Aus welchem Grund sollte Ethik in der Psychotherapie von Bedeutung sein? Gerade dort, wo doch in Therapie ein Raum geschaffen wird für das Fragwürdige, das Zweifelhafte, wo hinter schützenden Türen der Mensch sein Innerstes ausbreiten, sein Dunkelstes ohne Rechtfertigung und Verurteilung offenbaren kann? In der Geschichte der Psychotherapie seit Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde sich tatsächlich mehr um die Tugendhaftigkeit und psychischen Störungsbilder der anvertrauten Klienten und Klientinnen bemüht als um etwaige Schwachstellen der eigenen Zunft. Gerade aber weil Psychotherapie anerkanntermaßen neben technisch-methodischen Aspekten durch die angebotene einzigartige Beziehung zu und zwischen Psychotherapeut*in und Klient*in besondere Wirksamkeit erfährt, ist diese umso mehr einer Vulnerabilität und Fragilität gegenüber Grenzverletzungen, Übertragungen und Machtgefällen und zahlreichen ethischen Dilemmata ausgesetzt. Diesen Fragestellungen zu Nähe und Intimität, Macht und Interessenkonflikten, Aufklärung und Einwilligung oder Schutz vor Schädigung und Missbrauch stellen sich die heutigen Ethikrichtlinien diverser Berufsverbände, die exemplarisch aufgezeigt und mit der Prinzipienethik abgeglichen werden. Darüber hinaus werden die relevantesten Themen der Ethik und Grenzverletzungen in der Psychotherapie aufgezeigt und diskutiert und der Leserin, dem Leser für die Bildung einer eigenen reflektierten Haltung angeboten.
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
1 EINLEITUNG
2 THEORIETEIL
2.1 Gegenstands- und Begriffsbestimmungen
2.1.1 Definitionen Ethik und Moral
2.1.2 Definitionen Dilemma und Kontinuum der Grenzverletzungen
2.1.3 Prinzipien der biomedizinischen Ethik nach Beauchamp und Childress
2.1.4 Definition Psychotherapie, therapeutische Wirkmechanismen und Zielorientierung
2.2 Berufsrechtliche Rahmenbedingungen psychotherapeutischen Handelns
2.2.1 Ethischer Meta-Code der European Federation of Psychologist´s Association EFPA
2.2.2 Statement of Ethical Principles of the European Association for Psychotherapy – EAP
2.2.3 European Association for Transactional Analysis – EATA
2.3 Patientenrechte
2.4 Ethische Fragestellungen und Formen von Grenzverletzungen in der Psychotherapie
3 DISKUSSION
LITERATURVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Abb. 1: Kontinuum: Ethische Fragestellungen, Grenzüberschreitungen Grenzverletzungen (in Anlehnung an Schleu, 2021, S. 142; Erweiterung und Darstellung von der Verfasserin).
Abb. 2: Häufigkeit der Beschwerdekategorien in den Beratungsabschnitten 1-8 des Ethikvereins e.V. (Schleu, 2021, S. 156).
Abb. 3: Kontinuum: Ethische Fragestellungen, Grenzüberschreitungen Grenzverletzungen (in Anlehnung an Schleu, 2021, S. 142; Inhaltliche Ergänzungen und Darstellung von der Verfasserin).
1 EINLEITUNG
Aus welchem Grund sollte Ethik in der Psychotherapie von Bedeutung sein, dort überhaupt eine Begrifflichkeit oder Notwendigkeit darstellen? Gerade dort, wo doch in Therapie ein Raum geschaffen wird für das Fragwürdige, das Zweifelhafte, wo hinter Mauern und verschlossenen Türen, Mensch sein Innerstes ausbreiten, sein Dunkelstes ohne Rechtfertigung und Verurteilung offenbaren kann? Dort wo es doch gerade die Tugendhaften, die Unbescholtenen sind, die sich anbieten, in die Tiefen des menschlichen Elends mit hinabzusteigen, anzuhören, auszuhalten und – so Gott will – wo Wandlung und Heilung stattfinden dürfen? – Nun: eine idealisierende, naive Idee, eine Farce? – Vielleicht, ebenso wie die Idee, Therapeuten und Therapeutinnen1 (wie Ärzte und Ärztinnen) trügen auch ohne weiße Kittel qua Berufswahl eine vom Leben gegebene blütenreine Weste und mit Freud eine quasi inhärente Moral (vgl. Freud, 1904, 1991) und erschienen Klient*innen2 – weil in Selbstoffenbarungen meist abstinent – dem Nicht-Tugendhaften und Unrechtmäßigen fremd.
Wird nun die Überspitzung dieser Darstellung aus einem tradierten und idealisierenden Blickwinkel entnommen, so bleibt noch immer die Frage nach der Bedeutung von Ethik in der Psychotherapie des 21. Jahrhunderts. Und es bleibt des Pudels Kern, dass sich die Geschichte der Psychotherapie seit Ende des 19. Jahrhunderts tatsächlich mehr um die Tugendhaftigkeit und psychischen Störungsbilder ihrer Klientinnen und Klienten bemühte als um etwaige Schwachstellen der eigenen Zunft. So ist beispielsweise die Liebesgeschichte zwischen der russischen Patientin Sabrina Spielrein und dem Begründer der Analytischen Psychologie Carl Gustav Jung mit Wissen dessen Supervisors und Psychoanalytikers Sigmund Freud keineswegs nur eine rein persönliche, leidenschaftliche Geschichte (vgl. Reetz, 2006), sondern sie zeigt durch die massive Abstinenzverletzung die Notwendigkeit von wechselseitigen Grenzen und Grenzsetzungen der psychotherapeutischen Beziehung und deren beidseitige, anerkannte Zustimmung auf. Gerade weil Psychotherapie anerkanntermaßen neben technisch-methodischen Aspekten durch die angebotene einzigartige Beziehung zu und zwischen Psychotherapeut*in und Klient*in Wirksamkeit erfährt (vgl. Castonguay & Hill, 2017), ist diese umso mehr einer Vulnerabilität, Fragilität gegenüber Beziehungsbedürfnissen, persönlichen Empfindungen und Übertragungsgeschehen ausgesetzt. Gerade durch dieses kostbare und fragile Geschehen unterliegt die therapeutische Arbeitsbeziehung möglicherweise aber auch einer Vermeidung und ignorierenden Abwehr gegenüber der Wahrnehmung und Bewusstheit eigener Trübungen, Verfehlungen oder Grenzüberschreitungen. Keineswegs sind Therapeut*innen moralisch zweifelsfreie Personen und keineswegs schützen therapeutische Methodenkenntnis und Erfahrung vor unwillentlich oder wissentlich getanen Fehlern. Vielmehr fordert gerade die Einseitigkeit der Machtverhältnisse und die besondere Intersubjektivität des einzigartigen Beziehungsraumes zwischen Klient*in und Therapeut*in Regeln und ein normativ geleitetes Handlungs- und Rollenbewusstsein. So benennen Trachsel, Gaab & Bill-Adorno (2018) als wiederkehrende ethische Themen jene des Vertrauens, der Intimität, körperlicher Nähe und Sexualität, Themen wie Macht und Interessenkonflikte oder ebenso Fragen der Patient*innen-Aufklärung, Einwilligungsfähigkeit und der informierten Einwilligung. Ethisch bedeutsam aber sind auch Fragen des Umgangs bei etwaigen Behandlungsfehlern oder moralischen Verfehlungen (ebd., 2018). Dass diese Themen heute erkannt und diskutiert werden können und darüber hinaus seit Jahren Einzug in Berufsordnungen und Ethikleitlinien therapeutischer Fachgesellschaften gefunden haben, ist das Verdienst einer gewachsenen Auseinandersetzung mit und Bewusstheit über ethische Fragestellungen. Dennoch aber findet eine vertiefende Auseinandersetzung und mit eben diesen ethischen Fragestellungen nach wie vor zu wenig in psychotherapeutischer Aus- und Weiterbildung eine naturalistische Einordnung. Eine Beschäftigung damit erfolgt oftmals erst nach Konfrontation mit oder Bekanntwerden von Beschwerden oder persönlicher Motivation einer Vertiefung der eignen professionellen ethischen Haltung.
Wenn Psychotherapie grundlegend als eine diagnostische und therapeutische Handlungswissenschaft verstanden werden kann und Ethik als die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit moralischen Werthaltungen oder gesellschaftlichen Normen, dann sollte eine professionelle Ethik in der Psychotherapie stets bemüht sein, Wertefragen zu erkennen und für einen Diskurs zu öffnen, Methoden zu deren Analyse zu formulieren und daraus konkrete Handlungsoptionen abzuleiten. In diesem Sinne möchte die vorliegende Arbeit der Frage nachgehen, wie Ethik in der Psychotherapie heute verstanden und umgesetzt wird und welche ethischen Themen und Grenzverletzungen in Psychotherapie von Relevanz sind.
2 THEORIETEIL
2.1 Gegenstands- und Begriffsbestimmung en
Im Laufe der Jahre wurden zahlreiche prominente ethische Theorien und Begriffe für die Bereichsethik der Biomedizin formuliert, die bspw. der Deontologie, dem Konsequentialismus oder der Tugendethik entsprangen und sich insbesondere in den Prinzipien der biomedizinischen Ethik nach Beauchamp & Childress (vgl. 2001) auch für den Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie niederschlugen. In diesem Sinne sollen zunächst wesentliche Begriffe zu Ethik und Moral, Dilemma, Grenzverletzung und Missbrauch geklärt werden, die Prinzipienethik nach Beauchamp & Childress vorgestellt sowie eine Grundverständnis von Psychotherapie geschaffen werden.
2.1.1 Definitionen Ethik und Moral
„ Ethik 3 ist die Theorie vom menschlichen Handeln in Verbindung mit den beiden Fundamentalunterscheidungen richtig/falsch sowie gut/böse. Oder: Ethik ist die Theorie moralischen Handelns“ (Wils & Hübenthal, 2006), S.85). Moral wiederum wird verstanden als „Sitte, Gewohnheit, Charakter“, was nach Wils & Hübenthal die in einer konkreten Gemeinschaft eingelebten oder von einer Person internalisierten Verhaltensregeln bezeichnet (ebd., S.241). Ein deskriptiver, möglichst wertneutraler Moralbegriff solle demnach verstanden werden als die Gesamtheit der sozial repräsentierten und von Akteuren internalisierten Handlungsorientierungen sowie wechselseitigen Verhaltenserwartungen oder als eine näher bestimmte Teilklasse dieser Erwartungs- und Orientierungsmuster (ebd., S.241). Somit bietet Ethik als eine Disziplin der Philosophie den Rahmen für das kritische Nachdenken, Reflektieren und Begründen moralischen Handelns.
2.1.2 Definitionen Dilemma und Kontinuum der Grenzverletzungen
Mit Wils & Hübenthal (2005, S.59ff) wird ein Dilemma als eine Wahlsituation zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten A und B beschrieben, welche sich aus „guten Gründen“ dem Akteur, der Akteurin beide als wünschenswert oder verpflichtend darstellen oder aus ebenso guten Gründen als unzulässig erachtet werden. Im Unterschied zu einem Konflikt, der mindestens eine dritte Wahlmöglichkeit denken ließe, fehlen Dilemmata weitere Gründe für eine Entscheidung, so dass „der Konfrontation mit der anderen Handlungsoption paradoxerweise stets etwas Willkürliches“ anhaftet (ebd., S.59). Dies ist bedeutend, da nach Zugrundelegung von Pflichttheorien wie etwa der Lehre vom Kategorischen Imperativ nach Kant oder dem Utilitarismus durch das Prinzip „Sollen impliziert Können“ durch deren für beide geltenden Pflichtcharakter Dilemmata logisch als nicht möglich erscheinen. Eine Lösung kann auf intuitiver Ebene durch Prima-facie-Regeln und Dispositionen, welche die Tauglichkeit der Entscheidung betrachten, erwirkt werden oder auf der kritischen Ebene durch Zuhilfenahme theoretischer Prinzipien (vgl. ebd., S.60).
Für den Diskurs ethischer Fragen in der Psychotherapie kann es hilfreich sein, statt von Dilemma auf die Begrifflichkeit der Grenzverletzung zu verweisen, auch, um den Fokus weniger auf eine Problematik der Entscheidungsfindung des Sollens oder Könnens zu lenken, sondern vielmehr auf eine fehlerhafte, bewusste oder unbewusste Überschreitung einer als ethisch, normativ oder rollengemäß anerkannten Grenze, von Prinzipien oder Rechten und ebenso perspektivisch die Motivation und Rolle des, der Verantwortlichen zu fokussieren. Schleu (2021, S.137ff) spricht beim Versuch einer Abgrenzung von einer „ babylonischen Begriffsverwirrung “, was je nach Kontext in der Literatur als „Überforderung“, „Fehler“ und „Fehleinschätzung“, „Regelverstoß“, „tragische Verstrickung“ oder „schicksalhafte, nicht vorhersehbare Entwicklung“, „Behandlungsfehler“, „Therapieschaden“, „Nebenwirkung“ „Regelverletzung“, „Grenzverletzung“, „Kollusion“ oder „Mismatch“ bis hin zum „Missbrauch“ und „sexualisierter Gewalt“ bezeichnet wird. Für ein Verständnis gegenüber anderen möglichen Schädigungen scheint zudem die von Linden & Strauß (vgl. 2018 in Schleu, 2021, S.138) eingeführte Differenzierung in „Unerwünschte Ereignisse“ hilfreich zu sein, wozu einerseits Ereignisse gehören, welche nicht durch die Therapie verursacht wurden und bspw. durch äußere Ereignisse oder den Krankheitsverlauf bedingt sind sowie andererseits als Ereignisse zu verstehen sind, welche durch die Therapie verursacht wurden als Nebenwirkung einer sachgemäß durchgeführten Behandlung oder aber durch unsachgemäße Behandlung in Indikationsfehler, technische Fehler oder unethisches Verhalten münden. Grenzverletzungen lassen sich so nach Handhabung des Ethikvereins (https://ethikverein.de) als ein Kontinuum zwischen einer potenziell reparablen Grenzüberschreitung über eine potenziell (noch) reparable Grenzverletzung hin zu einer irreparablen schweren Grenzverletzung definieren (Schleu, 2021, S.142). Da sich aber auch im regulären und verantwortungsvollen Therapiegeschehen z.B. auf Interventionsebene ebenso ethische Fragestellungen ergeben können, welche nicht bereits mit einer Überschreitung oder Schädigung einhergehen, wird für die vorliegende Arbeit das Modell eines Kontinuums entwickelt, dessen „oberstes Ende“ des Kontinuums als (schwere) Grenzverletzung kennzeichnet und das „unterste Ende“ den Bereich ethischer Fragestellungen, um auch jene Themen mit einzubeziehen, welche aus einer ethisch bewussten Haltung sich dennoch als fragwürdig oder im Entscheidungs- und Lösungsprozess als zu Klarifizieren darstellen.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abb. 1: Kontinuum: Ethische Fragestellungen, Grenzüberschreitungen Grenzverletzungen (in Anlehnung an Schleu, 2021, S. 142; Erweiterung und Darstellung von der Verfasserin)
2.1.3 Prinzipien der biomedizinischen Ethik nach Beauchamp und Childress
Biomedizinethik als Bereichsethik der Philosophie befasst sich mit ethischen Fragen der menschlichen Gesundheit und Krankheit sowie mit Fragen des Anfangs und Endes des Lebens (vgl. Tschan, 2019). Dabei hat sich nach Rauprich (2005, S.15) im Laufe der Geschichte der biomedizinischen Ethik der Ansatz erwiesen, statt auf konkrete ethische Probleme allgemeine ethische Theorien anzuwenden, hier definierte Prinzipien zugrunde zu legen. Diese Prinzipien haben sich in der Biomedizinethik vor allem durch die sog. Prinzipienethik nach Beauchamp & Childress sowohl für die Medizinethik als auch in der weiteren Entwicklung als Orientierungsrahmen für Psychotherapie-Ethik etabliert (vgl. Trachsel et al., 2018, S.10; Marckmann, 2022, S.32). Als vier charakteristische Prinzipien nennen Beauchamp & Childress (1) das Prinzip des Wohltuns (beneficience), (2) das Prinzip des Nicht-Schadens (nonmaleficience), (3) das Prinzip des Respekts vor der Autonomie (respect of autonomy) sowie (4) das Prinzip der Gerechtigkeit (justice) (Rauprich, 2005, S. 19ff). Die vier Prinzipien bilden dabei einen Rahmen für die Analyse von Fällen und Themen innerhalb der Biomedizin und müssen mit spezifischen Unterprinzipien oder Regeln (wie bspw. der informierten Einwilligung / informed consent beim Prinzip der Autonomie) angereichert werden (ebd., S.21).
Im Genaueren bedeutet das (1) Prinzip des Wohltuns nach Beauchamp & Childress das Gebot oder die positive Verpflichtung, „Handlungen durchzuführen, die das Wohlergehen anderer Personen fördern, die andere Personen davor bewahren, Schaden zu erleiden oder die einen erlittenen Schaden oder Nachteil anderer Personen wiedergutmachen oder kompensieren“ (Beauchamp & Childress, 2001, S.115, 166). Das Gebot ruft auf, gegenüber jeglichen Chancen und Risiken, Vor- und Nachteilen oder Wirkungen und Nebenwirkungen die Handlungsoption mit der größten Aussicht auf Wohl zu wählen (Rauprich, 2005, S.19). Dieser Fürsorge oder Wohltätigkeit steht das (2) Prinzip des Nicht-Schadens gegenüber und „beinhaltet die negative Verpflichtung – also das Verbot – Handlungen durchzuführen, die anderen Personen schaden“, wobei dies neben dem Verbotscharakter zudem eine universelle Anwendung und Unparteilichkeit sowie Rechtfertigung juristischer Sanktionen erlaube (ebd., S.20). Das (3) Prinzip des Respekts vor der Autonomie meint die „Verpflichtung, das Vermögen von Personen zu selbstbestimmten Entscheidungen anzuerkennen und zu fördern“ und meint damit das Verbot, „eigene Entscheidungen von selbstbestimmungsfähigen Personen zu behindern oder zu übergehen“ sowie das „Gebot, Personen in die Lage zu versetzen, wirklich selbstbestimmte Entscheidungen treffen“ und äußern zu können, bspw. über „Diagnose, Therapieoptionen, Prognose und Begleitumstände“ (ebd., S.20). Kritisch betrachtet werden muss das Prinzip in den Fällen, wo es nach Rauprich zu Tabuverletzungen kommt oder eigene Werte mit den Werten anderer, z.B. der Behandler*innen, kollidieren (ebd., S.20ff). Das (4) Prinzip der Gerechtigkeit schließlich gehe nach Rauprich über das Individuum und die Beziehung zwischen Behandelnden und Patient*innen hinaus und beziehe Fragen der Gestaltung und Regulierung innerhalb des Gesundheitswesens mit ein. Das Prinzip beschreibt die „Verpflichtung einer fairen Verteilung von Nutzen und Lasten, zum Beispiel im Gesundheitswesen“, welche nach Beauchamp & Childress bezogen sein könne auf inhaltliche Kriterien wie „Gleichheit, Bedürfnis, Leistung, Verdienst, Alter“ oder prozedurale Kriterien der Verteilung oder „Konzeptionen der fairen Chancengleichheit, der gesundheitsbezogenen Nutzenmaximierung und des allgemeinen Rechts auf ein ordentliches Minimum an Gesundheitsversorgung“ (Rauprich, 2005, S.21).
2.1.4 Definition Psychotherapie, therapeutische Wirkmechanismen und Zielorientierung
Psychotherapie vom griechischen psyche: Seele und therapeuein: heilen, dienen, ist nach Dorsch (Wirtz, 2020, S. 1448ff) allgemein gesprochen die gezielte, professionelle Behandlung psychischer Störungen sowie psychisch bedingter körperlicher Störungen mit psychologischen Mitteln. Konkrete psychotherapeutische Verfahren oder Methoden sind aktuell vor allem analytische Verfahren wie die Psychoanalyse, Analytische Psychotherapie oder Individualpsychologie, behaviorale und kognitiv-behaviorale Verfahren wie die Klassische Verhaltenstherapie, Schematherapie oder Metakognitive Therapie, tiefenpsychologische Verfahren wie die Tiefenpsychologisch fundierte Therapie oder die Katathym-imaginative Psychotherapie oder humanistische Verfahren wie Gesprächspsychotherapie, Psychodrama, Gestalttherapie und Transaktionsanalyse. Des Weiteren gehören hierzu systemische Verfahren wie die Systemische Therapie und Systemorientierte Psychotherapie und körper- sowie bewegungsorientierte Therapien. In der Versorgungslandschaft können die Verfahren sowohl ambulant als auch stationär im Einzel, Paar-, Gruppen- und Familiensetting oder in neuerer Zeit auch als Internet-Interventionen angeboten werden (vgl. ebd., 2020, S.1449). Kennzeichnend für jedes Verfahren sind umfängliche theoretische Grundannahmen für die Genese und Aufrechterhaltung von Krankheiten oder Störungsbildern sowie deren Behandlung unter Anwendung von psychotherapeutischen Techniken nach Indikation und diagnostischer Klassifikation nach den Diagnostischen Klassifikationssystemen ICD10/11 oder DSM V (ICD10, 2005; ICD11, 2018/19; DSM V, 2015). Nach dem Common component model nach Frank kommen verfahrensübergreifend in Psychotherapie begünstigende Wirkfaktoren zur Geltung, wie eine emotionale und vertrauensvolle Beziehung, eine bewältigungsunterstützende Problemanalyse, die Erarbeitung von Erklärungsmodellen der psychischen Störung sowie die Vermittlung von Erfolgserlebnissen, Hoffnung, die Förderung von Sicherheits- und Kompetenzerleben und Emotionserleben als Basis für die Veränderung von Verhalten und Erleben (Frank, 1971 in Wirtz, 2020, S.1448).
Psychotherapie findet dabei nie zum Selbstzweck statt, sondern folgt im psychotherapeutischen Prozess stetig revidierbaren und gemeinsam ausgehandelten Zielvereinbarungen sowie Vertragsüberprüfungen (vgl. Schleu, 2021, S.125; Jecht & Pelz, 2022, S.128).4
2.2 Berufsrechtliche Rahmenbedingungen psychotherapeutischen Handelns
Psychotherapeutisches Handeln5 findet auch rechtlich nicht in einem freien, regellosen Raum statt, sondern hat sich im Laufe der Jahrzehnte in klar formulierten rechtlichen Rahmenbedingungen mit ausformulieren Ethik-Leitlinien niedergeschlagen. Exemplarisch soll dies dargestellt werden an Leitlinien der European Federation of Psychologist´s Association EFPA, der European Association for Psychotherapy EAP sowie beispielhaft für ein Psychotherapie-Verfahren den Leitlinien der European Association for Transactional Analysis EATA.
2.2.1 Ethischer Meta-Code der European Federation of Psychologist´s Association EFPA
So ist die Europäische Vereinigung der Psychologenverbände EFPA, welcher bspw. der Berufsverband Deutscher Psychologen BDP (EFPA, 2022) angehört, eine übergeordnete Instanz zur Vereinheitlichung europäischer Ausbildungsstandards für die akademische Psychologieausbildung und Formulierung von Ethikleitlinien mit derzeit 38 nationalen Mitgliedsorganisationen und über 350.000 assoziierten Psycholog*innen (ebd., 2022).
Die EFPA fordert in ihrem Ethischen Meta-Code alle nationalen Mitgliedsorganisationen dazu auf, sich den ethischen Richtlinien und Grundprinzipien anzuschließen und eine allgemeine Philosophie und Leitlinie für „alle Situationen der Berufsausübung“ von Psychologen und Psychologinnen bereitzustellen sowie die Entwicklung und Befähigung im Umgang mit ethischen Fragestellungen zu fördern und ihrerseits bei Beschwerden Beratung, Mediation und Sanktionsmaßnahmen zur Verfügung zu stellen (EFPA, 2005, S.1ff).
Als vier grundlegende ethische Prinzipien benennt die EFPA die Achtung vor den Rechten und der Würde des Menschen mit den Rechten auf Privatsphäre, Vertraulichkeit, Selbstbestimmung und Autonomie, die Sicherstellung von Qualifikation, Kompetenzstandards und spezifischen Fachkenntnissen der agierenden Psycholog*innen, die wissenschaftliche und professionelle Verantwortung sowie Schadensvermeidung gegenüber der Klientel, der Gemeinschaft sowie der Gesellschaft und des Weiteren die Förderung der Integrität in Wissenschaft, Lehre und Praxis der Psychologie sowie Klärung und Übereinstimmung der Berufsrollen von Psychologen und Psychologinnen, wobei diese Prinzipien in einem wechselseitigen Wirken zueinander stehen (ebd., S.2ff). Die Handelnden sollen sich dabei des Ungleichgewichtes in Wissen und Macht sowie der damit einhergehenden möglichen Abhängigkeit innerhalb der beruflichen Beziehung und professionellen Rolle bewusst sein und bei aufkommenden ethischen Fragestellungen oder Dilemmata unter Maßgabe der genannten ethischen Prinzipien bereit sein, kollegiale oder fachliche Unterstützung einzuholen und vertiefende Überlegungen für den Prozess der Entscheidungs- oder Lösungsfindung anzustellen (ebd.). Bei weiterreichenden Beschwerden oder Pflichtverletzungen fungieren in Deutschland je nach Bundesland als Kontroll- und Schiedsinstanz die Psychotherapeuten- und Ärztekammern (vgl. PTK Bayern, 2022; vgl. BLÄK, 2022).
[...]
1 Für eine wertschätzende, faire und diskriminierungsfreie Sprache wird im Folgenden wo möglich und nötig bei geschlechtsspezifischen Ausdrücken ein Genderstern eingesetzt und schließt alle derzeit bekannten Genderformen mit ein. Eine mögliche grammatikalische Inkorrektheit sowie fehlende Barrierefreiheit werden hiermit in Kauf genommen.
2 Im Verlauf der Arbeit wird die Bezeichnung Klient oder Klientin in Betonung der Mündigkeit der Person verwendet; dies schließt ebenso im Kontext ärztlicher Psychotherapie und Psychiatrie die dort gängige Bezeichnung Patient oder Patientin und auch hier sämtliche Genderformen mit ein.
3 Kursivsetzung durch die Autorin.
4 Auf strafrechtliche sowie zivilrechtliche Aspekte wird in dieser Arbeit nicht eingegangen.
5 In dieser Arbeit wird wegen des Themenschwerpunkts „Ethik“ wertfrei nicht differenziert zwischen Psychologischen Psychotherapeut*innen, Ärztlichen Psychotherapeut*innen oder psychotherapeutisch arbeitenden Heilpraktiker*innen und Heilpraktiker*innen für Psychotherapie mit Heilerlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz sowie zwischen kassen- und nicht-kassen-zugelassenen Psychotherapieverfahren. Trotz etwaiger Unterschiede in berufsrechtlichen Fragen und Pflichten sowie gesellschaftlicher Anerkennung stellen sich mögliche ethische Fragestellungen nahezu deckungsgleich dar.
- Quote paper
- Master of Science Sonja Holzner-Michna (Author), 2022, Ethik und Grenzverletzungen in der Psychotherapie, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1301308
-
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X. -
Upload your own papers! Earn money and win an iPhone X.