Georg Simmel (1858 - 1918) war der deutsche Soziologe mit den meisten internationalen Beziehungen. Ein enger Freund und Förderer war Max Weber. Simmel setzte sich v. a. mit den Problemen der Konstitution der Einzelwissenschaft Soziologie, ihres Erkenntnisobjekts und ihrer Methode auseinander. Simmel gilt daher auch als einer der Begründer der Soziologie, die er als formale Soziologie definierte. Simmel unterschied zwischen dem Verstehen des Sachgehalts als dem von Zeit und Raum unabhängigen Begreifen des Inhalts und dem historischen Verstehen, das eigentlich kein inhaltliches Verstehen ist, sondern die Einbettung von Ereignissen, Personen, Sachverhalten in dem aktiven Fluss des Lebens. Soziologie als eigenständige Wissenschaft hielt Simmel für möglich, wenn man die Formen des sozialen Lebens aus ihren inhaltlichen Bezügen herauslösen und diese Formen für sich untersuchen kann. Die „Formen der Vergesellschaftung“ - so der Untertitel seines Buches „Soziologie“ (1908) - sind der eigentliche „Gegenstand“ dieser Wissenschaft. Er kann nicht als solcher aus der Wirklichkeit entnommen werden, sondern wird erst durch die Trennung von Form und Inhalt „erzeugt“. Unter dieser Voraussetzung kann die Soziologie aber eine eigene Wissenschaft sein, ja sogar eine exakte Wissenschaft. Simmels sogenannte „große“ Soziologie von 1908 gehört zu den klassischen Werken der Soziologie. An Beachtung hat dieser Monographie seit ihrem Erscheinen nicht gefehlt (auch wenn sie in der universitären Lehre doch zeitweise in „Vergessenheit“ geriet). Sie gehört weltweit bis heute zur soziologischen Pflichtlektüre, wenn nicht als Ganzes, so in Ausschnitten. In dieser programmatischen Schrift kommt Simmel in Absetzung zu den gängigen Ansätzen zu einer „reinen“ Soziologie. 1 Die große Soziologie setzt mit dem Aufriss der Soziologie ein, dem der erkenntnistheoretische Exkurs „Wie ist Gesellschaft möglich?“ eingeschoben ist. Ausgehend von der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen rückt das Problem der Vergesellschaftung ins Zentrum, unter der Simmel „die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichtende Form“ versteht, „in der die Individuen auf Grund jener [...] Interessen sich verwirklichen“ (GSG 2 , Bd. 11, S. 19).
Gliederung
Einleitung
Georg Simmel: Leben und Werk
Hauptteil
Simmels Konzeption der formalen Soziologie
Zentrale Begriffe und die drei soziologischen Apriori
- Der Begriff der Wechselwirkung
- Form und Inhalt
Dimensionen des Simmelschen Analyse-Schemas
Die Form der Triade und die soziologische Bedeutung des Streits
- Die Form der Triade
- Die soziologische Bedeutung des Streits
Schlussteil
Georg Simmel: Intention, Systematik und Kritik
Literatur
Einleitung
Georg Simmel: Leben und Werk
Georg Simmel (1858 – 1918) war der deutsche Soziologe mit den meisten internationalen Beziehungen. Ein enger Freund und Förderer war Max Weber. Simmel setzte sich v. a. mit den Problemen der Konstitution der Einzelwissenschaft Soziologie, ihres Erkenntnisobjekts und ihrer Methode auseinander. Simmel gilt daher auch als einer der Begründer der Soziologie, die er als formale Soziologie definierte.
Simmel unterschied zwischen dem Verstehen des Sachgehalts als dem von Zeit und Raum unabhängigen Begreifen des Inhalts und dem historischen Verstehen, das eigentlich kein inhaltliches Verstehen ist, sondern die Einbettung von Ereignissen, Personen, Sachverhalten in dem aktiven Fluss des Lebens. Soziologie als eigenständige Wissenschaft hielt Simmel für möglich, wenn man die Formen des sozialen Lebens aus ihren inhaltlichen Bezügen herauslösen und diese Formen für sich untersuchen kann. Die „Formen der Vergesellschaftung“ – so der Untertitel seines Buches „Soziologie“ (1908) – sind der eigentliche „Gegenstand“ dieser Wissenschaft. Er kann nicht als solcher aus der Wirklichkeit entnommen werden, sondern wird erst durch die Trennung von Form und Inhalt „erzeugt“. Unter dieser Voraussetzung kann die Soziologie aber eine eigene Wissenschaft sein, ja sogar eine exakte Wissenschaft.
Simmels sogenannte „große“Soziologie von 1908 gehört zu den klassischen Werken der Soziologie. An Beachtung hat dieser Monographie seit ihrem Erscheinen nicht gefehlt (auch wenn sie in der universitären Lehre doch zeitweise in „Vergessenheit“ geriet). Sie gehört weltweit bis heute zur soziologischen Pflichtlektüre, wenn nicht als Ganzes, so in Ausschnitten. In dieser programmatischen Schrift kommt Simmel in Absetzung zu den gängigen Ansätzen zu einer „reinen“ Soziologie.[1] Die große Soziologie setzt mit dem Aufriss der Soziologie ein, dem der erkenntnistheoretische Exkurs „Wie ist Gesellschaft möglich?“ eingeschoben ist. Ausgehend von der „ungeselligen Geselligkeit“ des Menschen rückt das Problem der Vergesellschaftung ins Zentrum, unter der Simmel „die, in unzähligen verschiedenen Arten sich verwirklichtende Form“ versteht, „in der die Individuen auf Grund jener [...] Interessen sich verwirklichen“ (GSG[2], Bd. 11, S. 19). Darum kann Soziologie „nur diese Wechselwirkungen, diese Arten und Formen der Vergesellschaftung“ untersuchen wollen (ebd. S. 19), um als „exakte, auf das unmittelbare Verständnis des Gegebenen gerichtete Wissenschaft“ (ebd. S. 39) das soziale Geschehen erklären zu können. Die Soziologie habe sich bisher mit gesellschaftlichen Erscheinungen befasst, wie Staat, Familie, Kirche, ohne sich klarzumachen, dass es sich dabei um „auskristallisierte Wechselwirkungen“ handelt (ebd. S. 35). Damit sei der Bereich der Mikrodynamik der Vergesellschaftung ausgeblendet, sie aber mache das Gewebe der Gesellschaft aus, zeige Gesellschaft in ihrem Bildungsprozess, auch wenn die Wechselwirkungsformen soziologisch schwer zugänglich seien, da sie sich noch nicht zu Gebilden verfestigt hätten.
Die folgenden neun Kapitel will Simmel „der Methode nach als Beispiele, dem Inhalte nach nur als Fragmente dessen [verstanden wissen], was ich für die Wissenschaft von der Gesellschaft halten muss“ (ebd. S. 31). Diesem Prinzip – oder besser: nur diesem Anspruch – folgend wird es in diesem Beitrag um die Frage gehen: „Was kann der formale Ansatz Georg Simmels leisten?“ Die Beantwortung dieser Frage kann meiner Meinung nach nur anhand konkreter Beispiele erfolgen. D. h. anhand einer Textanalyse der Primärliteratur; und zwar einzelner Kapitel oder Ausschnitte aus diesen. Vorangestellt werden muss dabei ein Abriss der Konzeption der formalen Soziologie Georg Simmels. Daher will ich in dieser Arbeit zunächst versuchen die Grundlegung der Soziologie Simmels herauszuarbeiten. Dies soll v. a. anhand der Vorstellung der wichtigsten Begriffe geschehen. Die Begriffe wiederum sollten im Zusammenhang der allgemeinen Soziologie-Konzeption Simmels gesehen werden. Des weiteren möchte ich zwei Form-Begriffe vorstellen, die Simmel als Beispiel seiner Methode(!) untersucht hat. Zum einen die Form der Triade (Dreizahl), aus der Simmel einige grundlegende „Formeln“ für die Wechselwirkungen in Dreier-Konstellationen ableitet.[3] Und zum zweiten, daran anschließend, die „soziologische Erscheinung“ des Streits [4] und seine Funktionen und Wirkungen auf das individuelle Leben, soziale Gruppen und (rückwirkend) auf das gesamt-gesellschaftliche System. Die Verbindung dieser Formen – die Form der Triade und die Form des Streit – begründet sich darauf, dass bei der Triaden-Konstellation häufig Beziehungsformen entstehen, welche zur Form des Streits gehören. Wie z. B. die Eifersucht oder die Konkurrenz. M. a. W. bilden diese Untertypen die Motivation für Streit, Kampf und Feindseligkeit. Ein Ansatz hierbei könnte sein, zu zeigen wie es Simmel mit Hilfe seines formalen Ansatzes gelingt zu beweisen, dass die soziologische Form des Streits neben negativen Aspekten auch sehr wichtige positive Wirkungen für die Einheit der Gesellschaft bereithält. Dies ist im Grunde nichts anderes als der altbekannten Frage der Soziologie: „Wie ist Gesellschaft möglich“ nachzugehen. Dabei sind auch – oder vor allem – die scheinbar negativen Ausprägungen gesellschaftlichen Lebens zu untersuchen. Simmel stellt hier die These auf, dass der Streit im Sinne von Konfliktaustrag, ja sogar der Kampf, durchaus Eigenschaften aufweist die positiv zu bewerten sind. Mir kommt es dabei weniger darauf an, Simmels Thesen im einzelnen zu belegen bzw. zu wiederlegen, als vielmehr darauf vorzuführen, wie Simmel die Formbegriffe erklärt, in ihrer Wirkung analysiert und wie er versucht seine Thesen zu belegen. Die wichtigste These bei der Untersuchung des Triade-Komplexes besagt, dass die „Dreizahl als solche [...] dreierlei typische Gruppierungsformen“[5] ergibt, „die einerseits bei zwei Elementen nicht möglich sind, andrerseits bei einer Mehr-als-drei-Zahl entweder gleichfalls ausgeschlossen sind oder sich nur quantitativ erweitern, ohne ihren Formtypus zu ändern“ (Soziologie, S. 75f). Diese drei idealtypischen Formen sollen hier der Reihe nach vorgestellt werden. Die Bezeichnung des Formtyps bezieht sich dabei übrigens auf die Rolle, welche das dritte Element in der Triade einnehmen kann. Wir werden sehen, dass die Triade oft Ort von mannigfaltigen Konfliktlinien ist. Dies ist v. a. beim Typ des „divide et impera“ der Fall. Diese Konflikte und Feindseligkeiten sind für Simmel von derartiger Bedeutung, dass er diese Formen der Wechselwirkung im Kapitel „Der Streit“ gesondert untersucht. Die Hauptthesen bzw. Hauptfragen im Kapitel „Der Streit“ lauten in etwa: 1.) Die paradoxe Frage „ob nicht der Kampf selbst schon, ohne Rücksicht auf seine Folge- oder Begleiterscheinungen, eine Vergesellschaftungsform ist.“ Wenn der Kampf wirklich eine Vergesellschaftungsform ist, dann muss man sich – Simmels Ansatz folgend – fragen: Welche Formen des Kampfes gibt es überhaupt? Und wodurch unterscheiden sich diese Formen? Des weiteren stellt sich die Frage, welche Motivationen für den Kampf vorliegen. Motivation entsteht ja zunächst immer aufgrund der Erwartung irgendwelcher positiver Effekte – für wen auch immer. Daher folgt: 2.) Die Hypothese der „soziologischen Positivität des Kampfes“ als eine Folge von der soziologischen Produktivität der Feindseligkeit. In dieser These unterstellt Simmel also dem Kampf eine soziologische Positivität für die Gesellschaft. Wie gesagt kommt es im Rahmen dieser Arbeit weniger darauf an die Thesen auf ihre Gültigkeit zu untersuchen, als darauf zu zeigen, wie Simmel selbst dabei vorgeht. Um es zu wiederholen: Es geht darum zu zeigen, wie es Simmel mit Hilfe seines formalen Ansatzes gelingt zu beweisen, dass die soziologische Form des Streits neben negativen Wirkungen auch sehr wichtige positive Effekte für die Einheit der Gesellschaft bereithält.
Hauptteil
Simmels Konzeption der formalen Soziologie
Der Begriff „formale Soziologie“ ist eine von Leopold v. Wiese durchgesetzte interpretatorische Klassifikation der Soziologie Georg Simmels, die fortzuführen Wiese für sich reklamierte (Wiese 1921); daher wurde in der Rezeption häufig auch sein Ansatz als „formale Soziologie“ bezeichnet. Wiese ersetzt ‚ Form ’ durch ‚ Beziehung ’ und sieht als Aufgabe der ‚ Beziehungslehre ’, dass sie „aus den Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens, unter Loslösung von den Zwecken und Sachaufgaben des speziellen Falles, nur Art und Weise der in ihnen bestehenden Wechselbeziehungen der Menschen“ zu abstrahieren habe (Wiese 1921); es handelt sich um „die Kategorie des Bloß-Sozialen“ als des „Allein-Zwischenmenschlichen“ (Wiese 1933): „diese Beziehungslehre erhebt den Anspruch, den gesamten Umkreis der theoretischen oder allgemeinen Soziologie zu umfassen“ (Wiese 1931). Doch diese von Wiese konzipierte ‚Beziehungslehre’ hat nur noch wenig mit Simmel gemein. Simmel selbst erblickte in der „reinen“ oder formalen Soziologie nur einen Aspekt neben der „allgemeinen“ und der „philosophischen“ Soziologie (Simmel 1917). ‚ Formale Soziologie ’ bezeichnet demnach einen theoretischen Ansatz zur Bestimmung von Methode und Gegenstandsbereich der Soziologie Simmels als einer „Lehre von der Vergesellschaftung als solcher“ (Simmel 1908), präziser den „Zweck des soziologischen Problems“ in „der Feststellung, systematischen Ordnung, psychologischen Begründung und historischen Entwicklung der reinen Formen der Vergesellschaftung“ (Simmel 1917). Da Simmel sich wie Weber und Dürkheim als ein Begründer dieser neuen Wissenschaft versteht, kommt er in verschiedenen methodologischen Beiträgen immer wieder auf die Frage der Abgrenzung gegenüber den anderen Geistes- und Sozialwissenschaften zurück. Das „Problem der Soziologie“ besteht dabei darin, sie einerseits von übertriebenen Erwartungen zu schützen (Comte wollte sie als eine synthetische Überwissenschaft an die Stelle der Philosophie treten lassen) andererseits ihr „Recht auf Existenz überhaupt beweisen zu müssen“ (Simmel 1917: 6). Dieses Problem kann nach Simmel nur dadurch gelöst werden, dass sich die Soziologie zunächst ein definiertes Arbeitsgebiet schafft, das in einer spezifischen, von anderen Geistes- und Sozialwissenschaften völlig unabhängigen Perspektive die unbestritten vorhandenen sozialen Kräfte und „Kollektivbewegungen, aus denen der Anteil des Einzelnen selten mit völliger Bestimmtheit herauszulösen ist“, erfasst (Simmel 1894). Voraussetzungen hierfür ist die Ausrichtung der soziologischen Analyse des Menschen als eines Gruppenwesens nicht auf „die“ Gesellschaft, sondern auf die „Prozesse der Vergesellschaftung“ zwischen den Individuen. Vergesellschaftung statt Gesellschaft zu analisieren, bedeutet, von der im 19. Jh. vorherrschenden Konzeption Abschied zu nehmen, dass Gesellschaft als eine abstrakte überindividuelle Einheit aufzufassen sei, deren universale, historische Evolutionsgesetze aufgedeckt werden könnten (wie z.B. durch das Drei-Stadien-Gesetz von Saint-Simon und Comte). Laut Simmel lässt die Quantität und oft Widersprüchlichkeit der psychischen Prozesse in jedem einzelnen Individuum nicht nur die Konzeption der „Einheit der Seele“ (Simmel 1890), sondern auf einer höheren Stufe auch die der Gesellschaft, die ja eine Vereinigung dieser in sich so heterogener Individuen ist, als falsch erscheinen. Hieraus ergeben sich zwei entscheidende Schlussfolgerungen: Die Komplexität gesellschaftlicher Erscheinungen lässt die Erkenntnis universeller Evolutionsgesetze nicht zu. Und die Grundeinheit soziologischer Analysen kann weder das Individuum noch die Gesellschaft als voneinander unabhängige Einzelwesen sein, sondern statt dessen die punktuelle „Wechselwirkung der Teile“. Dies ist mit Ver gesellschaft ung gemeint. Gesellschaft ist also das Resultat des Prozesses der Vergesellschaftung von Individuen: „Denn Einheit im empirischen Sinn ist nichts anderes als Wechselwirkung von Elementen“ (Simmel 1908). Ob die Individuen sich zum Zwecke eines Spaziergangs, eines staatlichen Verbandes oder einer Religionsgemeinschaft zusammenschließen; real ist, dass sie sich in ihrem Denken und Handeln aufeinander beziehen und durch diese Wechselwirkung vergesellschaftet sind (vgl. Simmel 1917). Ins Zentrum der Analyse treten somit die Wechselwirkungen von Menschen und die dadurch gestalteten Formen des Lebens. Davon getrennt gesehen werden muss, dass aus diesen unterschiedlichen Formen der Vergesellschaftung unterschiedliche Arten von Gesellschaften entstehen. Somit ist Gesellschaft nur ein „gradueller Begriff, von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach größerer Zahl und Innigkeit der zwischen den Personen bestehenden Wechselwirkungen“ (Simmel 1890). Die aus den individuellen Wechselwirkungen resultierenden Formen der Vergesellschaftung stellen demnach den eigentlichen Gegenstandsbereich der Soziologie dar! Simmel führt eine Reihe von Beispielen an, in denen sich das „Füreinander-, Miteinander und Gegeneinander-Handeln“ (Simmel 1908) der Individuen realisiert: Über- und Unterordnung, Konkurrenz, Arbeitsteilung, Parteibildung usw. (vgl. Simmel 1908). Diese unterschiedlichen Arten des Zusammenschlusses zu einer Gruppe müssen aber getrennt werden von den Motiven, den „Inhalten“ der Vergesellschaftung. Als „Inhalt der Vergesellschaftung“ bezeichnet Simmel zusammenfassend, „alles das, was in den Individuen [...] als Trieb, Interesse, Zweck, Neigung, psychische Zuständlichkeit und Bewegung derart vorhanden ist, dass daraus oder daran die Wirkung auf andere und das Empfangen von Wirkungen entsteht“ (1908). Die analytische Trennung von „Formen“ und „Inhalten“ der Vergesellschaftung basiert auf der Tatsache, dass die unterschiedlichsten Kombinationen zwischen ihnen historisch und empirisch nachgewiesen werden können. Diese Beweisführung ist der Gegenstandsbereich der formalen Soziologie Simmels. In der sogenannten Realität treten sie dagegen nur als eine Einheit auf. Diese in der wissenschaftlichen Abstraktion durchgeführte Trennung ist dennoch legitim, denn sie liegt „in der Struktur der Objektivität selbst“, so dass ein möglicher „Zufallscharakter der wissenschaftlichen Begriffsbildung“ hierbei ausgeschlossen ist (Simmel 1908). Wissenschaftstheoretisch ist diese Trennung von entscheidender Bedeutung, denn mit ihr lässt sich die Aufgabe der Soziologie gegenüber den anderen Sozialwissenschaften eindeutig definieren: Die „reine Soziologie“ (Simmel 1917) analisiert und klassifiziert die aus den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen abstrahierten „Formen“ der Vergesellschaftung, währenddessen das Arbeitsgebiet der anderen Sozialwissenschaften, in den politischen, ökonomischen, juristischen, pädagogischen usw. „Inhalten“ der Vergesellschaftung, den Dimensionen ihrer „reinen Sachlichkeit“ besteht (Simmel 1917).
Zentrale Begriffe und die drei soziologischen Apriori
Einige zentrale Begriffe Simmels gehen auf einen Einfluss Kants und des sogenannten ‚Neukantianismus’ zurück. Dieser Einfluss lässt sich in drei Punkten zusammenfassen: (1) Im Anschluss an Kant stellt Simmel die Frage nach den Bedingungen, unter denen Gesellschaft möglich ist. Er beantwortet sie mit den inzwischen klassisch gewordenen soziologischen „Apriori“[6]. I.) Das erste Apriori besagt, dass Individuen nur unter der Voraussetzung miteinander in Beziehung treten können, dass sie „den Anderen in irgendeinem Maße verallgemeinert“ (als Typ, als Mitglied einer Gruppe oder Klassenangehörigen) sehen (GSG 11, S. 47). II.) Das zweite Apriori betrifft die sogenannte Doppelstellung des Individuums in der Gesellschaft. Danach ist es gleichzeitig Teil wie auch Nicht-Teil der Gesellschaft. Die wechselseitige Beeinflussung und Bedingtheit dieser beiden Komponenten prägen ganz bestimmte soziale Typen nach dem Anteil ihrer Teilhabe an der Gesellschaft und bestimmen ganz allgemein die Art des gesellschaftlichen Lebens (vgl. GSG 11, S. 51). III.) Das dritte Apriori gilt der Frage nach der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, individuellem Teil und übergeordnetem Ganzen. „Gesellschaften“ können nur unter der Voraussetzung als Einheiten gebildet werden, dass jedes einzelne Individuum darin seinen Platz und so eine funktionale Beziehung zur Gesamtheit findet. (2) Der zweite wichtige Aspekt den Simmel Kant entnimmt, ist die analytische Trennung zwischen „Form“ und „Inhalt“[7], wobei er gleichzeitig von der empirischen Annahme ausgeht, dass sich Form und Inhalt wechselseitig bedingen. Der dritte Beitrag der Probleme der Geschichtsphilosophie für die Soziologie besteht in Simmels Herausarbeitung des Begriffs der „Wechselwirkung“[8]. Dieser nimmt in seinem Werk zwei unterschiedliche Bedeutungen an. Er ist zum einen Begriff zur Analyse der dynamischen Beziehungen zwischen Individuen und anderen angebaren sozialen Einheiten, also ein Relationsbegriff. Zum anderen verwendet Simmel ihn als heuristisches Prinzip, dem zufolge soziale Phänomene nach ihrer Relation zueinander und Funktion füreinander oder für übergeordnete Einheiten zu untersuchen seien. Somit stellt die Wechselwirkung ein methodisches Prinzip innerhalb der Soziologie Simmels dar. Diesem Prinzip folgend definiert Simmel die Soziologie als Wissenschaft von den Prozessen und Formen der Wechselwirkung! Individuen geraten in den soziologischen Blick insofern, als sie diese Wechselwirkungen einerseits schaffen und andererseits von ihnen betroffen sind. Die im zweiten Apriori angesprochene Doppelstellung des Individuums schlägt sich forschungsprogrammatisch als doppeltes Interesse in der Analyse des Individuums nieder: zum einen als Schöpfer von Wechselwirkungen, womit sie die aktive Seite des Individuums, sein „soziologisches Tun“ thematisiert. Zum anderen als Betroffener von Wechselwirkungsprozessen und –formen, womit sie seine passive Seite, sein Erleben oder ‚Leiden’ zum Gegenstand erhebt. Berücksichtigt man ferner Simmels Unterscheidung zwischen Inhalt und Form sowie den Begriff der Vergesellschaftung, lässt sich ein Analyseschema erstellen, das sich aus den Begriffen Wechselwirkung, Form, Tun, Leiden, Inhalt sowie Vergesellschaftung zusammensetzt.
Das zentrale Konzept der Wechselwirkung enthält drei forschungsleitende Aspekte: Erstens beinhaltet es die Aufforderung, die wechselseitigen Relationen zwischen Individuen, Gruppen oder anderen analytischen Einheiten zu untersuchen. Zweitens fordert der Begriff Wechselwirkung zu einer bestimmten Art kausaler Erklärung auf, die über das übliche Ursache-Folge-Schema hinausgeht und prinzipiell auch die Möglichkeit zirkulärer Kausalität in Erwägung zieht. Unter Zuhilfenahme des Kreises erklärt Simmel, dass zwei Elemente sich wechselseitig derart stimulieren können, dass „eine immanente Grenzenlosigkeit, der des Kreises vergleichbar“, vorliegt (GSG 6, S. 121). Drittens verweist der Begriff der Wechselwirkung auf ein dynamisches Prinzip. Wie Simmel schreibt zielt er darauf ab, „alles Substantielle, Absolute, Ewige in den Fluss der Dinge“ aufzulösen, um von der „historischen Wandelbarkeit“, von der „lebendigen Wechselwirksamkeit von Elementen“ (Simmel 1958, S. 9) auszugehen. Wenn Simmel den Wechselwirkungsbegriff zu einem „schlechthin umfassenden metaphysischen Prinzip“ erklärt, so hat man darunter zu verstehen, dass er der Sammelbegriff für die Untersuchung der Relationalität und Dynamik sozialer Vorgänge ist.
Die Bildung sozialer Formen ist nach Simmel eine notwendige Voraussetzung zur Realisierung menschlicher Bedürfnisse, Interessen, Wünsche, Gefühle (kurz: Inhalte). Das von ihm mit der Soziologie verfolgte Ziel ist es, „Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“ anzustellen. Als Beispiele für derartige Formen untersucht er die quantitative Bestimmtheit der Gruppe (Kapitel II), Über- und Unterordnung (Kapitel III), den Streit (Kapitel IV)[9], das Geheimnis und die geheime Gesellschaft (Kapitel V). Des weiteren die Kreuzung sozialer Kreise (Kapitel VI), der Arme (Kapitel VII), die Selbsterhaltung der sozialen Gruppe (Kapitel VIII), den Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft (Kapitel IX) und die Erweiterung der Gruppe und die Ausbildung der Individualität (Kapitel X). An einer Systematisierung oder gar Erfassung aller historisch vorkommender sozialer Formen liegt Simmel ausdrücklich nichts. Diesbezügliche Versuche, wie die von Leopold von Wiese (1876-1969) entwickelte Beziehungslehre, gehen völlig an Simmels Absichten vorbei.
Tun und Leiden (bzw. Erleben) sind zwei Aspekte von Wechselwirkung, mit denen Individuen in ihrer Doppeleigenschaft als Schöpfer und Betroffene von Wechselwirkungen in das soziologische Blickfeld geraten. Während für die Soziologie allgemein üblich ist, sich auf die Analyse sozialer Aktivitäten zu beschränken, besteht die Originalität der Soziologie Simmels darin, dass er auch danach fragt, was mit den Menschen geschieht, „sofern sie vermöge ihrer Wechselwirkung Gruppen bilden und durch diese Gruppenexistenz bestimmt werden“ (Simmel 1917 A, S. 15).
[...]
[1] Im Grunde ist der Begriff der ‚reinen Soziologie’ dem der formalen Soziologie vorzuziehen, da dieser wie im Fall Leopolds von Wiese oft zu einer falschen Interpretation der Soziologie Simmels führte. (Siehe dazu weiter unten)
[2] Georg Simmel – Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt: Aufsätze 1887-1890.
[3] Kapitel II: Die quantitative Bestimmtheit der Gruppe; S. 32-100; insbesondere S. 75-94.
[4] Kapitel IV: Der Streit; S. 186-255; insbesondere S. 186-232.
[5] Der Unparteiische und der Vermittler (Soz., S. 76ff); Der tertius gaudens (Soz., S. 82ff); Der divide et impera (Soz., S. 89ff).
[6] Apriori bzw. a priori (lat.); vor jeglicher Erfahrung. Sein-Zustände jeglicher Art die objektive Wirklichkeit sind. Die objektive Wirklichkeit ist unabhängig von subjektiven Erfahrungen oder Empfindungen.
[7] Eine zusätzliche Definition zu dem Begriffspaar Form und Inhalt findet sich weiter unten im Text.
[8] Auch zum Begriff Wechselwirkung findet sich eine zusätzliche Definition. Diese bildet mit der definitorischen Ausführung zu Form und Inhalt einen Exkurs. Dieser soll dem besseren Verständnis des Simmelschen Ansatzes dienen, in dem diese Begriffe – auch im Kontext dieser Arbeit – die Grundlage bilden (Siehe Seite 10-12).
[9] Die im folgenden angegebenen Kapitel beziehen sich auf das Buch „Soziologie – Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung“.
- Quote paper
- Mag. Dominic Vaas (Author), 2002, Georg Simmel: Formale Soziologie - Die Form der Triade und die soziologische Bedeutung von Streit, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/13102
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