Der Gegenstand des Essays behandelt die Frage, wie die Abschaffung des Paragraph 219a StGB in Deutschland politisiert wurde. Zur Beantwortung wird Green-Pedersens Forschung “The Conflict of Conflicts in Comparative Perspective: Euthanasia as a Political Issue in Denmark, Belgium and the Netherlands” herangezogen, um herauszuarbeiten, wie die Abschaffung der Thematik des “Werbens” für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland politisiert wurde. Green-Pedersen geht in besagter Forschung anhand des Diskurses zur Euthanasie in den Niederlanden, Belgien und Dänemark der Frage nach, warum manche Themen in einem Staat politisiert werden, in anderen jedoch nicht (vgl. Green-Pedersen, 2007). Zudem sollen basierend auf den Erkenntnissen der Politikwissenschaftler Philippe C. Schmitter und Marc Blecher die indispensable elements der Debatte herausgearbeitet werden, welche sie in ihrem 2020 erschienenen Buch “Politics as a Science'. `A Prolegomenon" darlegen.
Am 09. März 2022 hat das Bundeskabinett die Abschaffung des Paragrafen 219a StGB offiziell beschlossen. Mit den Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen, SPD, FDP und der Linksfraktion hat der Bundestag schließlich am 24. Juni 2022 die ersatzlose Streichung des Werbeverbotes für Schwangerschaftsabbrüche im Strafgesetzbuch, genauer § 219a StGB, anerkannt. Die CDU/CSU sowie die AfD votierten als einzige dagegen (Deutscher Bundestag, 2022). Am 08. Juli wurde der Gesetzesentwurf zur Streichung von § 219a StGB vom Bundesrat gebilligt, am 19. Juli 2022 trat es schließlich in Kraft (Bundestagsfraktion, o. D.).
§ 219a StGB hatte es Ärzt*innen in Deutschland bisher verboten, vollumfänglich über Schwangerschaftsabbrüche zu informieren. Führten Ärzt*innen unter Voraussetzung von
§ 218a StGB einen Schwangerschaftsabbruch durch und informierten sachlich über die diversen Methoden, zum Beispiel online auf ihrer Homepage, mussten diese bisher von einer strafrechtlichen Verfolgung ausgehen.
In der Schlussdebatte betonte Bundesjustizminister Dr. Marco Buschmann (FDP), wie wichtig die Reform für die Gesellschaft sei. Betroffene schwangere Personen informieren sich im digitalen Zeitalter zuerst im Internet, wo jedoch jede*r Verschwörungstheoretiker*in und Troll* Falschinformationen verbreiten kann. Dass “[...] ausgerechnet hochqualifizierten Ärzten bislang untersagt werde, sachliche Informationen für die ungewollt schwangeren Frauen bereitzustellen [...]” (Deutscher Bundestag, 2022) entspreche nicht dem modernen Zeitalter, in welchem wir leben und sei ungerecht gegenüber Betroffenen* (ebd.).
Der Gegenstand des Essays behandelt die Frage, wie die Abschaffung des Paragraph 219a StGB in Deutschland politisiert wurde. Zur Beantwortung wird Green-Pedersens Forschung “The Conflict of Conflicts in Comparative Perspective: Euthanasia as a Political Issue in Denmark, Belgium, and the Netherlands” herangezogen, um herauszuarbeiten, wie die Abschaffung der Thematik des “Werbens” für Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland politisiert wurde. Greene-Pedersen geht in besagter Forschung anhand des Diskurses zur Euthanasie in den Niederlanden, Belgien und Dänemark der Frage nach, warum manche Themen in einem Staat politisiert werden, in anderen jedoch nicht (vgl. Green-Pedersen, 2007).
Zudem sollen basierend auf den Erkenntnissen der Politikwissenschaftler Philippe C. Schmitter und Marc Blecher die indispensable elements der Debatte herausgearbeitet werden, welche sie in ihrem 2020 erschienenen Buch “Politics as a Science''. 'A Prolegomenon" darlegen.
Entstehungsgeschichte des § 219a StGB
Die Geschichte des §§ 218 ff. StGB reicht bis ins Zeitalter der Antike zurück, denn schon im römischen wie kanonischen Recht standen Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe („Entstehungsgeschichte des § 219a StGB“, 2017:4).
Auch im Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich, kurz RStGB, lässt sich §§ 218 ff. StGB wiederfinden. § 218 RStGB sowie §§ 219, 220 RStGB erhielten zudem zusätzliche Qualifikationen. Der Schutz der bevölkerungspolitischen Interessen rückte in den Vordergrund, sodass im Namen der “Erkenntnis der Wichtigkeit des Nachwuchses” (ebd.:5) die Strafbestimmungen gegen Abtreibungen ausgebaut wurden.
Das Ausmaß an Abtreibungen zum derzeitigem Zeitpunkt sowie Annoncen in Zeitungen wurden vom Gesetzgeber und der Regierung als eine Bedrohung wahrgenommen. Aufgrund dessen ging der Gesetzgeber davon aus, dass sich schwangere Frauen* erst durch besagte Annoncen für eine Abtreibung entscheiden würden. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es kein konkretes Gesetz, welches das “Werben” für Schwangerschaftsabbrüche unter Strafe stellte. Das änderte sich jedoch am 26.05.1933. Das öffentliche Anbieten von Abtreibungen wurde in den §§ 219, 220 RStGB unter Strafe gestellt (ebd.).
Nach dem Ende des Dritten Reiches blieb die Vorschrift bestehen, da die Alliierten in ihm kein NS-Gehalt erkennen konnten (ebd.:6). Daraufhin wurde die Fassung von 1933 bundeseinheitlich wiederhergestellt. Das geschah aus dem Grund, dass diese Fassung einen engeren Anwendungsbereich von Abtreibungsmitteln umfasste. §§ 219 und 220 StGB wurden im 5. Gesetz zur Reform des Strafrechtes am 18.06.1974 zu § 219a zusammengefasst (ebd.:7; Rissing-Van Saan et al., 2019: 418). Es sollte verhindert werden, dass Schwangerschaftsabbrüche als etwas Normales behandelt und kommerzialisiert werden. Dafür sollte jedoch sichergestellt werden, dass es öffentliche und seriöse Anlaufstellen zur Informationsvergabe zur Thematik des Schwangerschaftsabbruches gibt. Die heutige Vorschrift des § 219a StGB ist weitreichend identisch mit der von 1974, auch nachdem 1975 die Fristenregelung aufgehoben und 1995 die Beratungspflicht eingeführt wurde („Entstehungsgeschichte des § 219a StGB“, 2017:8; Rissing-Van Saan et al., 2019: 418).
Wie kam es zur Politisierung der Abschaffung von § 219a StGB?
Ärztin Kristina Hänel
Die Politisierung der Abschaffung von § 219a setzt sich in Bewegung als die Ärztin Kristina Hänel durch das Urteil vom Amtsgericht Gießen vom 24.11.2017 zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 150 Euro verurteilt wird, da sie auf ihrer Homepage über Schwangerschaftsabbrüche informiert (Rissing-Van Saan et al., 2019: 418f). Wörtlich heißt es: “Der Tatbestand des § 219a StGB ist erfüllt, wenn eine Ärztin auf ihrer Homepage darauf hinweist, dass in ihrer Praxis Schwangerschaftsabbrüche vorgenommen werden.” (Gießen, o. D.) Nach Rissing-Van Saan et al. versteht das Gesetz Anbieten, Ankündigen und Anpreisen mit Hinweis auf die genaue Eignung eines Gegenstandes oder auch Verfahrens zum Abbrechen einer Schwangerschaft als Werbung (2019:S. 420).
Kristina Hänel legt gegen das Urteil Berufung ein, welches im Oktober 2018 vom Landgericht Gießen abgewiesen wurde. Nur ein Jahr später hebt das Oberlandesgericht Frankfurt die Verurteilung auf, es kommt zu einer Wiederaufrollung des Falles, der bis zum Bundesverfassungsgericht führt (Beigel, 2022).
Der Fall hat eine gesellschaftliche und rechtspolitische Debatte in Deutschland ausgelöst, was für Informationen Ärzt*innen über Schwangerschaftsabbrüche straflos geben dürfen (Beigel, 2022; Rissing-Van Saan et al., 2019: 418fff). Während des Rechtsstreits über § 219a informiert Hänel weiter auf Podiumsdiskussionen, Informationsveranstaltung, auf Demos und in ihrem Buch „Das Politische ist persönlich: Tagebuch einer “Abtreibungsärztin” (Beigel, 2022).
Gesellschaftlicher Druck pro familia
Nach der Verurteilung von Kristina Hänel solidarisiert sich pro familia mit ihr. Aufgrund des Berufungsverfahrens gegen Hänel fordert ein Verbändebündnis aus insgesamt 29 Verbünden, dem pro familia angehört, die ersatzlose Streichung von § 219 a StGB in einem offenen Brief an die damalige Regierung (profamilia.de: Zugang zum Schwangerschaftsabbruch, 2020). Konkret wird zudem gefordert, Frauen* einen legalen und uneingeschränkten Zugang zu Informationen zu gewährleisten (Verbändebündnis, 2018). Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Anzeige gegen die Ärztin Kristina Hänel für solche gesellschaftlichen Diskussionen gesorgt hat, dass immer mehr Ärzt*innen, welche Abbrüche vornehmen, angezeigt werden. Dieses Vorgehen von Abtreibungsgegner*Innen verunsichert diese und führt letztendlich dazu, dass die Anzahl an Ärzt*innen, welche Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, zurückgeht (ebd.). Als Konsequenz wird das Informationsrecht von Betroffenen* eingeschränkt, genauso wie die freie Wahl nach einem oder einer Arzt oder Ärztin (ebd.).
Zusätzlich fordert pro familia die Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, um so die Selbstbestimmung über den eigenen Körper in Deutschland verwirklichen zu können (pro familia und PARITÄTISCHER begrüßen Abschaffung von Paragraph 219a, o. D.).
In einer Stellungnahme zur Streichung von § 219a StGB weist pro familia zudem darauf hin, dass das Schutzkonzept für das ungeborene Leben durch § 219a StGB nicht berührt wird, durch die Begründung von diversen Verbänden ein solcher Zusammenhang jedoch fälschlicherweise suggeriert wird (pro familia Bundesverband, 2022: 2).
Kirche
Das Kommissariat der Deutschen Bischöfe stellt währenddessen in Frage, ob es eine Anpassung von § 219a StGB geben soll. Laut dem Kommissariat dürfen Ärzt*Innen, Einrichtungen für Schwangerschaftsabbrüche und Fachberatungsstellen schon ausführlich über Abtreibungen aufklären (Kommissariat der deutschen Bischöfe, 2022). Deswegen wird die Streichung weder als angemessen noch als erforderlich angesehen. Sie selbst sehen sich als Stimme für das ungeborene Leben, was es zu schützen gilt. Deswegen betrachten sie mit Sorge die öffentliche Debatte über die Abschaffung von § 219a StGB, da in ihr nach der Meinung des Kommissariats der “ [...] eigenständige Schutz des vorgeburtlichen Lebens in den Hintergrund gerät” (ebd.). Sie setzen sich für die Aufrechterhaltung von § 219a StGB ein, um eben jenes ungeborene Leben zu schützen (ebd.).
Auch der Katholische Deutsche Frauenbund lehnt die Streichung von § 219a StGB ab. Für den KDFB ist wie für das Kommissariat eine ausreichende Informationslage sowie Kommunikations- und Informationsmöglichkeit für alle Beteiligten gegeben. Zudem finden sie, dass der gesetzliche Rahmen seit der Gesetzesnovelle 2019 zur Informationsvergabe von Schwangerschaftsabbrüchen durch Ärzte, Einrichtungen und Fachberatungsstellen ausreichend und differenziert genug ist und es somit keine Streichung braucht (Katholischer Deutscher Frauenverbund E.V., 2022).
Seit dem Urteil des Amtsgerichts Gießen von 24.11.2017 polarisiert die Abschaffung von § 219a StGB und ist Gegenstand der politischen und rechtspolitischen Diskussion geworden. Diverse Gesetzesentwürfe fordern seither die Abschaffung der bisherigen Regelung (Rissing-Van Saan et al., 2019: 418f). Auch der gesellschaftliche Druck steigt so sehr, dass sich die neue Bundesregierung schnell darauf einigt, das Verbot des vermeintlichen Werbens für den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch zu streichen. Hier lässt sich Green-Pedersens Beobachtung wiedererkennen: Themen werden stärker politisiert, wenn gesellschaftlicher Druck herrscht (Vgl. Green-Pedersen, 2007). Auch lassen sich hier schon die indispensable elements nach Schmitter & Blecher (2020) wiederfinden: zum einen die Agents, die in Form von pro familia und anderen Verbänden auftreten, die cleavages zwischen progressiv und konservativ, zum anderen die motives hinsichtlich der Interessen und die consequences im Hinblick auf die Streichung von § 219a StGB.
Parteien
Ampelkoalition
Nach der öffentlichkeitswirksamen Verurteilung von Kristina Hänel legte Bündnis 90/ Die Grünen umgehend einen Gesetzesentwurf zur ersatzlosen Streichung von § 219a StGB vor. Gemeinsam mit den Gesetzesentwürfen der FDP und Die Linke wurde dieser am 27. Juni 2018 in einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz diskutiert. Ein wichtiger Bestandteil des Koalitionsvertrages der Ampelregierung, bestehend aus SPD, FDP und Bündnis 90/ Die Grünen, war die Aufhebung von § 219a StGB. Bei der 1. Lesung am 13. Mai 2022 war auch Kristina Hänel als Sachverständige eingeladen (Bundestagsfraktion, o. D.).
Die Linke unterstützt die geplante Streichung von § 219a StGB der Bundesregierung. Zusätzlich fordert sie die vollständige Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen durch die Streichung von § 218 StGB (Deutscher Bundestag - Sachverständige mehrheitlich für Aufhebung von Paragraf 219a, 2022).
CDU/CSU und AfD
Die CDU/ CSU sowie die AfD lehnen die Streichung von § 219a StGB von der Bundesregierung ab, sie möchten § 219a StGB in unveränderter Form beibehalten. Berufen wird sich hierbei auf die christlichen Werte und den Schutz des ungeborenen Lebens (Rhein-Fischer & Scheliha, 2018; Deutscher Bundestag - Sachverständige mehrheitlich für die Aufhebung von Paragraf 219a, 2022). Sie argumentieren für eine Modifizierung des Paragraphen, sodass Ärzt*innen, Krankenhäuser und Einrichtungen auf ihren Internetseiten wertungsfrei Angaben zu Schwangerschaftsabbrüchen machen können. Zudem besteht nach der Auffassung der beiden Parteien keine Rechtsunsicherheiten im Hinblick auf mögliches “Werben” von Schwangerschaftsabbrüchen (Deutscher Bundestag - Sachverständige mehrheitlich für Aufhebung von Paragraf 219a, 2022).
Auch hier lässt sich Green-Pedersens Beobachtung wiederfinden: Themen werden stärker politisiert, wenn ein bestimmtes Agenda-Setting den Parteien einen Vorteil gibt (Vgl. Green-Pedersen, 2007), was in diesem Falle Wähler*Innenstimmen sind. Die indispensable elements nach Schmitter & Blecher (2020) sind hier die Agents als politische Parteien, cleavages als progressive und konservative Parteien, die motives sind die Interessen der jeweiligen Parteien nach Wähler*Innenstimmen, die processes lassen sich in der Koalitionsverhandlung der Ampelkoalition wiederfinden und die consequences in der Rechtssicherheit von Ärzt*innen, Einrichtungen und Krankenhäusern, der Informationssicherheit von Betroffenen und der Stärkung der Selbstbestimmung von Frauen.
Conclusio
Paragraph 219a StGB war seit jeher umstritten. Die Abschaffung von § 219a StGB begann jedoch erst richtig politisch zu werden, nachdem die Ärztin Kristina Hänel vom Gießener Amstgericht am 24.11.2017 zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil sie auf ihrer Homepage über die diversen Methoden zur Abtreibung informierte. Durch ihr Engagement gelangte die Diskussion um die Streichung von § 219a StGB in Deutschland in den gesellschaftlichen Diskurs und fand damit Eingang in die Politik.
Die endgültige Streichung von § 219a bedeutet mehr Rechtssicherheit für Ärzt*innen und Einrichtungen, die Abbrüche vornehmen sowie Informationssicherheit von Betroffenen*, die Selbstbestimmung von Frauen* wird gestärkt. Laufende Verfahren und strafgerichtliche Urteile wegen § 219a werden eingestellt und aufgehoben. Zusätzlich soll sichergestellt werden, dass es Einrichtung, Ärzt*innen und Krankenhäusern, welche Schwangerschaftsabbrüche durchführen, gestattet ist, über die jeweiligen Verfahren sachlich und berufsbezogen zu informieren (Bundestagsfraktion, o. D.).
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- Quote paper
- Laura Götz (Author), 2022, Wie wurde die Abschaffung von § 219a StGB in Deutschland politisiert?, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1302343
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