Mission und Bekehrung - ein Begriff, der innerhalb der protestantischen Volks- und Landeskirchen ein Reizwort sind. Warum eigentlich? Oft werden dafür theologische Positionen aufgeführt. Diese Arbeit setzt originär bei Luther an. Der Vergleich zwischen der lutherschen und paulinischen Einordnung kann gewinnbringend neue Perspektiven für das theologische Verständnis eines missionarischen Ansatzes innerhalb der Volkskirche eröffnen. [...] Selber aus einer evangelikal pietistischen Tradition stammend, war es schon
längere Zeit ein persönlicher Wunsch, mich kritisch mit meinem Bekehrungsverständnis
auseinanderzusetzen. Spätestens seit Francke spielt ja im Pietismus der
Moment der Bekehrung eine wichtige Rolle. Viele Christinnen und Christen berufen
sich auf einen bestimmten Zeitpunkt, in welchem sie eine bewusste Entscheidung
getroffen haben, den christlichen Lebensweg zu ergreifen. Dabei werden Begriffe wie
„Wiedergeburt“, „Bekehrung“, „Busse“ oder „Entscheidung“ verwendet. Wie steht
Luther zu diesen Themen? Die vorliegende Arbeit versucht auf diese Fragestellungen
Antworten zu finden. Zu meinem methodischen Vorgehen sind noch ein paar
Bemerkungen notwendig. Erstens: Ich möchte den Zugang über die Originalliteratur erhalten. Der Grund,
warum ich diesen Weg wähle, besteht darin, dass in den vergangenen Jahren mein
Luther-Bild sehr ins Wanken geraten ist. Daher scheint es mir ratsam, über die
Primärliteratur einen Zugang zu wagen. Bei Luthers riesigem Gesamtwerk ist die
Aufgabe in einer derartigen Arbeit allerdings nicht zu bewältigen. Darum kann die
Auswahl nur sehr bescheiden ausfallen. Ich habe mich deshalb in erster Linie - wo
immer vorhanden -, auf die Bibelkommentare Luthers konzentriert. Dort, wo er die
entsprechenden Texte auslegt, sollte, so hoffe ich, doch einiges aus seiner eigenen
Theologie greifbar werden. Zweitens: Weiterhin beschränke ich mich hauptsächlich auf Luthers deutsche
Schriften. Diese sind natürlich leichter zu verarbeiten - auch scheint es auf den ersten
Blick bequemer. Aber ist es deswegen unwissenschaftlicher? Geht man von der
Spätdatierung des „Turmerlebnisses“ aus, dann muss diese Frage auch im
Zusammenhang mit Luthers Sprachwechsel vom Lateinischen zum Deutschen gesehen
werden. Die reformatorische Erkenntnis beinhaltet auch den programmatischen Weg
ihres Gedankenguts hin zur Muttersprache; damit werden die neuen Erkenntnis dem
Nichttheologen und einfachen Volk zugänglich gemacht. [...]
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
I. Teil
I.A. Die Bekehrung Martin Luthers
I.A.1. Generelle Fragen zum Lutherbild
I.A.2. Biographische Notizen
I.B.1. Schrift oder Geist?
I.B.2. Exkurs: Spirituelle Erfahrungen im Umfeld Luthers
I.C. Zusammenfassung der Bekehrung Luthers
II. Teil
II.A. Ein kurzer Aufriss des paulinischen Bekehrungsverständnis’
II.B. Wie Luther die Bekehrung theologisch verarbeitet
II.B.1. Bekehrung - Das alte Leben
II.B.2. Bekehrung - Die Erwählung
II.B.3. Bekehrung - Die göttliche Offenbarung
II.B.4. Die eigentliche Bekehrung
II.B.4.a. Busse/Bekehrung bei Luther meint vornehmlich Heiligung
II.B.4.b. Busse/Bekehrung des Christenmenschen beginnt mit der Kindertaufe
II.B.4.c. Busse/Bekehrung bei Luther meint die Rechtfertigung durch Gott
II.B.5. Bekehrung - Die Sündererkenntnis
II.B.6. Bekehrung - Das neue Leben
II.B.6.a. Die guten Werke sind vor Gott etwas anderes als vor Menschen
II.B.6.b. Nach dem Evangelium sind die Forderungen des Gesetzes aufgehoben
II.B.6.c. Innere und äußere Wirklichkeit haben verschiedene Geltung
II.B.6.d. Das neue Leben ist innerlich zweigeteilt
II.B.6.e. Das neue Leben bedeutet ein Leben in zwei verschiedenen Systemen
II.B.6.f. Das neue Leben erhebt die bisherige Existenz zum Gottesdienst
II.B.6.g. Das neue Leben im erZtct Xpιerrou
II.C. Eine Schlussbetrachtung zur lutherischen Definition von Bekehrung
III. Teil
III.A. Exkurs zum paulinischen Missionsverständnis
III.B. Das Missionsverständnis bei Luther
III.B.1. Luthers grundsätzlich Haltung zur Mission
III.C.1. Praktischer Vollzug der Mission
III.C.2. Warum setzt sich die Mission bei Luther nicht durch? Mögliche Gründe
III.D. Wort, Werk und Wunder bei Luther
III.D.1. Mission - Das Wort
III.D.2. Mission - Das Werk
III.D.3. Mission - Das Wunder
IV. Teil
IV.A. Versuch eines schematischen Vergleichs zwischen Paulus und Luther
IV.A.1. Die Bekehrung
IV.A.2. Die Mission
V. Teil
V.1. Schlussfolgerungen
VI. Teil
VI.1. Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Bekehrung: „Reue, Busse und Bekehrung gehören eng zueinander. Wenn ein Mensch sein Denken und Leben neu orientiert, so ist dies immer mit einem Urteil über die bisherige Anschauung oder das zurückliegende Verhalten verbunden. Drei Wortgruppen kennzeichnen im NT die Aspekte dieses Vorganges: πιστρω, µετταµλοµαι und µετανοω.Während πιστρω und µετανοω (beide: umkehren, sich bekehren) die Umkehr des Menschen meinen, die unter der Wirkung des Heiligen Geistes eine totale Wandlung der menschlichen Existenz voraussetzt und einschließt, bezeichnet µετταµλοµαι mehr die Empfindung der Reue über Fehltritt, Schuld, Versagen oder Sünde, ist also rückwärts orientiert und muss somit nicht notwendig auch zu einer Hinwendung des Menschen zu Gott führen. Dabei ist πιστρω wohl der umfassendste Begriff, weil er immer den Glauben einschließt, während µετανοω oft noch ausdrücklich πιστεύω= glauben zur Ergänzung nebengeordnet ist.“1
Warum gerade dieses Thema? Die „Bekehrung“ ist in unserer protestantischen Kirchlichkeit negativ besetzt, und wird hauptsächlich mit dem Umfeld von Sekten oder manipulierender Seelenmassage assoziiert. Damit verknüpft ist das zweite Reizwort, die „Mission“. Reizwörter, die falsche Assoziationen wecken, sollten am besten vermieden werden. Nur: woran liegt es denn eigentlich, daß zwei so zentrale kirchliche Begriffe zum Reizwort geworden sind? Da Luther in vielerlei Hinsicht konstitutiv für die evangelische Dogmatik ist, möchte diese Arbeit drei Dinge untersuchen: 1.: Wie steht Luther selber erfahrungsgemäß zu diesen Themen? 2.: Hat er sie Thema in seiner Theologie verarbeitet? Und 3.: Welche Anstöße kann uns das heute geben?
Selber aus einer evangelikal pietistischen Tradition stammend, war es schon längere Zeit ein persönlicher Wunsch, mich kritisch mit meinem Bekehrungs-verständnis auseinanderzusetzen. Spätestens seit Francke spielt ja im Pietismus der Moment der Bekehrung eine wichtige Rolle. Viele Christinnen und Christen berufen sich auf einen bestimmten Zeitpunkt, in welchem sie eine bewusste Entscheidung getroffen haben, den christlichen Lebensweg zu ergreifen. Dabei werden Begriffe wie „Wiedergeburt“, „Bekehrung“, „Busse“ oder „Entscheidung“ verwendet. Wie steht Luther zu diesen Themen? Die vorliegende Arbeit versucht auf diese Fragestellungen Antworten zu finden. Zu meinem methodischen Vorgehen sind noch ein paar Bemerkungen notwendig.
Erstens: Ich möchte den Zugang über die Originalliteratur erhalten. Der Grund, warum ich diesen Weg wähle, besteht darin, dass in den vergangenen Jahren mein Luther-Bild sehr ins Wanken geraten ist. Daher scheint es mir ratsam, über die Primärliteratur einen Zugang zu wagen. Bei Luthers riesigem Gesamtwerk ist die Aufgabe in einer derartigen Arbeit allerdings nicht zu bewältigen. Darum kann die Auswahl nur sehr bescheiden ausfallen. Ich habe mich deshalb in erster Linie - wo immer vorhanden -, auf die Bibelkommentare Luthers konzentriert. Dort, wo er die entsprechenden Texte auslegt, sollte, so hoffe ich, doch einiges aus seiner eigenen Theologie greifbar werden.
Zweitens: Weiterhin beschränke ich mich hauptsächlich auf Luthers deutsche Schriften. Diese sind natürlich leichter zu verarbeiten - auch scheint es auf den ersten Blick bequemer. Aber ist es deswegen unwissenschaftlicher? Geht man von der Spätdatierung des „Turmerlebnisses“ aus, dann muss diese Frage auch im Zusammenhang mit Luthers Sprachwechsel vom Lateinischen zum Deutschen gesehen werden. Die reformatorische Erkenntnis beinhaltet auch den programmatischen Weg ihres Gedankenguts hin zur Muttersprache; damit werden die neuen Erkenntnis dem Nichttheologen und einfachen Volk zugänglich gemacht. Es muss daher in Luthers eigenem Interesse gelegen haben, in deutscher Sprache das zu publizieren, was ihm seit seinem reformatorischen Durchbruch wichtig geworden ist.2 Das heißt nicht, dass die lateinischen Schriften nicht von Bedeutung wären - im Gegenteil: vieles wird nur im Zusammenhang mit ihnen deutlich - aber aus dem vorher Gesagten erhalten die ins Deutsche übersetzten oder deutsch verfassten Texte eben doch sehr viel Gewicht. Und deshalb glaube ich, dass eine Luther-Interpretation, die aus seinen deutschen Texten gewonnen wird, durchaus legitim sei.
Drittens greife ich zu einer methodischen Hilfe, indem ich durch eine knappe Analyse von paulinischen Texten Begriffe herauszuarbeiten versuche. Anhand dieser Begriffe will ich dann mit einer gewissen „Systematik“ die Texte Luthers durchforschen. Über die kurze Erarbeitung dieser Hilfsbegriffe kann man exegetisch nur unbefriedigt bleiben. Aber mehr als ein sekundäres strukturelles Gerüst zur Arbeit an den Luthertexten sollen sie auch gar nicht sein.
Und zuletzt: Da in dieser Arbeit Luther behandelt wird, benutze ich bei deutschen Bibel-Zitaten eine Lutherübersetzung (revidierte Fassung von 1984).
Viel mehr als ein paar bescheidene Erkenntnisse wird diese Arbeit nicht zu leisten vermögen - das Gebiet ist zu groß. Persönlich war es mir jedoch wichtig, mich mit diesen Themen auseinanderzusetzen. Doch auch für dieses Wenige bin ich für meine spätere Aufgabe im Pfarramt dankbar.
Bruno Waldvogel-Frei Riehen im Mai 1996
I. Teil
1. Die Bekehrung Martin Luthers
I.A. Generelle Fragen zum Lutherbild
Nicht ungerne möchte man das geistesgeschichtliche Phänomen Martin Luthers mit demjenigen des Paulus parallelisieren. Aber neben all den vielen historisch biographi-schen Unsicherheiten glaube ich, dass die Entwicklung Luthers anders zur Darstellung kommen muss. Paulus scheint den eigenen Schilderungen zufolge ein religiöser Eiferer von Anfang an gewesen zu sein3, Luther nicht. Während Luther Zeit seines Lebens unter inneren Kämpfen zu leiden hatte, scheint Paulus in seinen Überzeugungen schwerlich erschütterbar gewesen zu sein (sowohl vor als auch nach seiner Bekehrung). Immerhin scheinen sich die beiden Männer in einem Punkte ähnlich gewesen zu sein, nämlich im cholerisch geprägten Temperament.
Eine grundsätzliche Schwierigkeit bei Luther bietet sich darin, dass er keine abgeschlossene Theologie zu bieten scheint. Vielmehr wird so manches situationsbezogen geäußert und muss deshalb eklektisch zusammengetragen werden. Es scheint banal, aber ist dennoch wichtig: Luther entwickelt sich auch als Theologe.
Dies wird z.B. nur schon bei den Resolutionen zu den Ablassthemen deutlich, die zwischen Februar und Mai 1518 entstehen und sich inhaltlich verändern.4 Eine weitere
Schwierigkeit bildet die Lutherforschung selber. Es wird heute ernsthaft gefragt, inwiefern die bisherigen Ergebnisse von einem philosophisch-theologischen Filter geprägt gewesen, und demzufolge in einigen zentralen Punkten Luther gar nicht gerecht geworden seien. SIMON PEURA schreibt: „Wie Risto Saarinen nachgewiesen hat, hat das sogenannte ‘Wirkungsdenken’ im Sinne des Abschieds von der Metaphysik seit Albrecht Ritschl die protestantische Theologie des 20. Jahrhunderts beeinflusst und eine bedeutsame Nachwirkung auch in der Lutherforschung bis in unsere Tage hinein gehabt. Saarinen zufolge hat die von Ritschl formulierte Ablehnung der Metaphysik bzw. des Seinsdenkens zugunsten des Wirkungsdenkens nicht nur das neukantianische Lutherbild und die Lutherrenaissance beherrscht, sondern bis zu Karl Barth und Ernst Wolf weitergewirkt.“5 Es gibt also nicht wenige Unklarheiten in der
Lutherforschung. Wie so oft ist die Versuchung groß, Luther für die eigene Sache einzuspannen. Daher können insgesamt die zusammengetragenen Aspekte meiner Untersuchung im besten Sinne tendenziell richtig, im schlechtesten Fall hypothetischer Natur sein. Ich bin mir dieser Schwierigkeit bewusst und maßen mir auch nicht an, neue wichtige Erkenntnisse vorzulegen. Es erscheint mir aber sehr spannend und lehrreich, anhand von Quellentexten den Versuch zu wagen, Luther durch eine mir nicht geläufige Brille zu lesen. Als evangelikal geprägter Christ bin ich Luther, was unser Thema betrifft, eher mit Skepsis begegnet. Die Rolle des Menschen in Mission und Bekehrung, so mein bisheriger Eindruck, scheint für Luther gar keine Bedeutung zu haben. Ob dies an Luther selber liegt oder aus einer späteren, überzeichneten lutherischen Orthodoxie kommt6, versucht diese Arbeit zu beantworten.
I. B. Biographische Notizen
Zur Biographie: etliche Fakten sind immerhin bekannt. Eine erste Prägung, was den Begriff „Bekehrung“ (conversio) betrifft, erfährt der junge Luther in Magdeburg (1497-98) bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben. Diese Vereinigung von freiwillig mönchisch lebenden Männern hatte es sich zur Aufgabe gemacht, missionarisch unter dem Volke zu wirken. Einerseits geschah dies durch die Aufnahme von Laien in ihre Lebensgemeinschaft, andererseits durch das Abhalten von Andachten (sog. Kollationen), mit denen der junge Luther in Berührung gekommen ist. Die „conversio“, wie es die Brüder verstanden, war zwar von der „via moderna“ geprägt, aber doch im besten Sinne katholisch: „Sie bestand in geistlichen Übungen mit den Schülern. Ihr Ziel war die ‘moderne Frömmigkeit’, die devotio moderna, das nicht mehr unterbrochene und gestörte Streben nach Vollkommenheit mönchischer Art, nach der in reiner Liebe erreichten Gottinnigkeit.“7 Hier spielt die Konzentration auf das biblische Wort eine wichtige Rolle, denn bei den Brüdern „war es nie Brauch und darf es nicht werden, dass die uns besuchenden Scholaren und andere leer von uns fortgehen, ohne mit dem Worte Gottes gespeist zu sein.“8 Das missionarische Engagement der Brüder drückte sich in der Verbreitung von erbaulicher Volksliteratur aus, die mit „gesunder Lehre“9 gefüllt war.
In Eisenach (1498) erlebt der bisher sorglos lebende Luther bei der reichen Familie
Schalbe tiefe religiöse Gesinnung. Diese spätmittelalterliche Frömmigkeit ist „voller und Unruhe und Schreckhaftigkeit, von Furcht vor dem Tode erfüllt und strebt mit allen Kräften nach der Aussöhnung mit dem die Sünde strafenden Gott - von daher erklärt sich die Blüte der Heiligenverehrung, die Fülle der Stiftungen und Wallfahrten, der ungeheure Erfolg des Ablasswesens in seinen verschiedenen Gestalten.“10 Was den jungen Luther in dieser Zeit persönlich umgetrieben hat, wissen wir nicht genau. Darüber gibt der Reformator wenig Auskünfte. Aber vermutlich ist er in jener Zeit schon Anfechtungen ausgesetzt.11
Persönliche Krisenerfahrungen spielen dabei sicher eine Rolle: ein Freund stirbt bei einer Rauferei, er selber fügt sich unfreiwillig eine schwere Schlagaderverletzung mit dem Stoßdegen zu.12 Auch der drohende Pesttod, welcher einige seiner Bekannten hinwegrafft, stellt ihm ein rasches, unvorbereitetes Ende vor Augen.13 So kann man also vermuten, dass Luthers Innenleben bereits in Bewegung geraten ist, bevor der eigentliche Umschwung bei Stotterheim stattfindet.
Dieses Schlüsselerlebnis, wie Luther es selber schildert, geschieht am 2. Juli 1505. Unterwegs wird der junge Magister von einem Gewitter auf freiem Felde überrascht. Ein Blitz schlägt so nahe bei ihm ein, dass er durch den Luftdruck zu Boden geschleudert wird. Voll Schreck ruft er die Heilige Anna um Hilfe an und gelobt, Mönch zu werden. Das Versprechen löst er denn auch am 16. Juli desselben Jahres ein. Rückblickend schreibt er: „Ich war der welt reine abgestorben, bis das es Gott zeit dauchte und mich juncker Tetzel treib et Doctor Staupitius me incitabat contra papam.“14
Diese „Bekehrung“ hat Luther ins Kloster getrieben, aber wohl doch nicht den erhofften inneren Durchbruch hervorgerufen. Er hat sein Gelübde später als Fehler empfunden. Aber zu Beginn seiner Klosterzeit ist er entschlossen, mit größtem Eifer in seinen geistlichen Stand hineinzuwachsen. Seinem Vater gegenüber, der diesen Schritt nicht verstanden hat, schreibt er 1507 anfänglich enthusiastisch nach seiner Priesterweihe über das „göttliche Leben“ der Mönche. Als er das erste mal die Messe zelebriert, überfällt ihn angesichts der Majestät Gottes ein heiliger Schrecken - ein einschneidendes Erlebnis, das er zeit seines Lebens nicht vergessen sollte: „Da ich ein junger Mensch war, begab sichs zu Eisleben am Tag Corporis Christi in der Procession, da ich auch mit ging und ein Priesterkleid anhatte, dass ich für dem Sacrament, das Doctor Staupitz trug, so hart erschrak, dass mir der Schweiß ausbrach und nicht anders zu Sinn war, ich würde vergehen für großer Angst.“15 Diese Momente scheinen aber mehrheitlich das innere Ringen negativ zu prägen. So hat Luther große Zweifel an seiner Stellung zu Gott. Um diese Ungewissheit zu überwinden, nimmt er nach eigenen Schilderungen größte Strapazen auf sich: „Es ist wahr, ich bin ein frommer Mönch gewesen und habe meinen Orden so streng gehalten, dass ich sagen darf: Ist je ein Mensch in den Himmel gekommen durch Möncherei, so wollte ich auch hineingekommen sein. Das werden mir alle meine Klostergesellen, die mich gekannt haben, bezeugen. Denn ich hätte mich, wenn es länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Wachen, Beten, Lesen und anderer Arbeit.“16 In der Zeit des Forschens und Nachdenkens ringt er im Augustinerkloster in Erfurt um den gnädigen Gott. Trotz seines gewissenhaften Lebens als Mönch, trotz des Gebets, ist er sich nie gewiss, ob er den heiligen Geist habe.17 Aus diesem Grunde entwickelt er eine Hassliebe zum gerechten Gott. Später beschreibt er diese Zeit: „Ich konnte den gerechten, die Sünder strafenden Gott nicht lieben, im Gegenteil, ich hasste ihn sogar. Wenn ich auch als Mönch untadelig lebte, fühlte ich mich vor Gott doch als Sünder, und mein Gewissen quälte mich sehr. Ich wagte nicht zu hoffen, dass ich Gott durch meine Genugtuung versöhnen könnte.“18 Luther erlebt schreckliche Visionen des Gerichts und sieht darin den Umgang Gottes mit sich.19 Derartige „Anfechtungen“ sind nicht einmal ein spezifisch lutherisches Moment, sondern Teil der damaligen Mönchsfrömmigkeit.
Da man sich der Erwählung nicht gewiss sein kann, verfallen nicht wenige Mönche dieser seelischen Not, die man „das Bad des Satans“ nennt20. Nicht selten enden die Anfechtungen im Wahnsinn. Luthers Seelsorger STAUPITZ gibt dem Angefochtenen den unschätzbar wichtigen Hinweis, dass Christus der Leidende sei, „der mit uns solidarisch ist“.21 Ein erster Anstoß ist gegeben. Es ist ebenfalls Staupitz, der Luther ermuntert, nicht auf Gott den Richter zu sehen, sondern auf die Wunden des Sohnes. Unbewusst gibt er Luther damit einen wichtigen Anstoß zu dessen Kreuzestheologie. Dann kommt es zum sog. „Turmerlebnis“, das von Luther selber zum Schlüsselmoment der Reformation erhoben wird. Hier endlich erkennt er, „dass durch das Evangelium Gerechtigkeit Gottes offenbar werde, nämlich eine passive, durch die Gott uns in seiner Barmherzigkeit durch Glauben rechtfertigt, wie geschrieben steht: der Gerechte soll aus Glauben leben. Hier spürte ich, dass ich völlig neu geboren sei, und dass ich durch die geöffneten Pforten in das Paradies eingetreten sei, und da erschien mir von nun ab die Schrift in einem ganz anderern Licht.“22 Dieses Ereignis hat sich laut Frühdatierung im Wintersemester 1512/13, vielleicht im Frühjahr 151323, oder auch, gemäß Luthers eigenen Angaben, erst 151824 ereignet Luther wird bewusst: Gottes Gerechtigkeit ist schon geschehen - für mich. Damit wird Luther radikal aus der scholastischen Distanz der Theologie herausgerissen und existenziell in das Heilsgeschehen hineingezogen. Bekehrung wird bei Luther zum personal-entscheidungshaften Motiv25. Geht man der Frühdatierung entlang, sind die 95 Thesen dann bereits als Ergebnis des Turmerlebnisses zu sehen. Akzeptiert man hingegen die Spätdatierung, wäre das Turmerlebnis auf dem Hintergrund des Ablass-Streites zu begreifen.
Die Reformation führt die Abkehr von einem bisher anders verstandenen Gottesdienst und betont die Rechtfertigung allein aus Glauben. Diese Erkenntnis löst in der ohnehin angespannten religiösen Landschaft Deutschlands eine Lawine aus. Von nun an befindet sich Luther biographisch und theologisch zwischen zwei Fronten. Einerseits ist da die römische Kirche, die auf ihre Amt- und Lehrtradition pocht, andererseits sind da volkstümlich religiöse Bewegungen der Wiedertäufer, Spiritualisten und „Schwämer“, die sich vehement gegen die bisherige hierarchische Amtskirche auflehnen. Und schließlich ist es die Verbindung zwischen Kirche und Staat, die den Vorgang der Reformation zwar ermöglicht, zugleich aber auch unselige Allianzen schafft. Die Schwierigkeit bei Luthers Äußerungen besteht darin, dass er sich oft sehr überspitzt und polemisch, manchmal auch sehr unfair und verzerrend gegenüber diesen Fronten äußert. Weiß man nicht um den genauen historischen Zusammenhang, kann man leicht falsch interpretieren. Diese Problematik lässt sich wohl auch hier kaum ausblenden.
I. B.1. Schrift oder Geist?
Mit der heiligen Schrift wird nun erbittert gekämpft. Nachdem viele bisherige Dogmen gefallen sind, bricht die Frage auf, wer nun wirklich Christ sei. Wie soll sich die christliche Existenz aufgrund des reformatorischen Prinzips „sola scriptura“ manifestieren? Genügt es, der neuen Lehre zuzustimmen, oder braucht es eine erneute Taufe? Zeichnet sich diese Existenz durch einen neuen Spiritualismus aus, oder ist es die Zugehörigkeit zu einer langen Tradition, die das christliche Leben ausmacht? Muss in der Bekehrung nicht auch eine Erfahrung, ein Erlebnis gemacht werden, eine spürbare, sichtbare Erfüllung mit dem Heiligen Geist, wie man es aus der Apostelgeschichte kennt? Kann nicht nur derjenige Christ sein, der seine Beziehung zu Gott erlebt? Sind es nicht die Geistesphänomene, die einen wahrhaft Bekehrten auszeichnen? Wie soll also „Bekehrung“ aufgrund des neuen Glaubens aussehen?
Die Auseinandersetzung wird nicht gerade zimperlich geführt. Die Äußerungen Luthers über die Spiritualisten fallen heftig und polemisch aus. Auf den ersten Blick scheint es so, als ob der Reformator wenig übrig hätte für die pneumatische Dimension der Bekehrung. Und diese Auseinandersetzung scheint mir bis heute spürbar, nachdem gerade im 19. Jhdt eine „geistvergessene“ Theologie Luthers vertreten wurde. Bekehrung hat auch etwas mit der Dimension des Heiligen Geistes zu tun. Verschließt sich Luther dieser Dimension, wie ihm viele Spiritualisten vorwerfen? Warum fallen die Äußerungen Luthers an diesem Punkt so negativ aus? Der nachfolgende Exkurs untersucht mögliche Gründe, die Luther zu dieser Haltung geführt haben könnten.
Neben den geistig zu deutenden Ursachen gibt es aber sicher auch handfeste politische Gründe, warum Luther sich charismenfeindlich zeigt. Ohne die Unterstützung Friedrich des Weisen und der übrigen Fürstentümer kann die Reformation kaum überleben. Aber der sog. „linke Flügel der Reformation“ leitet aus theologisch unterschiedlichen Positionen auch politische Ansprüche ab - sie sind eben nicht nur Charismatiker sondern auch politisch! Gerade die unterdrückten Bauern können sich in den Vorstellungen von einem brüderlich gestalteten Reich Gottes wiederfinden. Die Ablehnung oder Loslösung aus weltlicher Obrigkeit sind Zündstoff für Unruhen. Nachdem sich diese Gruppen, angeführt von Thomas Müntzer, immer mehr enttäuscht von Luther abwenden, bricht Luther angesichts der Bauernkriege 1525 endgültig mit ihnen. Und dazu gibt es aus Luthers Sicht einen gewichtigen theologischen Grund: der Christ hat der Obrigkeit zu gehorchen, da diese von Gott eingesetzt ist.
I. B.2. Exkurs: Spirituelle Erfahrungen im Umfeld Luthers
Wenn Luther sich in die Auseinandersetzung um das rechte Verständnis des Glaubens hineinbegibt, dann tut er es nicht als unbeschriebenes Blatt. Es gibt einige Gründe, warum der Streit so heftig wird.
Zum ersten sind Propheten, Wunderheiler u.v.m. ein gängiges Phänomen zu Beginn der Reformation. Gerade die Kommerzialisierung des Wunders (Reliquien-Kult, Wallfahrten usw.) hat bei Luther eine tiefe Abneigung hervorgerufen.26 Da hinter der ganzen Erscheinung pure Geldgier stecke, helfe es auch nicht, „dass Wunderzeichen da geschehen, denn der böse Geist kann wohl Wunder tun, wie uns Christus verkündigt hat, Matth. 24.“27 Die Zeit Luthers ist erfüllt von apokalyptischen Ängsten. Wilde Prophetien vom nahen Weltende gehen von Mund zu Mund, astrologische Daten werden für die Ende 1484 aufkommende Syphilis verantwortlich gemacht, die Hexenverfolgungen bahnen sich an und abstruseste Wundergeschichten verbreiten sich immer wieder im ganzen Land. „Zweifel an Gott sind für die damalige Zeit kaum vorstellbar. Wohl aber gab es Zweifel daran, ob die Priesterschaft den Willen Gottes richtig und wahrhaftig verkünde [..] So verwoben sich Heilserwartung und Höllenangst in sehr unterschiedlicher Weise mit sozialen und politischen Aspekten, verschlangen sich zu Gedankenkomplexen, in denen bald dieses, bald jenes Moment, in die Hülle der überkommenen Tradition eingebettet, stärker oder schwächer in den Vordergrund drängte.“28 Es scheint mir durchaus verständlich, dass Luther sich gegen eine wildwucherndes Sektierer- und Prophetentum absichern möchte. Die spätere Katastrophe von Münster (1534/35) illustriert denn auch eindrücklich, zu welchen Fehlleistungen solche Gruppierungen fähig waren.
Zweitens hegt Luther angesichts des Postulats der Geisterfahrung vermutlich noch ganz andere Assoziationen: Offenbarungen im Sinne der scholastisch geprägten Mystik. Als Augustinermönch kennt er natürlich die Mystik des Ordensbegründers. Augustinus hat zwar in seiner späteren Entwicklung immer mehr Abstand davon genommen, doch wirkt sie hinein bis in die Reformation. Luther schätzt aber auch
TAULER und den „FRANKFURTER“, dessen „Büchlein von der deutschen Theologie“ er 1518 vollständig herausgibt.29 In der Mystik sucht der Mönch Luther eine Gottesschau ganz in der Tradition seiner Zeit. Innigkeit und Überwältigtsein in der Gottesbeziehung sind kein Fremdwort für Luther und seine Zeit: „Er - der Sohn, das ‘Gleichbild des unsichtbaren Gottes’, ‘Abglanz seiner Herrlichkeit und Abbild seines Wesens’ (Hebr 1,3), er, der überall ist durch seine Geburt, wird durch die Gnade der Einung der einzelhaften vernünftigen Natur geeint, damit er durch diese Einung uns heimbringe zum Vater aus dem quellenden Ursprung... Bei diesem Hinübergang, soll er vollkommen sein, muss alle Tätigkeit des Verstandes aufgegeben und die Höhe unseres trachtenden Gemütes an Gott überlassen und in ihn gewandelt werden. Das aber ist geheimnisvoll und tief verborgen, und niemand kennt es, der es nicht erfährt, und keiner erfährt es, der es nicht ersehnt, und keiner ersehnt es, den nicht bis ins Mark entflammte das Feuer des Heiligen Geistes, den Christus auf die Erde gesandt hat. Und darum sagt der Apostel, dass diese mystische Weisheit durch den Heiligen Geist geoffenbart sei. Weil hierzu also nichts die Natur vermag, nur ein bescheidenes Teil der Bemühung, so kommt da wenig auf das Forschen an, viel auf die Salbung; wenig auf unsere Sprache und sehr viel auf den inneren Jubel; wenig auf Wort und Schrift und alles auf die Gabe Gottes, nämlich den Heiligen Geist; wenig oder gar nichts auf das Geschöpf und alles auf die schöpferische Wesenheit des Dreifaltigen: Vater, Sohn und Heiliger Geist.“30. In der mystischen Frömmigkeit verspürt man schon jenen Stachel, an dem wohl auch Luther gelitten hat: einerseits ist es das rein subjektive Erleben, das sich unvorhersehbar ereignet und einen Graben zwischen Alltag und geistlicher Erhebung aufreißt. Andererseits vertieft sie die Unsicherheit nach der Erwählung und dem Heil: wer kann denn heute aus der visio dei von gestern zehren? Und tritt sie nicht ein, bedeutet dies etwa die Verwerfung vor Gott? Und wie steht es um mich als Individuum vor Gott? Die platonisch gefärbte Verschmelzung mit Gott, bzw. Christus, stellt die Frage nach dem individuellen Heil vor eine schwere Frage. BRECHT erkennt im frühen Luther den Suchenden nach der vollkommenen Gotteseinheit: „Er las mystische Schriften Bonaventuras, der ihn schier toll machte, weil er die Vereinigung Gottes mit der Seele spüren wollte, die zugleich eine Einigung des eigenen Willens und Verstandes sein sollte.“31 Aber Luther ist nicht der geborene Mystiker. Von den versprochenen Wonnen verspürt er wenig, die es laut Aussage der Bücher geben sollte.32 Seine spärlichen Erlebnisse zweifelte er später sehr an: „Immerhin will er einmal in den dritten Himmel entrückt worden sein, wobei er freilich bezüglich der Gewissheit dieses Erlebnisses ein Fragezeichen macht. Anders ausgedrückt: auch er meinte unter den Chören der Engel geweilt zu haben, hielt aber später dafür, dass er sich eher unter den Teufeln befunden hätte, und warnte dringend vor derartigen Experimenten.“33
Ist es daher verwunderlich, dass Luther gerade durch die neue Sichtweise eines Textes wie vom Blitz getroffen wird? Hier eröffnen sich plötzlich Kategorien, mit denen ein Mensch allzeit leben und sterben kann. Erlebnisse verflüchtigen sich rasch, die Schrift hingegen bleibt. Deshalb „hat Luther die spezifisch ‘mystischen’, auf den Areopagiten zurückgehenden Gedanken mit steigender Schärfe abgelehnt.“34 Deshalb kann ich mir gut denken, dass Luther größte Schwierigkeiten mit den charismatischen Erlebnissen der „Schwärmer“ hat und äußerste Vorsicht hegt, wenn es um die Frage nach der rechten Gotteskindschaft geht. Und deshalb legt er so großes Gewicht auf die Schrift, mit der alles steht und fällt. Luther stellt sich also nicht einfach gegen die Dimension des Heiligen Geistes, sondern er weist ihr die im Zweifelsfall gebührliche Bindung an die Schrift zu.
Drittens gibt es einen seelsorgerlichen Aspekt: Luther erlebt in seiner eigenen Gemeinde in Wittenberg, wie 1521/22 durch Karlstadt und drei Zwickauer Propheten Aufruhr und Verwirrung entstehen. Wie diese Ereignisse genau zu deuten sind, ist unsicher. Es scheint mir allerdings fraglich, in KARLSTADT, STORCH, DRECHSEL und
STÜBNER nurmehr vier Enthusiasten zu sehen, die „mehr durch ihren Enthusiasmus wirkend als durch theologische Argumente“35 aufgetreten seien. PHILIPP MELANCHTHON, immerhin der eigentliche Verfasser der Confessio Augustana, kann sie anhand der Schrift theologisch nicht widerlegen. Vielmehr ist er von ihrer Spiritualität und Bibelkenntnis beeindruckt: „Ich habe sie selbst vernommen; sie geben Wunderdinge von sich aus, nämlich sie seien mit heller Stimme von Gott zu lehren gesandt, hätten ganz vertrauliche Gespräche mit Gott und sähen zukünftige Dinge; kurz, sie seien prophetische und apostolische Männer. Wie sehr mich solches bewege, kann ich nicht wohl beschreiben. Ich habe in Wahrheit wichtige Ursachen, dass ich sie nicht verachten will. Denn dass in ihnen Geister seien, ist aus vielen Gründen wahrscheinlich; es kann aber niemand leichtlich ein Urteil darüber fällen als Martinus.“36 Auch auf diesem Hintergrund scheint mir leicht einsichtig, dass Luther aus Sorge um seine Gemeinde gegen die „Schwärmer“ auftreten muss. Das tut er denn auch in seinen Invokationspredigten 1522. Die Ursachen von Luthers Polemik gegenüber dem Schwärmertum sind in theologischer Hinsicht vielschichtig. Schon Paulus muss im 1. Korintherbrief mit aller Deutlichkeit gegen einen charismatischen Wildwuchs ankämpfen. Dies bedeutet wohlgemerkt nicht, dass Paulus diese Charismata verurteilt. Aber der Umgang mit ihnen fordert eine reife Gemeinde. Wie soll man also eine derartige Fähigkeit von einer Gemeinde erwarten können, die eben daran ist, die alten katholischen Formen hinter sich zu lassen und in die große Bewegung der Reformation einzutreten? Luthers Reaktion, stimmen meine Überlegungen, muss also auch vor diesem Hintergrund gesehen werden. Die Zeit ist einfach noch nicht reif. Die Gemeinde, und mit ihr möglicherweise die ganze Reformation in Wittenberg, wäre vielleicht an diesem Punkt auseinandergebrochen. Luther hat das mit einem scharfen Weitblick erkannt. Damit ist aber noch nichts über die theologische Richtigkeit seiner Beurteilung des „Schwärmertums“ gesagt. Diese polemische Verurteilung und Abwertung darf man meiner Meinung nach durchaus in Frage stellen.
Diese drei Punkte spielen sicherlich mit, wenn Luther sich zum Thema der persönlichen Gotteserfahrungen äußert. Und diese drei Gründe sind es auch, die zur voreiligen Annahme verleiten, Luther kenne keine Gottesbeziehung, die über die verobjektivierte Wort-Theologie hinausreiche. Viele möchten Luthers Theologie darum gerne, etwas überspitzt gesagt, als Reaktion auf eine neurotisch geprägte
Umwelt sehen, wie das z.B. in der früheren sozialistisch geprägten Luther-Interpretation häufig der Fall ist.37 Die äußeren geistigen und politischen Zustände spielen selbstverständlich auch eine wichtige Rolle. Allein diese Typologisierung wird der Situation nicht gerecht.38 Neben den äußeren Entwicklungen spielen die persönlichen inneren Erfahrungen Luthers eine entscheidende Rolle. Es liegt ebenso in der damaligen Theologie und Philosophie gegründet, was Luther selber so angetrieben hat. Die theologischen Grundlagen und Frömmigkeitsformen seien hier nur kurz skizziert: „Gott verlangt nicht vom Menschen, was er nicht tun kann, und wenn der Mensch tut, was in seinen Kräften steht, so wird Gott sein Streben belohnen, das war Luthers Überzeugung, in Übereinstimmung mit seinen theologischen Lehrern und der Anschauung der Zeit. Aber wenn er auch mit aller Sorgfalt beichtete und der Beichtvater die Absolution gesprochen hatte, fühlte sich Luther danach genauso als Sünder wie zuvor. Ebenso vergeblich blieben ihm alle anderen von der Kirche vorgeschriebenen bzw. empfohlenen Werke. Dabei macht Luther nicht die Vorschriften der Kirche für das Ausbleiben der inneren Satisfaktion verantwortlich, sondern suchte die Ursache dafür darin, dass er der kirchlichen Weisung bisher nicht ausreichend nachgekommen sei, deshalb seine maßlose Steigerung der Werke. Der quälende Gedanke der Prädestination kam hinzu. Wenn Gott aufgrund des von ihm vorhergesehenen Verhaltens der Menschen die einen zum Heil, die anderen zur Verdammnis bestimmt hat (so die damalige kirchliche Anschauung), konnte sich Luther angesichts seiner Erfahrungen nur unter den Verdammten fühlen.“39 Die existentielle Auseinandersetzung muss ihre theologischen Spuren hinterlassen haben. Nach den inneren Kämpfen ist daher kaum zu erwarten, dass Luther in seiner Theologie weiterhin mit scholastischer Distanziertheit über Heil und Unheil reden kann. Dies aufzuspüren, wird weiter unten unsere Aufgabe sein.
I. C. Zusammenfassung der Bekehrung Luthers
Insgesamt sehe ich folgende Zusammenhänge: Luther lernt bei den Brüdern vom gemeinsamen Leben eine „conversio“ kennen, die sich inhaltlich stark auf monastische Tugenden und religiöse Leistungen konzentriert. Dieser Weg wird durch eine Konzentration auf die Schrift und der „via moderna“ angebahnt. Luthers Bekehrung wird dann in einem Naturgeschehen in Bewegung gesetzt, das für ihn die Frage nach dem gnädigen Gott aufwirft. Er erkennt hierin das zuvorgehende Handeln Gottes an sich. Er antwortet auf die Todesandrohung mit einem Gelübde und geht ins Kloster. Diese „erste Bekehrung“ findet also punktuell statt. Ein weiterer Moment ist der Schrecken vor dem heiligen Gott beim ersten zelebrierten Messopfer, den Luther ganz intensiv erlebt. Im Kloster beginnt in der Folge ein langes seelsorgerliches Ringen, das schließlich im sog. „Turmerlebnis“ einen Durchbruch erlebt. Dieser Durchbruch ist nach Luthers eigenen Angaben nicht wie bei einem Mathematiker zu denken, der nach sorgfältigen Berechnungen schließlich zum Endergebnis kommt, sondern es ist ein Moment der Überraschung, der Luthers Kreisen um dieselbe Frage plötzlich in eine von ihm unerwartete Dimension katapultiert.
Luther wird aus der scholastisch geprägten Theologie herausgerissen und erfährt eine existenzielle Auseinandersetzung mit dem Wort der Bibel. Auf einen längeren Prozess hin folgt also wiederum ein punktuelles Erlebnis, das ich als „zweite Bekehrung“ bezeichnen möchte. So scheint sich die Bekehrung bei Luther weniger in einer direkten Gottesbegegnung sondern vielmehr in einem neuen, existenziellen Schriftverständnis zu gewichten, das dann zu einer neuen Gottesbeziehung führt. Als Folge seiner Erleuchtung antwortet der Mensch Luther nun durch Taten, worin letztlich seine hervorragende Leistung für die Reformation begründet liegt. Bekehrung ist nie eine bloß durchdachte Größe oder ein ethischer Moralkodex, sondern ist immer persönliches Getroffensein von der Wahrheit Gottes.
II. Teil
II.A. Ein kurzer Aufriss des paulinischen Bekehrungsverständnis’
An dieser Stelle scheint es mir nun angebracht, einen Vergleich mit dem paulini-schen Bekehrungsverständnis anzustellen. Nach intensiver Beschäftigung mit Paulus ist mir klar geworden, dass die exegetische Erarbeitung einer paulinischen Bekehrungstheologie im Sinne der historisch-kritischen Methode den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde. Es dünkt mich aber durchaus legitim, wenigstens einen kurzen Aufriss zu diesem Thema zu versuchen, um dann den spannenden Vergleich mit Luther zu wagen. Zur Methode: Was nun folgt, ist keine Exegese, sondern ein Versuch, mögliche Elemente der paulinischen Bekehrung herauszuschälen. In einem weiteren Schritt sollen dann diese Elemente einen Raster bilden, um zu fragen, ob wir auch Ähnliches bei Luther finden können, oder ob sich die paulinischen Assoziationen zur Bekehrung gänzlich von der lutherischen unterscheiden.
Wenn auch spärlich, so sind uns in paulinischen Dokumenten doch einige Selbstaussagen überliefert, die wichtige Eckdaten zur paulinischen Bekehrung liefern. Die Schlüsselstellen finden wir in Gal 1, Phil 3 und 1. Kor 15.40 Für unseren Vergleich wollen wir uns auf den Bericht aus Gal 1 beschränken.
Im Galaterbrief muss sich Paulus energisch gegen eine einsetzende Gesetzlichkeit in der von ihm adressierten Gemeinde stellen. Er spricht dabei ein Anathema gegen alle versuchten Verfälschungen des Evangeliums aus. Und schließlich stellt er sich gegen jegliches menschliches Machwerk, indem er seine Berufung und Autorität als von Gott gegeben darstellt.
„Denn ich tue euch kund, liebe Brüder, dass das Evangelium, das von mir gepredigt ist, nicht von menschlicher Art ist. Denn ich habe es nicht von einem Menschen empfangen oder gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi. Denn ihr habt ja gehört von meinem Leben früher im Judentum, wie ich über die Massen die Gemeinde Gottes verfolgte und sie zu zerstören suchte und übertraf im Judentum viele meiner Altersgenossen in meinem Volk weit und eiferte über die Massen für die Satzungen der Väter. Als es aber Gott wohlgefiel, der mich von meiner Mutter Leib an ausgesondert und durch seine Gnade berufen hat, dass er seinen Sohn offenbarte in mir, damit ich ihn durchs Evangelium verkündigen sollte unter den Heiden, da besprach ich mich nicht erst mit Fleisch und Blut, ging auch nicht hinauf nach Jerusalem zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern zog nach Arabien und kehrte wieder zurück nach Damaskus. Danach, drei Jahre später, kam ich hinauf nach Jerusalem, um Kephas kennenzulernen, und blieb fünfzehn Tage bei ihm. Von den andern Aposteln aber sah ich keinen außer Jakobus, des Herrn Bruder. Was ich euch aber schreibe - siehe, Gott weiß, ich lüge nicht! Danach kam ich in die Länder Syrien und Zilizien. Ich war aber unbekannt von Angesicht den christlichen Gemeinden in Judäa. Sie hatten nur gehört: Der uns früher verfolgte, der predigt jetzt den Glauben, den er früher zu zerstören suchte, und priesen Gott über mir. Danach, vierzehn Jahre später, zog ich abermals hinauf nach Jerusalem mit Barnabas und nahm auch Titus mit mir. Ich zog aber hinauf aufgrund einer Offenbarung und besprach mich mit ihnen über dasEvangelium, das ich predige unter den Heiden, besonders aber mit denen, die das Ansehen hatten,damit ich nicht etwa vergeblich liefe oder gelaufen wäre.“
[...]
1 F.Laubach in: ThBLNT, S. 69
2 so schreibt Aland: „Erst die ‘Spätdatierung’ ergibt ein geschlossenes und in sich schlüssiges Bild der Entwicklung des Reformators, sie allein erklärt beispielsweise, weshalb sich von 1518 ab eine ‘Explosion’ im Schrifttum vollzieht.Neben und trotz der theologischen Abhandlungen und Streitschriften, welche die Auseinandersetzung über den Ablass nötig macht, erscheint jetzt in steter und dichter Folge eine deutschsprachige Erbauungsschrift nach der anderen, völlig unpolemisch, ganz ausschliesslich auf das gerichtet, was einen Christen zum Christen macht.“, Kurt Aland, Die Reformatoren, S. 22f.
3 vgl. Gal 1,13-14
4 vgl. Martin Brecht, a.a.O. s. 217
5 Simon Peura, Die Vergöttlichung des Menschen als Sein in Gott, S. 40
6 vgl. z.B. Pöhlmann, Abriss der Dogmatik, S. 251, od. Emil Brunner, Dogmatik III, S. 322
7 Otto Scheel, Martin Luther: Vom Katholizismus zur Reformation, Bd. 1, S. 83
8 Otto Scheel, a.a.O. S. 74
9 Otto Scheel, a.a.O. S. 83
10 Kurt Aland, Die Reformatoren, S. 16
11 B 4; 319, 5ff; T 3, 4393
12 Gerhard Zschäbitz, Martin Luther, Grösse und Grenze, Teil 1, S. 33; T 1 4618, Nr. 119
13 T 3; Nr. 3566
14 WA, T IV Nr 4707, S. 440
15 Tischreden Nr. 137, F.B., W.A. XIII, 30. November bis 14. Dezember 1531, S. 59
16 WA 38, 143
17 Wa, 45,5798.67015
18 WA 54, 185; LD 2,19f.
19 WA 27, 95f. WA 41; 691,29ff.
20 Martin Brecht, Martin Luther: Sein Weg zur Reformation, 86
21 Martin Brecht, a.a.O. S. 85
22 WA 54, 186; LD 2,20
23 vgl. z.B. Hans Lilje, Luther, S. 70; die Frühdatierung geschieht vor allem deswegen, weil man Luther gerne möglichst früh vom Papst losgelöst sehen möchte, was Luther aber selber ganz anders schildert, vgl. W 54; 179,22-180.4
24 vgl. z.B. Kurt Aland, Die Reformatoren, S. 22. Die Diskussion um die Datierung wird weiterhin auch des-halb geführt, weil man Luthers Turmerlebnis als Ergebnis einer längerer Zeit des Forschens darstellen möchte. Dies würde den Moment der Erleuchtung zugunsten einer rationalen Erklärung verdrängen, da viele Luthers Darstellung der Ereignisse als übertrieben und im Rückblick überzeichnet sehen. Damit stellt sich dann auch die Frage, welchen Stellenwert Luthers Vorlesungen vor 1518 in seiner späteren Theologie einnehmen.
25 Horst Beintker, Luthers Gotteserfahrung und Gottesanschauung, in:Leben und Werk Martin Luthers von 1526 bis 1546, Bd.1, S. 52
26 z.B. bei den Wallfahrtskirchen in: An den christlichen Adel deutscher Nation, W.A. VI,41420ff
27 ebd.
28 Zschäbitz a.a.O. S. 48
29 Karl Heussi, Kompendium der Kirchengeschichte, S. 280
30 Bonaventura, „Die Einigung als reine Gnade“, zitiert in „2000 Jahre Christentum“,S. 344
31 Martin Brecht, Martin Luther - Sein Weg zur Reformation, S. 101
32 W.A. XXXX, III; 1995ff
33 Brecht, a.a.O., S. 102
34 Heussi, a.a.O. S. 280
35 Aland, Die Reformatoren, a.a.O. S. 32
36 Zschäbitz, a.a.O. S. 164; vgl. auch Melanchthons Werke, Bd. VII, 1. Teil, S. 160 Fussnote 9
37 so z.B. Zschäbitz, a.a.O. 46ff
38 Für die Zeit des Paulus könnte man ebenso all die genannten Elemente aufführen: apokalyptische Strömungen, politische Wirren und Aufstände, messianische Erwartungen usw. Luther nur als Typos seiner Zeit zu qualifizieren, wäre also zu einfach.
39 Kurt Aland, Die Reformatoren, S. 20
40 Die lukanische Apg 26,4-11 liefert ähnliche Motive, wenn auch die Diskussion über die Verfasserschaft des Textes an dieser Stelle nicht möglich ist. Vgl. zu dieser Fragestellung z.B. Roloff, Die Apostelgeschichte, S. 348ff
- Quote paper
- Bruno Waldvogel-Frei (Author), 1996, Das Missions- und Bekehrungsverständnis bei Luther unter Berücksichtigung paulinischer Quellen, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/130350
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