus intergenerationaler Perspektive verzeitlicht. D.h. Ihr Einsetzen und ihr Abschluss geraten in den Fokus der verschiedenen Generationen (vgl. ebd., S.12f.). Adoleszenz kann demnach nicht nur als Entwicklungsaufgabe der jüngeren Generation verstanden werden, welche im Duktus des „Ablösens von“ Eltern, u. a. gesehen wird, sondern ebenso als Meilenstein in der Sozialisation der bereits erwachsenen Generation, welche sich mit 4
Adoleszenz als Form des „abgelöst werdens“ auseinandersetzen und letztlich abfinden muss. Bei dieser Betrachtungsweise wird die strukturelle Ambivalenz von Adoleszenz, in Folge von Ablösung, die diametral gesehen werden muss, deutlich (vgl. ebd., S.12f.).
Während des Prozesses der Subjektwerdung sind die jungen Menschen zumeist noch leicht beeinflussbar und unterliegen, wenn auch oft selbst nicht wahrgenommen, noch den Paradigmen ihrer kindlichen Bindungen. Aus psychologischer Sichtweise bedeutet die Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz für sie daher, zugespitzt formuliert, das Erschaffen von eigenem und das „Abschaffen“ von älterem, einhergehend mit dem Zustimmungsverlust der ehemaligen Primärbezugspersonen und dem sowohl durch die Umwelt formulierten, als auch zumeist dem eigen gestellten Anspruch, der selbstständigen Lebensführung und gesellschaftlichen Innovation. Parallel dazu bedeutet dieser Prozess für die Erwachsenen letztlich die Relativierung der eigenen Lebenszusammenhänge, sowie der Abschaffung, der aus gesellschaftlicher Sicht, geltenden normativen Weltsicht. Es wird deutlich, dass Adoleszenz nicht ausschließlich als Entwicklungsaufgabe der jüngeren Generation gesehen werden kann, sondern ebenso Ansprüche an die Generation der Erwachsenen gestellt werden. Diese müssen unterstütze Möglichkeitsräume zur Individuation bieten und den jungen Menschen in Ihrer Haltung weder destruktiv begegnen, noch Möglichkeitsräume und juvenile Innovation okkupieren, respektive diese für sich vereinnahmen (vgl. King 2010, S.14).
Adoleszente Ablösung kann daher nach King (2010) in 3 Dimensionen unterteilt werden: (1) Generativität der Erwachsenen, (2) Individuation und (3) Generativität der Adoleszenten (vgl. ebd., S.15f.)
(1) Generativität der Erwachsenen beschreibt dabei die Fürsorge für die nachfolgende Generation und die Schaffung von Möglichkeitsräumen zur Entfaltung, die die Basis darstellt für die (2) Individuation der jungen Menschen, welche als gesellschaftlich partizipative Subjektwerdung verstanden werden kann und in der (3) Generativität der Adoleszenten mündet, welche mitunter die Fähigkeit zur Fürsorge beschreibt (vgl. ebd., S.15f.).
Veränderte Zeitverhältnisse, oder die Beschleunigung der Lebensführung konterkarieren jedoch dieses idealtypische Schema der adoleszenten Ablösung.
In der postmodernen Gesellschaft gewinnt die zeitliche Struktur zunehmend an Bedeutung. Ständige institutionelle Verfügbarkeit, Innovation und Wachstum sind die Grundparadigmen einer kapitalistischen Wertschöpfungskette und sind nach King (2011) in die sozialen Lebensbezüge der Individuen vorgedrungen. Die kontante Steigerung von Akzeleration und Verkürzung der zeitlichen Lebenszusammenhänge in individueller, institutioneller als auch gesellschaftlicher Hinsicht führen zunehmend dazu, dass sich die kollektivierten sozialen Lebensrhythmen aufweichen und verflüchtigen (vgl. u. a. King 2011, S 248 / Rosa 2020, S.367) Dies gilt sowohl für ritualisierte Handlungschemata im Kontext der individuellen Lebensführung, als auch im generationalen und gesellschaftlichen Zusammenhang. Dem idealtypischen Prototyp Mensch werden in der so beschleunigten postmodernen Gesellschaft Charakteristika der Innovation und Flexibilität zugeschrieben. Ergebnis dessen ist die kulturell gesellschaftliche Transformation des idealtypischen Prototyps Mensch hin, zu einem Individuum im Duktus juveniler Anpassungsfähigkeit. Im Sinne jugendlicher Leichtigkeit gilt es, gerade auch für die Erwachsenen, Optionen zu erkennen und zur ergreifen. Dabei führt die Steigerung des Tempos der Lebenszusammenhänge im Hinblick auf den generationalen Wechsel dazu, dass die geforderte Innovationsdynamik der kulturellen Wandlungsrate, inzwischen die gesellschaftliche Fähigkeit zur Wandlung der Generationsabfolge übertrifft. Dieser Innovationsdynamik immanent, ist jedoch die Erfahrung von Begrenztheit zeitlicher Strukturen. Sowohl in Bezug auf die zeitliche Begrenzung einzelner Situationen, als auch im Sinne einer akkumulierten, jedoch ebenso begrenzten Lebenszeit. Diese Begrenztheitserfahrung steht dabei konträr zu den Paradigmen der Flexibilisierung, ständigen Innovation und Maximierung, besonders in den ökonomisch tendierten Bereichen der postmodernen Gesellschaft und pointiert hierdurch die Endlichkeitserfahrung auf die temporale Schiene. Das Paradigma des juvenilen, innovativen und anpassungsfähigen Menschen erscheint dabei als Bewältigungsmechanismus der einzelnen Subjekte und versuch, die letzte, nicht der Anpassungslogik ökonomisierter Maximierungstendenzen unterworfene Ressource, die Zeit, zu erweitern (vgl. King 2011, S. 248ff.).
Anders formuliert: Beschleunigung der Lebensverhältnisse scheint den Versuch darzustellen, in ein endliches Maß an zur Verfügung stehender individueller Lebenszeit ein Mehr an Erfahrungen und gesellschaftlicher Teilhabe zu implementieren.
Bei der Betrachtung dieser Umstände und Motivlagen wird deutlich, dass die Beschleunigung der Lebenszusammenhänge, insbesondere in für den adoleszenten Ablösungsprozess konstituierende, Bereiche respektive Prozesse hineinwirkt und diese im Kontrast zur vormodernen oder modernen Gesellschaft verändert. Daher werden im Folgenden die Auswirkungen von Beschleunigung auf diese elementaren Bereiche beschrieben, um die Schwierigkeiten adoleszenter Ablösung, vor dem Hintergrund der Entwicklung einer geschlechtlichen Identität, in der postmodernen Gesellschaft fassen zu können.
Auswirkungen im individuellen Lebenslauf
Die zunehmende Beschleunigung vor dem Hintergrund des Propagierens von Leistungslogiken, auch im sozialen Miteinander, führt zur intensivierten Wahrnehmung einer Gegenwärtigkeit. Die Gegenwart gilt es zu beherrschen und zeitgleich Optionen einer nicht vorhersehbaren Zukunft offen zu halten. Der individuelle biographische Lebenslauf verliert zunehmend an Bedeutung und verschwimmt zu einem durchlässigen Konstrukt, auf dem omnipräsente Wandlung richtungsgebend scheint. In dieser Gemengelage verlieren ehemals phasierende Strukturen an Bedeutung. Lebensabschnitte, Übergänge im Lebenslauf und Lebensphasen werden individualisiert und aus einem kulturell und gesamtgesellschaftlichen „Bett“ herausgelöst. Längerfristige Lebensentwicklung weicht dabei exponentiell einem Habitus der Schnelligkeit und versetzt die Individuen in eine Position der permanenten Adoleszenz, welche unter Umständen im subjektiven Empfinden Unsicherheiten und Labilitäten hervorrufen können (vgl. ebd., S.251-254).
Gleichsam sind Zeit und Zeit nehmen jedoch generative Komponenten einer fürsorgenden Beziehung und Grundbaustein eines gelingenden Adoleszenten Ablösungsprozesses
Auswirkungen in Fürsorgebeziehungen
Gelingende Fürsorgebeziehungen, insbesondere im generational en Kontext (Eltern - Kind), sind auf Zeit als Ressource angewiesen. Erzieherisches Handeln und elterliche Praktiken des alltäglichen Lebens bedürfen eines zeitlichen Engagements und sind in Rahmen der individualisierten, beschleunigten postmoderne auf sich verändernde geschlechtliche Erziehungsformationen gestoßen. Care als matriarchale Doktrin verflüchtigt sich, zugunsten des gesellschaftlichen Bildes einer beruflich erfolgreichen, femininen Elternperson (vgl. King 2011, S.254f.) . Konstitutiv hierfür scheint mitunter der Wunsch nach eigener, wenn auch noch nicht paritätisch verteilter, vom Erziehungsprozess losgelöster Zeit. Diese Änderungen auch in den geschlechtlich veränderten Zuschreibungen von Care und daraus resultierenden intensivierten Flexibiltäts- und Mobilitätsanforderungen, an nunmehr beide elterlichen Personen, oder das Familiensystem als solches, führen in Folge zur Notwendigkeit einer noch weiter differenzierten zeitlichen Ressourceneinteilung zwischen Care und Beruf. Im Fokus steht dabei die Anforderung konstante zeitliche Struktur im familialen Bereich, mit zeitlicher Flexibilität im beruflichen, oder institutionellen Bereich, in Einklang zu bringen. Als Zeitnot kann der Umstand der immer knapper werdenden temporalen Anteile betrachtet werden (vgl. King 2011, S.255f.). Dabei werden je nach sozioökonomischen Status des Familiensystems divergente Bewältigungsmechanismen deutlich. Die Auswirkungen dieser Anforderungen können z.T. bei weiblichen Erziehungspersonen betrachtet werden. Diese scheinen oftmals getrieben zwischen quantitativer und zugleich qualitativer Anforderungen an ihre zeitlichen Ressourcen bei der Fürsorgearbeit und minimieren diese folglich eher im Bereich Selfcare (Freizeit und Schlaf). Zeitgleich treten Bewältigungsstrategien wie Outsourcing einzelner, besonders zeitintensiver familialer Lebensbereiche auf. Auch die jugendliche Generation sieht sich den gesteigerten Anforderungen an temporale Einteilung und Verknappung gegenüberstehen. Erkennbar wird, dass die zeitliche Struktur des generationalen Verhältnisses und in Folge adoleszenten Ablösungsprozesses, als in der elterlichen Begleitung zeitintensiven Prozesses, in die Schussbahn der Beschleunigung, oder zeitlichen Verknappung gerät und in eine zunehmend individual zu organisierende Sphäre verschoben wird (vgl. ebd., S.254ff.).
Auswirkungen in der Generationenabfolge
Die aus gesellschaftlicher Perspektive notwendige Generationenabfolge, die den gesellschaftlichen Fortbestand sichert, fußt auf dem adoleszenten Ablösungsprozess und stetigen Neueinsetzens aktiver Kulturträger: innen. Im Fokus der aktiven Kulturträger: innen selbst steht dabei genau die Zeitspanne, in der sie proaktiv Kultur im gesellschaftlichen Kontext produzieren. Diese als wirkmächtig wahrgenommene Zeitspanne wird in ihrem späteren Verlauf gemeinhin mit der adoleszenten Generation, auf der Zielfolie der sukzessiven Generationenabfolge und der Perpetuierung des gesellschaftlichen Fortbestehens oder Wandels geteilt. (vgl. ebd., S.257f.) Die in diesem Prozess geteilte und auch ab(zu)lösende Zeitspanne der proaktiven Kulturschaffung unterliegt daher einer strukturellen Ambivalenz. Die in den Startlöchern stehende Generation, droht mitunter soziale Praktiken, normative Vorstellungen und bis dahin als anerkannt geltende Handlungspraktiken zu transformieren und den je eigenen generationell kollektiven Verständnissen anzupassen. Die bis dato geschaffenen Kulturgüter drohen, aus destruktiver Perspektive, der Abschaffung anheim zu fallen. (vgl. King 2011, S.258) Diese strukturelle Ambivalenz droht sich jedoch vor dem Hintergrund einer beschleunigten postmoderne zu intensivieren. Dies genau in dem Maße, in dem Innovation, Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und sozialer Wandel, welcher ehemals als juveniles Charakteristikum galt, bereits abseits der Generationenabfolge abverlangt werden. Ein Kampf um Zeit(en) scheint dabei unausweichlich; gleichsam dieser Prozess die adoleszente Ablösung konterkariert. Denn Ablösung kann in seiner Grundsätzlichkeit nicht nur als einseitig verlaufender psychosozialer Entwicklungsprozess gesehen werden, sondern er Bedarf einer proaktiven Reziprozität. Es gilt den Adoleszenten Möglichkeitsund Freiheitsräume vorzuhalten, nicht in den sich abspielenden Selbstfindungsprozess störend einzugreifen und letztlich auch Zeiträume zur Verfügung zu stellen. Eine daraus konstruierte, positiv determinierte Generativität unterliegt in ihrer erzieherischen Ausgestaltung dann den je eigenen, kulturell eingebetteten, oder gesellschaftlichen Mechanismen. Formierte sich die kulturelle Einbettung von Adoleszenz noch in der modernen Gesellschaft als Aufbruch, oder Wandel ins neue, führt die der postmodernen Gesellschaft immanente Innovationsdynamik und der ihr innewohnender Anpassungsdrang jedoch dazu, dass dieses Charakteristikum nicht mehr nur der adoleszenten Lebensphase zugeschrieben wird, sondern bereits ebenso ein Anforderungsmerkmal der Generation aktiver Kulturträger: innen darstellt. Die lebensphasentypisch Adoleszenten werden in Folge der generationalen Divergenz beraubt und treten in Konkurrenz um Möglichkeits- und Zeiträume (vgl. ebd., S.259ff.).
Es bleibt demnach festzuhalten, dass Jugendliche respektive adoleszente junge Menschen in der postmodernen Gesellschaft sich zunehmend Erosionstendenzen, in Bezug auf ehemals tradierte Übergangsformen und kulturelle Handlungspraktiken gegenübersehen. Die junge Generation, gerade auch die männlichen Jugendlichen laufen scheinbar zunehmend Gefahr, durch Erwachsene begleitete Lebensphasen-Übergänge zu verlieren und gleichsam mit ihnen in Konkurrenz, um einen Platz in der Gesellschaft zu treten. Es lässt vermuten, dass besonders junge Menschen das Vakuum, in Bezug auf die fehlende generationale Differenz und die ehemals tradierten Lebensphasenübergänge überfordert und sie sich in einer Phase der Orientierungslosigkeit wiederfinden. Die Verlegung des adoleszenten Ablöseprozesses in die Sphäre der individuellen Ausgestaltung, stellt dabei nicht anderes dar, als die Notwendigkeit den je eigenen Ablöseprozess in Aushandlung mit der erwachsenen Generation sozial zu konstruieren. Die Bildung einer kohärenten und in Folge geschlechtlichen Identität wird durch Flexibilisierung, Individualisierung und Beschleunigung erschwert. Gerade auch vor dem Hintergrund dessen, dass Geschlecht (gender) als ausschließlich biologisch determiniertes Charakteristikum in der postmodernen Gesellschaft keine Gültigkeit erfährt, sondern äquivalent zur Notwendigkeit der Konstruktion von Adoleszenz einer ähnlichen, individuellen Konstruktionslogik unterliegt, wird im Folgenden der Themenkomplex des Geschlechts vorgestellt, welcher zur Fassung von toxischer Männlichkeit zwingend notwendig ist.
3. Die soziale Konstruktion von Geschlecht
Unter dem Schlagwort Gender affirmiert in der medialen Berichterstattung (vgl. u. a. Tagesspiegel 2016 / FAZ 2022 / Tagesschau 2021a / Tagesschau 2019, u. a.) der postmodernen Gesellschaft ein Thema der sozialwissenschaftlichen Forschung zum Gegenstand des Mainstreams oder der Pop Kultur. Die gesellschaftlichen Reaktionen darauf reichen von Zustimmung über Ablehnung bis hin zu „ hate-speech “. Gleichwohl liefert die Berichterstattung im Zentrum der Reaktionen wenig Aufschluss über die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse, und oftmals werden Implikationen der Forschung verkürzt darstellt oder gar unterschiedliche Themenkomplexe zu einer Einheit summiert. Daher soll im Folgenden, gerade auch vor dem Hintergrund von toxischer Männlichkeit in der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sowie der individuellen sozialen Konstruktion von Adoleszenz innerhalb der patriarchalen gesellschaftliche Grundordnung, der Versuch einer Einordnung von Geschlecht als sozialem Konstrukt gewagt werden, beginnend mit einem kurzen historischen Abriss zur besseren entwicklungstheoretischen Verständlichkeit.
Die auch heute noch in der deutschen Sprache gängige Definition des Geschlechtsbegriffes bezieht sich in ihrer Semantik auf biologische Körpermerkmale, explizit jene die zur körperlichen Fortpflanzung notwendig sind, wenngleich der technologische Fortschrittsprozess diese zunehmend obsolet erscheinen lässt: „[...] Gesamtheit der Merkmale, wonach ein Lebewesen in Bezug auf seine Funktion bei der Fortpflanzung meist eindeutig als biologisch männlich oder weiblich bestimmt werden kann“ (Duden 2021, o.S.). Dieser Definition folgend wird eine unveränderbare Zugehörigkeit zu einem binären, oder dichotomen, universell gültigen Geschlechtskontext und eine Unabänderlichkeit der Geschlechtszuschreibung, oder Rollenzuschreibung impliziert, welche bis Mitte der 1940-er Jahre für die westlich gesellschaftliche Mitte als Faktum galt (vgl. Connell 2013, S.60f.). Mit dem berühmten Satz“ Man kommt nicht als Frau zur Welt, sondern wird dazu gemacht“ (Simone de Beauvoir, 1949 zit. nach Blume 2016, o.S.), wird erstmals der Umstand einer kritisch betrachteten Geschlechterrollenzuschreibung, mit subjektiv intendierter Wandlungsfähigkeit formuliert. Das Postulat intendiert in besonderem Maße Kritik, in der Zuschreibung weiblicher Geschlechterrollenmerkmale bei Frauen, als männliches Abgrenzungsprodukt. Wenn auch erst im Rekurs zur Frauenbefreiungsbewegung in eine breite Zustimmung getragen, setzt er doch den Beginn einer gesellschaftlichen Revolution, welche die tradierte, durch patriarchale Strukturen gefestigte, biologisch determinierte Rollenzuschreibung des geschlechtlichen (männlich vs. weiblich) zu dekonstruieren sucht und durch eine normative Kategorie, das je individuelle Handeln erweitert. (vgl. Connell 2013, S.61). Geschlecht, wird nunmehr und im Besonderen dann durch die Weiterentwicklung von West/Zimmerman (1987) als in seinen Grundzügen sozial produziertes Gebilde verstanden, welches in seinen alltäglichen Handlungen und Grundzügen insbesondere durch Abgrenzung zum jeweils anderen Geschlecht produziert wird.
„Doing Gender means creating differences between girls and boys and women and men, differences that are not natural, essential or biological“ (West/Zimmerman 1987, S.137)
Mit doing gender kann jedoch zugleich die Dekonstruktion fest zugeschriebener binärer Geschlechterrollen vollzogen und als System zur Reproduktion geschlechtlicher Arrangements verstanden werden. Gesellschaftliche Erwartungen an Männer, Frauen, Queers, u. a., bestimmen maßgeblich die je individuellen Handlungen von Individuen und deren Performanz in der Darstellung des Geschlechts (vgl. West/Zimmerman 1987, S.146). Individuelle geschlechtliche Darstellung ist abhängig von den je vorgefundenen Umweltgegebenheiten und Spezifika der jeweiligen Situation in denen sich der Mensch befindet. Dabei kann er als konsistente Person, je unterschiedliche Rollenzuschreibungen adaptieren und in Folge, eine an die vorzufindende Situation je unterschiedliche geschlechtliche Performanz zeigen:
„Individuals have many social identities that may be donned or shed, muted or made more salient, depending on the situation. One may be a friend, spouse, professional, citizen, and many other things to many different people - or, to the same person at the different times.“ (West/Zimmerman 1987, S.139)
Durch diese Sichtweise wird die Prozesshaftigkeit der geschlechtlichen Darstellung deutlich. Geschlecht kann demnach nicht als feststehende Kategorie verstanden werden, sondern als im gemeinschaftlichen Leben, in je unterschiedlichen Situationen und Kontexten, immer wieder neu produziertes Konstrukt (vgl. West/Zimmerman 1987 S.140ff / Karsten 2018, S.494.).
Conell (2013) macht dann in seiner weiteren Ausarbeitung eines universell gültigen Geschlechtsbegriffes jedoch zugleich auf die drohende Verkürzung dieses Begriffes aufmerksam, da sich im Zentrum der Forschung, wenn auch im Laufe der Zeit zunehmend mehr Frauen, so doch zumeist weiße männliche Individuen um die Klärung des Terminus bemühen (vgl. Connell, 2013 S.97f.). Zeitgleich wirbt er dafür keine scharfe Trennung zwischen sozialem Geschlecht (gender} und biologischem Geschlecht (sex) vorzunehmen, sondern Geschlecht einheitlich als soziales Projekt (vgl. Connell 2015, S.124), mit in seinen Darstellungsformen reziprozitivem Charakter zu verstehen (vgl. Connell 2013, S.98). Connell (2013) versteht Geschlecht als „Soziale Verkörperung und [..] Arena der Reproduktion“ (ebd., S.98). Es kann postuliert werden, dass gender nicht maßgeblich von sex beeinflusst werden muss, genauso wie Unterschiede im gender je differenter Individuen nicht ihren Ursprung im sex haben (vgl. Connell 2013, S.99). Körper stellen sich im Verständnis als soziale Konstrukteure und gleichsam als sozial konstruiert dar und konstituieren durch ihren prozesshaften, sozial determinierten Veränderungszyklus, wiederum neue soziale Konstruktionen mit Auswirkungen auf eben jenen selbst. Es perpetuiert sich ein Prozess der Wechselseitigkeit (vgl. ebd., S.99f.). Anders formuliert: Die je gesellschaftlich konstruierten Erwartungen an Körper, auch Abseits einer geschlechtlichen Kategorie, sorgen zeitgleich für deren Veränderungen und fördern wieder jeweils veränderte soziale Konstruktionen und Praktiken zutage. Dieser Prozess wird von Connell (2013) als soziale Verkörperung gefasst. Soziale Verkörperung, im Verständnis nach als körperreflexive Praxis verstanden, umfasst dabei das breite Spektrum individueller Erfahrungszusammenhänge, wie persönliches oder gruppenspezifisches Verhalten, Verhalten im institutionellen Kontext, oder gar in einem Bündel von institutionellen Gegebenheiten. Geschlecht kann dabei verstanden werden als eine Form sozialer Verkörperung im Kreislauf zwischen bestimmten körperlichen Charakteristika, Geschlechterpraktiken und der sozialen Struktur von Geschlechterverhältnissen. Der Körper, ehemals als konstitutives geschlechtliches Moment verstanden, soll in diesem Zusammenhang jedoch nun als Ort der sozialen Verkörperung angesehen werden; als reproduktive Arena (vgl. Connell 2013, S.99-102). Demgemäß formiert sich Geschlecht zu einem Komplex sozialer Dispositionen, genau in dem Maße, in dem biologische Merkmale das soziale nicht determinieren (vgl. Connell 2015, S.124), wobei diese biologischen Merkmale ausschließlich auf den Umstand der sexuellen Fortpflanzung zu beziehen sind (vgl. Connell 2013, S.100), die wiederum im Zuge von individueller Geburtenkontrolle zunehmend an Bedeutung verlieren (vgl. ebd., S.84f.) und gleichsam in soziale Praktiken eingebettet sind (vgl. ebd., S.101). Die Prozesshaftigkeit der individuellen geschlechtlichen Darstellung lässt folglich eine dichotom (männlich / weiblich) oder auch trichotom (männlich / weiblich / divers) erscheinende Einteilung in Geschlecht obsolet erscheinen. Vielmehr ist von sozialen Geschlechterprojekten auszugehen die sich in ihrem je historischen, institutionellen, oder individuellen Kontext formieren und situativ immer wieder reproduzieren, respektive rekonstruieren (vgl. Connell 2015, S.125f.). In den Fokus rückt bei der Betrachtung von Geschlecht als Projekt und folglich toxischer Männlichkeit als Geschlechterprojekt, vor dem Hintergrund Umwelt bedingter Relationen, zunehmend eine dritte, neben sex und persönlichem gender, das Geschlecht maßgeblich beeinflussende Struktur; die gesellschaftlichen Institutionen, sowohl im semantischen (bspw. Schule) als auch abstrakten Sinne (bspw. Staat, Arbeit). Institutionen sind geschlechtlich, vornehmlich männlich, strukturiert (vgl. ebd., S.126). Die vielbeschriebene gläserne Decke (vgl. Ochsenfeld 2012, S.507ff.), die Frauen strukturell daran hindert, in höheren Leitungsfunktionen Fuß zu fassen, ist auf geschlechtliche Reproduktionsmechanismen innerhalb dieser Institutionen zurückzuführen. Beförderung, Einstellung, Arbeitsteilung, Verantwortungsübergabe, Konsensbildung, Handlungsabläufe und viele andere innerinstituionell ablaufende Prozesse sind männlich intendiert und organisiert (vgl. Connell 2015, S.126f.).
Im Rekurs zu den zuvor aufgezeigten Grundlagen geschlechtlicher Performanz und der ihr zugrundeliegenden Determinanten, scheint es notwendig Geschlecht neu zu strukturieren. Gerade auch um das männliche Geschlechtsprojekt in den Fokus zulegen wird im folgenden Connell's (2015) dreistufiges Modell zur Analyse von Männlichkeit vorgestellt.
Connell (2015) unterscheidet dabei zwischen den drei Stufen (1) Macht, (2) Produktion und (3) Karthexis (als emotionale Bindungsstruktur).
Machtbeziehungen
Die, aktuell zu konstatierende geschlechtliche Gesellschaftsordnung westlicher Zivilisationen, fußt in ihren Grundzügen auf dem Umstand der omnipräsenten weiblichen Unterwerfung durch männlich dominante Entscheidungsträger. Dieser strukturelle Zustand kann als Patriarchat bezeichnet werden. Wenn auch durch singuläre Besonderheiten konterkariert, behält er doch seine Allgemeingültigkeit (vgl. Connell 2015, S.127).
Produktionsbeziehungen
Besonders im Bereich der geschlechtlichen Aufgabenzuweisungen im Kennfeld Arbeit und Arbeitsteilung profitieren Männer gegenüber Frauen. Bei ungleich hoher Partizipation am gesellschaftlichen Arbeits- und in Folge materiellem Wertschöpfungsprozess wirkt es nicht verwunderlich, dass Männer in Summe mehr Kapital in Form von Geld anhäufen, als dies Frauen tun, oder äquivalent dazu höhere Löhne und Karrierepositionen aufweisen. Zwangsläufig perpetuiert sich ein geschlechtsbezogener Akkumulationsprozess, welcher Männer statistisch häufiger zu Vermögenden werden lässt und im Geschlechterverhältnis bevorzugt (vgl. ebd., S.127f.).
Bindungsstruktur
Heterosexualität und männliche Dominanz sind eng miteinander verbunden. Emotionale Bindungsstrukturen können, vor dem Hintergrund von sexuellem Begehren, als Energie emotionaler Natur verstanden werden. Die sich daraus formenden Verhaltensweisen können unter Sexualpraktiken subsummiert werden und stellen in ihrer Ausdrucksweise als heterosexuell, homosexuell, bisexuell u. a. einen zentralen Aspekt sozialer Geschlechterordnung dar. Zwang, Freiwilligkeit, beidseitiger Genuss sind dabei die Determinanten dieser Beziehungen (vgl. ebd., S.128.).
Männlichkeit und die Ausgestaltung männlicher Performanz im Prozess der Konstruktion von Geschlecht, muss jedoch aufgrund der Tatsache, dass die geschlechtliche Konstruktion in jedweder Situation und vor jedwedem Hintergrund stattfindet, intersektional betrachtet werden. Um männliche Geschl echterroll enperformanz zu verstehen, gilt es daher zeitgleich andere Kategorien sozialer Konstrukte, wie Rasse, Klasse, Nationalität, Ethnie u. a., die vordergründig zunächst einmal nicht mit Geschlecht in Verbindung stehen, miteinander zu verknüpfen. Denn weiße Männlichkeit konstruiert sich nicht ausschließlich in Relation zu weißer Weiblichkeit, sondern ebenso in Relation zu Männlichkeit von people of colour, Buddhisten, Asiaten u.v.m. (vgl. Connell 2015, S.128f.).
Es wurde aufgezeigt, dass Geschlecht in der postmodernen Gesellschaft nicht mehr nur als biologisch determiniertes Charakteristikum betrachtet wird, sondern als im reziprozitiven Prozess befindliches Konstrukt, welches sowohl, in den jeweils heterosozialen geschlechtlichen Relationen, als auch den homosozialen und intersektionalen Relationen konstruiert wird. Geschlecht als soziales Konstrukt versteht sich demnach als prozesshafte soziale Performanz, die immer wieder situativ hergestellt werden muss. Offensichtlich wird dabei, dass es nicht nur den einen Typus von Männlichkeit geben kann. Auch männliche Geschlechterrollenperformanz ist folglich eingebettet in kulturelle, institutionelle und auch relationale Strukturen und muss vor diesem Hintergrund, von den Individuen konstruiert werden. Es stellt sich die Frage, wie unterschiedliche, männliche Geschlechterrollenperformanzes, in abgrenzbare Schemata klassifiziert werden können, sodass letztlich von toxischer Männlichkeit gesprochen werden kann. Daher wird im Folgenden das von Connell (2015) entwickelte Klassifizierungskonzept von Männlichkeit, vor dem Hintergrund der patriarchalen Grundordnung vorgestellt und versucht toxische Männlichkeit darin zu verorten.
4. Patriarchat und Männlichkeit
Connell (2015) bietet mit seinem Konzept der hegemonialen Männlichkeit die Möglichkeit einer strukturellen Typisierung unterschiedlicher Männlichkeitstypen, die zumindest in den derzeitigen westlich gesellschaftlichen Geschlechterzuordnungen Gültigkeit finden können (vgl. u. a. Connell 2015, S.130 / Böhnisch 2012, o.S.). Das Hegemonialkonzept entspringt ursprünglicher Weise dem Bereich der Klassenanalyse, lässt sich jedoch unter Beachtung des Paradigmas der Intersektionalität und Relation von sozialer Geschlechtskonstruktion, auf die Typisierung von Männlichkeitskonfigurationen anwenden. Die vorgeschlagene Typisierung behält daher sowohl die konstruierten Praktiken, als auch die Relationen im Gesamtzusammenhang im Blick.
4.1. Hegemoniale Männlichkeit
Als hegemoniale Männlichkeit kann die Summe der Geschlechtskonfigurationen verstanden werden, die die patriarchale, ergo männlich dominante Gesellschaftsordnung stützen und die Unterwerfung der Frau weiter legitimieren (vgl. Connell 2015, S.130).
"The main axis of power in the contemporary European/American gender order is the overall subordination of women and dominance of men" (Connell 1995, S. 74)
Wichtig zu beachten ist dabei, dass es um die Darstellungen von Geschlechtlichkeit geht, also um die Performanz, oder Inszenierung, welche im Umkehrschluss in ihrer Qualität jedoch keine Aussagekraft über die tatsächlichen Machtverhältnisse einzelner Individuen liefert. Trotz dessen konstituiert sich die Hegemonie nur dann, wenn die tatsächliche institutionelle Macht mit den kulturellen Idealvorstellungen korreliert (vgl. Connell 2015, S.130).
Anders formuliert: Auch die beste Inszenierung gibt keinen Aufschluss über die realen Machtverhältnisse eines Menschen, doch ist die Übereinstimmung zwischen tatsächlich mächtigen Geschlechterkonfigurationen und kulturell idealtypischen Konfigurationen, individuell, oder kollektiv, Voraussetzung zur Entwicklung der Hegemonie.
Die Hegemonie ist auch in einem historischen Kontext zu betrachten. Sie hat im Vergleich zu vergangenen Epochen bereits Veränderungen unterlegen und kann sich dementsprechend ebenso weiter verändern (vgl. Connell 2015, S.130f.). Der Erhalt der Hegemonie und der patriarchalen Gesellschaftsstruktur, vollzieht sich oftmals unter dem Deckmantel anderer gesellschaftlicher Diskussionen. Es bedarf keiner expliziten „männerpolitischen“ Maßnahmen, sondern unter Berücksichtigung des Umstandes, dass zumeist in den Machtpositionen westlicher Gesellschaften ohnehin Männer zu finden sind, die den hegemonialen Ausleseprozess erfolgreich durchlaufen haben, werden patriarchale Strukturen perpetuiert. Folglich formieren sich Themenkomplexe und Schlagwörter wie Maximierung, Wettbewerbsfähigkeit, nationale Sicherheit, u. a. als eine 16 Tradierung von Hegemonialität. Auch, wenn durch die Etablierung der gesellschaftlich im Fokus stehenden Themen durch die männlich besetzten Institutionen im Hintergrund, eine explizite Männerpolitik nicht durchgängig notwendig ist, lassen sich zeitweise doch reziproke Prozesse dabei erkennen. (vgl. Connell 2015, S.278f.) „Männliche Gewalt, die Propagierung männlicher Vorbilder und die Führung von Organisationen“ (ebd., S.279) spielen dabei eine zentrale Rolle. Die männlich determinierte Gewalt gegenüber Personen, die nicht den hegemonialen Männlichkeitsidealen entsprechen, dient der Aufrechterhaltung der Hegemonialität. Offenkundige Beispiele dafür können die Gewalt gegenüber Frauen, oder Schwulen / Bisexuellen Männern sein (vgl. ebd., S.279f.). Dabei konstatiert Connell (2015), dass das Militär durch seinen, in der breiten Öffentlichkeit wahrgenommenen gewaltvollen Duktus, eine zentrale Rolle bei der Bildung der anerkannten Geschlechtskonfiguration von Männlichkeit gespielt hat. Die Heroisierung von Gewalt und Emotionslosigkeit spiegelt sich in zahlreichen kulturellen Produkten, wie Kinofilmen, Büchern, Werbung u. a. wider, in denen der handelnde Protagonist oftmals kriegsähnliche Schauplätze, oder militärisch anmutende Verhaltensweisen an den Tag legt. Die hierin enthaltene Symbolik dient dabei der Schaffung prototypischer Männlichkeitsideale, die vor dem Hintergrund des Wegfalls religiöser Dogmen und Symboliken, ein beinah transzendentales Vakuum zu füllen versuchen. Auch Abseits männlichkeitsverherrlichender Kulturprodukte vollzieht sich die Perpetuierung des Patriarchats. Im selben Maße, in dem Männlichkeit aufgewertet wird, wird äquivalent dazu Weiblichkeit abgewertet. Eine mittlerweile milliardenschwere Pornografieindustrie produziert Inhalte die mitunter frauenverachtend sind. Frauen werden dabei zu Objekten männlicher Begierde und Lust degradiert und dienen ausschließlich der männlichen Befriedigung. Die organisationale Macht, in Form der Mediengesellschaften im Hintergrund, ist dabei patriarchal geführt. Das Kontinuum der sich selbst erhaltenden Männlichkeit wird dadurch sichtbar. Dabei unterliegt die hegemoniale Männlichkeit Erosionstendenzen von außen (Gleichberechtigungsdebatten, offensichtlich nicht hegemonialer Männlichkeitsideale entsprechenden Gruppierungen, u. a.) und ständigen Angriffen von innen. In den organisationalen Machtzentren finden allgegenwärtig teils verdeckte, teils offensichtliche Machtkämpfe über das hegemoniale Männlichkeitsbild statt. Der status quo der patriarchalen Grundordnung wurde dabei nicht nachhaltig verändert, sodass von einer weiteren Verschlimmerung bereits bestehender Problemlagen ausgegangen werden kann; gerade, weil der militärisch konnotierte industrielle Gesellschaftskomplex an Destruktivität im weiteren Verlauf zunimmt (vgl. Connell 2015, S.281ff.). Zusammenfassend kann hegemoniale Männlichkeit als heterosexuell, vom Eigenverständnis her herrschaftsfähig und überlegen, sowie kulturell akzeptiert charakterisiert werden (vgl. Brandes / Bullinger 1996, S.36).
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- Quote paper
- Philipp Braun (Author), 2022, Toxische Männlichkeit in der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1316542
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