Meine Arbeit an der Deutschen Schule / Colegio Alemán in Sucre / Bolivien (1965 bis
1970), der Kontakt mit nach Bolivien geflüchteten Menschen jüdischen Glaubens und
die Arbeit als Pädagoge an der Gedenkstätte Bergen-Belsen (1990 bis 2002)
brachten mich dazu, die Spuren der Menschen zu verfolgen, die sich nach Bolivien
retten konnten. So entstand diese Materialsammlung mit Daten und Texten aus
vielen Büchern, Aufsätzen und dem internet.
Inhaltsverzeichnis
1 - Daten
2 - Zahlen
3 - Visa – Vorstellungen von Bolivien
4 - Hilfen für Flüchtlinge, Existenzgründungen
5 - Landwirtschaftliche Siedlungen
6 - Leben in Bolivien
6.1 - Die Rundschau vom Illimani
6.2 - Klubs
6.3 - Antisemitismus
6.4 - Die Frei-Deutschland-Bewegung des Otto Strasser
6.5 - Jüdische Vereine und Synagogen
7 - Personen
8 - Zahl der Personen
9 - Literatur
1 - Daten
Juli 1932 bis Juni 1935
Chaco-Krieg gegen Paraguay
„Doch es war weniger das Quebracho-Holz, das einen Anlaß zum Streit bot. Auch nicht das Erdöl, das man in den zwanziger Jahren im Chaco fand. Vielmehr versuchte sowohl Bolivien als auch Paraguay den Verlust wettzumachen, den der eine wie der andere auf gewaltsame Weise erlitten hatte: Bolivien die Pazifikküste, Paraguay, das in den Jahren 1864 – 70 einen Krieg gegen Argentinien, Uruguay und Brasilien geführt hatte, einen beträchtlichen Teil im Osten des Landes. Anspruch auf den Chaco, dessen Kern im Grenzgebiet zwischen Bolivien und Paraguay lag, erhoben beide Staaten, wobei ein jeder auf die Regelung während der Kolonialzeit pochte, als der Chaco, an dem im Grunde niemand interessiert war, mal von Bolivien, das heißt von Las Charcas aus, mal von Paraguay, das einem eigenen Gouverneur unterstand, verwaltet wurde. Da es im Zuge der Unabhängigkeit keine eindeutige Grenzregelung gegeben hatte, legte jeder die Ausdehnung seines Territoriums nach eigenem Gutdünken aus, was schließlich – als nationale Demütigung und die Aussicht auf Erdöl zusammentrafen – zu einem bewaffneten Konflikt führte.“
(Westphal 1998, 301 f)
9.11.1938
„Einreisegenehmigungen werden nicht mehr erteilt. Der bolivianische Präsident Germán Busch und sein nazifreundlicher Emigrationsminister Hartmann sorgen persönlich dafür. Ein eilends erlassenes Dekret untersagt 'Negern, Chinesen und Juden' die Einwanderung nach Bolivien.“
(Seichter 2004, 92)
„Bolivien erleichterte erst ab Ende 1938 die Einreise für jüdische Flüchtlinge.“
(Gruner 2008, Seite 734)
18.7.1941
„Der amerikanische Staatssekretär Douglas Jenkins übergibt dem bolivianischen Botschafter in den USA eine Fotokopie eines angeblichen Schreibens von Elías Belmonte Pabón (1905, Irupana – 2001, La Paz) (Militärattaché bolivianische Botschaft Berlin) an den deutschen Botschafter in La Paz, Ernst Wendler, in dem dieser zu einem Naziputsch (mit Hilfe der MNR !) in Bolivien aufruft und eine deutsche Invasion in Südamerika ankündigt. Das Schreiben ist eine Fälschung des britischen Geheimdienstes, um Bolivien zum Eintritt in den Krieg zu bewegen ! Aufgrund dieser Intrige wurden die nationalsistischen Zeitungen La Calle, Busch und Inti verboten.“
(Geschichte Boliviens von 1937 bis 1943, www.payer.de)
19.7.1941
„Das bolivianische Außenministerium teilt dem deutschen Gesandten in La Paz, Wendler, mit, er sei nicht länger 'persona grata' und müsse Bolivien in drei Tagen verlassen.“
(Pommerin 1977, 250 f)
3.2.1942
Bolivien bricht die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland, Italien und Japan ab.
29. bis 31.1.1943
Kongreß der deutschen Antifaschisten in Südamerika in Montevideo. Gegen die Stimmen der Kommunisten wird ein 'Politisches Manifest der Deutschen Antifaschisten Südamerikas' verabschiedet.
8.4.1943
Bolivien erklärt Deutschland, Italien und Japan den Krieg.
2 - Zahlen
„Zufluchtsländer
Anzahl der Juden, die zwischen 1933 und Ende 1938 in anderen Ländern Aufnahme fanden
Vereinigte Staaten 102 222
Argentinien 63 500
Großbritannien 52 000
Palästina 33 399
Frankreich 30 000
Holland 30 000
Südafrika 26 100
Schanghai 20 000
Chile 14 000
Belgien 12 000
Portugal 10 000
Brasilien 8 000
Schweiz 7 000
Bolivien 7 000
Jugoslawien 7 000
Kanada 6 000
Italien 5 000
Australien 3 500
Schweden 3 200
Spanien 3 000
Ungarn 3 000
Uruguay 2 200
Norwegen 2 000
Dänemark 2 000
Philippinen 700
Venezuela 600
Japan 300
Gesamt 453 721
(Gilbert 2001, 39)
„Die Anzahl der deutschen beziehungsweise deutschsprachigen EmigrantInnen in Lateinamerika schwankt zwischen 90.000 und 120.000; man darf also von einer Grobschätzung von rund 100.000 ausgehen. Es besteht allenfalls weitgehend Klarheit in der quantitativen Reihenfolge der Aufnahmeländer:
Argentinien 45.000
Brasilien 25.000
Chile 2.000 (??? wohl eher 12.000, JHK)
Uruguay 7.000
Bolivien 6.000
Kuba 5.000
Kolumbien 2.700
Ecuador 2.500
Dominikanische Republik 2.000
Mexiko 1.200
(von zur Mühlen 1995, 14)
Ausländeranteil in La Paz nach dem jeweiligen Census
1902 1942
Gesamtbevölkerung 60.000 287.000
Ausländer 1.100 12.500
Deutsche 66 1.885
Polen 0 621
Österreicher 2 575
Tschechen 0 221
(http://www.payer.de/bolivien2/bolivien02.htm)
Die jüdische Einwanderung nach Lateinamerika zwischen den Weltkriegen
Datum Land Zahl der jüdischen Einwanderer Kommentar
1936-47 Bolivien 8 000 5 000 von ihnen verließen in dieser Zeit das Land
(Laikin Elkin 1996, 144)
7 000 Flüchtlinge aus Hitlerdeutschland, die meisten jüdischer Mittelstand, stärkste Gruppierung aus der SPD.
(Kießling 1991, 19)
Zwischen Mitte 1938 und Mitte 1941 kamen 10.000 bis 15.000 jüdische Emigranten aus Europa nach Bolivien.
(Kassewitz de Vilar 2004, 59)
Zwischen März und Dezember 1938 flohen ungefähr zwanzigtausend Menschen, hauptsächlich aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei nach Bolivien – mehr als nach Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika und Indien zusammen.
(Spitzer 2003, 9)
„Austrian Jewish Emigration 1938 – 1940
South America 6,845
Argentina 1,690
Bolivia 940“
(Claims Conference: Persecution and Deportation of Austrian Jews 1938 - 1945)
„Die erste Auswanderungswelle des Jahres 1933/34 bringt eine kleine Gruppe aus Osteuropa stammender Juden mit deutschen Pässen nach Bolivien, die sich hauptsächlich in La Paz niederlassen. 1935 wird auf Initiative der in La Paz ansässigen und unter Einbeziehung anderer im Land lebender Juden der erste jüdische Club, der Circulo Israelita, gegründet“
(Seelisch 1989, 81)
„Eine der wenigen offiziellen bolivianischen Statistiken gibt für das 1. Halbjahr 1939 6898 Einwanderer an; davon entfallen auf Staaten, in denen die jüdische Bevölkerung verfolgt wird beziehungsweise starken Pressionen ausgesetzt ist, wie Deutschland: 3086, Österreich: 180, Tschechoslowakei: 498, Danzig: 7, Polen: 737, Rumänien: 84.“
(Seelisch 1989, 86)
„Der nach La Paz ausgewanderte Optiker Rudolf Tolksdorf schätzte Anfang 1940 – also noch vor der letzten großen Einwanderungswelle – die Zahl der in La Paz sich aufhaltenden Emigranten auf etwa 8 000. Von diesen Flüchtlingen wanderten nur einige Hundert in die größeren Provinzstädte Cochabamba, Potosí, Oruro, Sucre und Tarija und wohl nur einige Dutzend aufs Land. Die überwältigende Mehrheit der Fremdlinge konzentrierte sich auf die Hauptstadt, die innerhalb von etwa zwei Jahren um 5 bis 10 % anwuchs. Die Emigranten waren im Straßenbild unübersehbar geworden.“
(von zur Mühlen 1988, 64)
„Aus den Aufstellungen der Sozialdemokratischen Flüchtlingshilfe aus dem Jahre 1938 wissen wir, daß die Kosten für eine Überfahrt nach Bolivien einschließlich der Bahnfahrten Prag – Genua und Arica/Chile – La Paz 3.500 kc (etwas über 120 US $) betrug.
(von zur Mühlen 1988, 25)
Emigrantengemeinden
Land/Stadt Gemeinde Gründungsjahr Mitglieder
Bolivien/La Paz Comunidad Israelita de Bolivia 1939 ?
Bolivien/Cochabamba Comunidad Israelita de Cochabamba 1939 450
Bolivien/Oruro Comunidad Israelita de Oruro 1940 150
(von zur Mühlen 1988, 70)
„Genau kann niemand sagen, für wie viele Vertriebene aus Europa Bolivien der lebensrettende Boden gewesen ist. Die Anzahl der vorwiegend jüdischen Emigranten wird zwischen einigen Tausend und 40.000 – 50.000 angegeben. Genauere, namentlich sichere Zahlen, gibt es aus verschiedenen Gründen nicht. Insbesondere hat Bolivien keine, beziehungsweise nur sehr unvollständige Aufzeichnungen über die Zahl der Einwanderer geführt. Und vor dem Jahr 1940 sind überhaupt keine Zahlen bekannt.
Auch sind zum einen die Kinder und Jugendlichen oft gar nicht erfasst worden, andererseits gab es eine ganze Reihe von Flüchtlingen, die Bolivien nur als Durchreiseland sahen, beziehungsweise es schon nach kurzer Zeit wieder verließen, daher also nicht registriert wurden. Eine recht große Zahl war nämlich nur deswegen in Bolivien gelandet, weil jene Länder Südamerikas, in welche sie ursprünglich einreisen wollten, wie Chile, Argentinien oder Brasilien, bereits einen Immigrationsstopp verfügt hatten. Bolivien war, was kaum bekannt ist, eines der wenigen Länder der Welt, das in den Jahren 1939/40 noch Flüchtlinge aufnahm.“
(Popper 2005, 41)
„Einige Länder bevorzugten für die Einwanderung bestimmte Berufe, und zwar: ... Bolivien Landwirte, Tischler, Schneider, Schuster ... .
In dem Artikel 'Auswanderungsziele 1940' des Jüdischen Nachrichtenblattes vom 29. März 1940 wurden folgende Länder ausgewiesen, in die nach Erfüllung bestimmter Bedingungen ausgewandert werden konnte: USA, Brasilien, Argentinien, Ecuador, Bolivien, Venezuela, Uruguay, , Paraguay, Panama, Costa Rica, Mexiko, Haiti, Kuba, Dominikanische Republik, Abessinien, Tanger, Türkei, Iran, Afghanistan, Siam, Philippinen, Schanghai, Manschukuo, Schweiz, Jugoslawien, Uruguay, Rumänien, Bulgarien, Slowakei, Niederlande, Belgien, Schweden, Norwegen und Dänermark.“
(Rudolf M. Wlaschek: Juden in Böhmen, 1997, Seite 136)
„Es wird geschätzt, dass die bolivianischen Konsulate in Europa und anderswo in diesem Zeitraum (1937 – 1940, JHK) etwa 12.000 Einreisevisa für Flüchtlinge ausgestellt haben dürften. Nicht alle nahmen sie in Anspruch, entweder weil sich ihnen inzwischen attraktivere Fluchtziele geöffnet hatten oder weil sie aus politischen, verkehrstechnischen, finanziellen oder anderen Gründen gar nicht mehr den Weg nach Bolivien fanden. Die Zahl derer, die tatsächlich nach Bolivien einreisten, wird auf etwa 10.000 angesetzt.“
(von zur Mühlen 2007, 159 f)
„Die Flüchtlingsströme nach Lateinamerika verteilten sich ungleich. Der Hauptanteil mit über 35.000 Flüchtlingen trug Argentinien. Die Erhebungen schwanken zwischen einer Zahl von 31.000 und 39.000 Flüchtlingen. In Anbetracht der Größe und der Prosperität des Landes war das sicherlich zu wenig. Nach Kriegsende kam allerdings noch ein beträchtliches Kontingent von Personen aus anderen südamerikanischen Aufnahmeländern hinzu, die aufgrund von Binnenwanderungsprozessen in Argentinien Aufnahme fanden. Für Chile geht man von 12.000 Flüchtlingen aus, nach Uruguay kamen ca. 3.500 bis 7.000 Flüchtlinge, nach Bolivien 6.000 bis 10.000.
(Trapp 1999, 438)
Unterstützt Auswanderung nach Südamerika 1933 - 1939
Ziel 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 Total
Argentinien 72 99 342 572 975 1134 620 3814
Bolivien - - 2 4 3 130 1199 1338
Brasilien 173 310 315 1010 313 30 591 2742
Chile 28 34 50 60 33 76 1153 1434
Kolumbien 11 9 6 69 193 842 50 1180
Paraguay - 35 23 313 42 422 105 940
Uruguay 22 45 46 203 236 332 151 1035
(Adler-Rudel 1974, S. 217)
„Einem merkwürdigen Wandel unterlag die Auswanderung nach Südamerika. Wie die Statistiken zeigen, waren Argentinien und Kolumbien im Jahre 1938 die beiden wichtigsten Länder des südamerikanischen Subkontinents für jüdische Flüchtlinge. Im Jahre 1939 jedoch wurde die Einwanderung nach Kolumbien nahezu völlig gesperrt, während Argentinien noch eine größere Anzahl von Menschen aufnahm. Brasilien und Chile hingegen, deren Immigrationszahlen deutscher Juden bisher verschwindend klein waren, überflügelten beide im Jahre 1939 sogar die Aufnahmezahlen Argentiniens. Nicht minder auffällig ist die Entwicklung der Einwanderung deutscher Juden nach Bolivien.“
(Adler-Rudel 1974, S. 117)
„Andere große lateinamerikanische Länder wie Chile, Peru und Bolivien spielten in all den Jahren von 1933 bis 1939 überhapt keine Rolle bei der Aufnahme von Juden aus Deutschland, was um so bedauerlicher war, als zum mindesten die beiden erstgenannten Länder sowohl wirtschaftlich wie klimatisch zweifellos günstige Bedingungen hätten bieten können.“
(Adler-Rudel 1974, S. 93)
„In den ersten drei Monaten des Jahres 1940 beispielsweise konnte mit Unterstützung der Reichsvereinigung mehr als 4.700 Jüdinnen und Juden aus Deutschland fliehen. Die meisten von ihnen emigrierten in die USA – das waren mehr als 2.300 Personen – fast 600 Menschen gelang die Fucht in europäische Länder, mehr als 400 Jüdinnen und Juden fanden Aufnahme in Bolivien und 254 Personen konnten nach Palästina auswandern.“
(Maierhof 2002, S. 168)
„Nach Kübler (1936 Leiter der Deutschen Schule in La Paz) gab es 1935 rund 1050 Deutsche in Bolivien, die wie folgt aufgeteilt waren: La Paz (500), Cochabamba (120), Oruro (100), Santa Cruz (80), Potosí (40), Villa Martes (30), Trinidad (20), Puerto Suarez (20), Riberalte (20), Sorate (10), Sucte (10), Tarija (10), Tupiza (10), Apolo (10), auf Minen (20), verstreut (50).“
(Lehmann 1996, Seite 31 f)
„Entre los anos de 1933 a 1942 emigraron a Bolivia siete mil judíos, pero debido a las difíciles condiciones climatáricas, 2.200 de ellos abandonaron el país. En 1945 se estimaba la población judía en 4.500 almas. ... ...
En Bolivia hay 8 ciudades con población judía. En La Paz, la población judía se estima a 2.600 almas. El grupo más pequeno se encuentra en Potosí (175 judíos).
(Shatzky 1952, Seiten 65 und 66)
„Geographische Verteilung jüdischer Einwanderer aus Mitteleuropa (1954)
Vereinigte Staaten von Amerika 160 – 190000
Israel 90 – 115000
Großbritannien 50 – 55000
Argentinien 40000
Brasilien 17000
Chile 15000
Australien 12000
Südafrika 7 - 11000
Frankreich 7 - 8000
Uruguay 6000
Belgien 4000
Schweden 3000
Kolumbien 2200
Schweiz 1700
Bolivien 1500
(Meyer 1996, Seite 373)
„Bericht der (Nazi-) Reichsstelle für das Auswanderungswesen
vom 29.8.1934
Von den 7852 Auskünften (gegenüber 8848 in I/34), die über Lebens- und Ansiedlungsverhältnisse im Erdteil Amerika eingeholt wurden, entfielen auf die Vereinigten Staaten von Amerika 2.202 (gegenüber 1.576 in I/34) ... Bolivien 54 (106).“
(Gruner 2008, Seite 369)
„Der Beginn des Zweiten Weltkrieges bedeutete das Aus für die meisten Auswanderungsmöglichkeiten. Nach dem deutschen Überfall auf Polen zogen viele Staaten ihre diplomatischen Vertreter aus Berlin zurück, Grenzübergänge wurden geschlossen, Zug-, Schiffs- sowie Postverbindungen nach dem Ausland brachen ab. Zwischen Kriegsausbruch und dem im Oktober 1941 verfügten Auswanderungsverbot gelang es dennoch über 20.000 verfolgten Juden, aus Deutschland zu fliehen. Und sogar zwischen 1942 und 1945 vermochten sich noch etwa 8.500 Verfolgte ins Ausland zu retten.
Insgesamt gelang fast 250.000 verfolgten Juden die Flucht. Etwa 30.000 derjenigen, die in die europäischen Nachbarstaaten emigriert waren, fielen jedoch der Gestapo in die Hände, als deutsche Wehrmachtstruppen Tschechien besetzten und in die Niederlande, Belgien, Luxemburg und Frankreich einmarschierten.“
(Pietsch 2006, Seite 30)
„Für Protestanten, die von den Nationalsozialisten als Juden verfolgt wurden, hatte Pfarrer Heinrich Grüber deitschlandweit ein Netz von Vertrauensleuten gespannt. Infolge der Bemühungen der so genannten Auswanderungsabteilung des >Büro Grüber< gelang in den Jahren 1938 bis 1939 schätzungsweise 1.700 bis 2.000 als Juden verfolgten Protestanten die Flucht aus Deutschland.“
(Pietsch 2006, Seite 121)
„Jüdische Emigration aus Deutschland insgesamt: 1933 – 45.000; 1934 – 22.000; 1935 – 20.000; 1936 – 24.000; 1937 – 23.000; 1938 – 34.000 (dazu weitere 14.000 Juden, die von den deutschen Behörden im Oktober 1938 nach Polen abgeschoben wurden); 1939 – 68.000.“
(Pietsch 2006, Seite 263, Anmerkung 39)
3 - Visa – Vorstellungen von Bolivien
„>Bleiben oder gehen? Wohin? Mit welchem Geld? Mit welchen Risiken für die Zukunft? Was geschieht mit denen, die zurückbleiben?< Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten hat es wohl kaum eine jüdische Familie gegeben, die sich nicht in diesem Dilemma befunden hätte.“
(Pietsch 2006, Seite 26)
„Um ihre öffentlichen Wohlfahrtseinrichtungen nicht zu strapazieren, verlangten potentielle Aufnahmeländer von denjenigen, die um Aufnahme baten, ein Affidavit, eine beeidete Erklärung eines Bürgers, in der dieser sich bereit erklärte, ein Jahr lang für den finanziellen Unterhalt der einwandernden Person aufzukommen. Mit einem Affidavit oder dem Nachweis einer Arbeitsstelle konnte man im Konsulat ein Visum erhalten. Manche Staaten verlangten ein >Vorzeigegeld<. Dies musste so hoch sein, dass es dem Flüchtling ermöglichen sollte, seinen Lebensunterhalt in der Emigration für eine gewisse Zeit selbst zu bestreiten. Wovon sollte man leben in der Fremde ? Ohne Sprachkenntnisse, womöglich mit einem Beruf, der sich in der Emigration unbrauchbar erwies oder mit einer Ausbildung, deren Abschluss im Ausland nicht anerkannt wurde ?“
(Pietsch 2006, Seite 27)
„In den Jahren 1938/39 bis 1941/42 war Bolivien eines der wenigen Länder der Welt, die deutschen Juden Einreisevisa erteilte, u.a. durch das bolivianische Konsulat in Hamburg.“
(Spohn 1996, 92)
„Nur noch Shanghai erhob keine besonderen Auflagen für Immigranten, und einige ärmere südamerikanische Länder wie Nicaragua, Paraguay, Uruguay oder Bolivien ließen jüdische Einwanderer unter bestimmten Bedingungen, vor allem wenn sie Kapital mitbrachten, ein.“
(Reichmann / Wildt 1998, Seite 33)
„Niemand prüft mehr, ob er in den Phantasielängern (sic !) wie Siam, Paraguay, Bolivien oder Shanghai das Kolima wird ertragen, seinen Breuf wird ausüben können.“
(Reichmann / Wildt 1998, Seite 262)
„Die bolivianische Regierung unter dem Präsidenten Oberst Busch, die Modernisierung und Reformen auf allen Gesellschaftsebenen und damit auch einen integeren öffentlichen Dienst versprochen hat, reagiert im Juni d.J. (1938 JHK) überraschend mit der völligen Öffnung der Grenzen für eine kolonisierende Immigration. Der Minister für Landwirtschaft und Einwanderung, Julio Salmón, erklärt am 9. Juni, the doors of Bolivia are open for all men of the world healthy in body and spirit who want to come to work the fertile lands which we will freely give to them. Er führt weiter aus, daß selbstverständlich Juden diese Möglichkeit auch zusteht und ... that in Bolivia we should not make ourselves co-participants in the hatred or the persecutions (of) the semitic elements in European countries.“
(Seelisch 1989, 84)
„... daß das Angebot der bolivianischen Regierung neben dem zitierten humanen Aspekt noch einen anderen Grund hatte, bei dem die europäische oder US-amerikanische Politik keine Rolle spielte. Einige Monate zuvor hatte Paraguay den in Europa Verfolgten das Angebot gemacht, 15.000 österreichische Juden im Chaco anzusiedeln. Klein geht davon aus, daß Bolivien nun ebenfalls ein Angebot machen wollte, um im gleichen Gebiet – um das wenige Jahre zuvor der Chaco-Krieg zwischen beiden Ländern entbrannt war – jüdische Emigranten anzusiedeln. Innerhalb eines Jahre kamen daraufhin knapp 10.000 Flüchtlinge in das Land.“
(Lehmann 1996, Seite 39 f)
„Die Mitte 1938 in Evian (Frankreich) einberufene internationale Konferenz zur Lösung des Auswanderungs- problems brachte im Ergebnis praktisch keine Erleichterungen für die bedrohten Menschen. Etwa 280.000
deutschen Juden gelang nach zeitaufwendigen bürokratischen Schwierigkeiten die Flucht. Bevorzugte Einwanderungsländer waren mit einer Aufnahme von 130.000 Emigranten die USA, 55.000 Palästina, 40.000 England, 10.000 Bolivien, Südafrika nahm 5000 und Kanada und Australien nur jeweils 2000 auf. Die zentrale Auswanderungsstelle war der 'Jüdische Hilfsverein'. Für Auswanderungen nach Palästina war das 'Palästina-Amt' in Berlin zuständig.)
(Lucas/Heitmann 1992, Seite 358 f)
„Es wird in Teilen der Forschung davon ausgegangen, daß Evian vor allem dazu diente, Druck auf die lateinamerikanischen Länder auszuüben, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Bolivien aber hat sein Angebot an die jüdischen Flüchtlinge bereits vor der Konferenz unterbreitet. Hier lagen zwar bolivianische Eigeninteressen vor – Bolivien wollte mit Paraguay konkurrieren, das zuvor ein Angebot für österreichische Juden zur Ansiedlung
unterbreitet hatte -, dennoch ist nicht gewürdigt worden, daß Bolivien zumindest für ein Jahr (Sommer 1938 bis Sommer 1939) das einzige Land war, in das jüdische Flüchtlinge ohne größere Schwierigkeiten einreisen konnten.“
(Lehmann 1996, Seite 161 f)
„Wegen unserer Visa besuchten wir das bolivianische Generalkonsulat in Hamburg: Dort standen unzählige Menschen an, die ebenfalls nach Bolivien auswandern wollten aber niemanden dort kannten. Man erzählte sich, das Konsulat verkaufe Visa und verpflichte die Visa-Empfänger, nach Einreise in der Landwirtschaft zu arbeiten. Es mag so gewesen sein, aber in Bolivien erfüllten später freilich nur sehr wenige Einwanderer diese formale Verpflichtung.“
(Kassewitz de Vilar 2004, 44)
Der bolivianische Generalkonsul in Paris häufte ein enormes Vermögen durch Verkauf von Visa an Juden an. Jedes Visum kostete 1 500.- US $ oder 10 000.- bis 20 000.- Francs. 3 000 Flüchtlinge reisten mit solchen Visa aus, dann wurde der Rest im Mai 1939 für ungültig erklärt. Nach Intervention der HICEM, einer jüdischen Hilfsorganisation, die eine Unterhaltsgarantie abgab, wurden diese Visa wieder anerkannt und 400 Personen konnten pro Monat nach Bolivien einreisen.
(http://www.payer.de/bolivien2/bolivien02.htm)
„Bestechung, Betrug und heimliche Landungen spielten eine Rolle in diesem dramatischen Geschehen. Im Mai 1939 reisten dreitausend jüdische Flüchtlinge mit gefälschten Dokumenten in Bolivien ein, die ihnen in Europa für 1500 Dollar pro Stück verkauft worden waren. Zwei bolivianische Konsuln wurden daraufhin entlassen, die ausstehenden Visa für ungültig erklärt. Transitflüchtlinge saßen mit wertlosen Papieren fest. Nach einer Intervention der HICEM wurde ein Abkommen getroffen, durch das die HICEM die Visa wieder für gültig erklärte (diese beinhalteten auch eine Unterhaltsgarantie) und sich bereitfand, die Anzahl derartiger Visa auf vierhundert pro Monat zu begrenzen.“
(Laikin Elkin 1996, 154)
„Einige Monate später erschütterte ein Korruptionsskandal die liberale Einwanderungspolitik Boliviens. Bereits Anfang 1939 hatte die nationalistische Presse die Regierung beschuldigt, es seien rund 3000 Flüchtlinge mit illegalen Papieren eingereist. Den Emigranten wiederum warf die Presse vor, sie seien auf sogenannten Landwirtschaftsvisa eingereist, würden aber im Handel arbeiten und die Reichtümer des Landes übernehmen wollen. Gleichzeitig wurde dem bolivianischen Konsul in Paris vorgeworfen, er hätte 3000 Visa wöchentlich ausgestellt und dafür 10.00 bis 20.000 Francs kassiert. Von Unmoral der Regierung war die Rede. Der Skandal wurde in der Öffentlichkeit breit diskutiert, und schließlich mußte der Kanzler Eduardo Diez de Medina zurücktreten.“
(Lehmann 1996, Seite 42 f)
„Visa ! Unser ganzes Leben drehte sich nur noch um Visa. Im Wachzustand waren wir besessen von der Jagd nach Visa. Wir sprachen von nichts anderem mehr. Ausreisevisa. Transitvisa. Einreisevisa. Wohin konnten wir noch fliehen ? Tagsüber versuchten wir, die nötigen Dokumente, Bescheinigungen, Stempel zu kriegen. Nachts wälzten wir uns ruhelos im Bett hin und her und träumten von langen Menschenschlangen, Beamten und Visa. Visa.“
(Spitzer 2003, 70 f)
„Ich habe erst im Nachhinein, viele Jahre später, begriffen, dass meine Eltern während ihrer Zeit in Bolivien auf vielfältige Art und Weise versuchten, Teile des verlorenen Lebens ins neue hinüberzuretten und so für eine gewisse Kontinuität zu sorgen. Ein Verhalten, das, wie ich inzwischen weiß, ein zentrales Charakteristikum der jüdischen Flüchtlingserfahrung in Bolivien ist.“
(Spitzer 2003, 91)
„An den ausländischen Konsulaten und Botschaften in Wien bildeten sich lange Schlangen von Rettungssuchenden, die oft ganze Nächte anstanden, nur um am nächsten Tag von einem teilnahmslosen Beamten nichts weiter zu empfangen als vorgedruckte Formulare, die auszufüllen und vermutlich auf Nimmerwiederhören einzureichen waren. Besitzer eines Visums wurden bewundert und beneidet wie die Großen und Glücklichen dieser Erde, ein amerikanisches >Affidavit<, Vorbedingung für den Einlaß in das Eldorado der Emigration, galt soviel wie ein Rittergut in friedlichen Zeiten. Die Abreise einer Familie ins Ausland, die illegale Flucht eines Tapferen über irgendeine Grenze wurde kommentiert und mythologisiert wie ein weltgeschichtliches Ereignis. Um das eine, unerschöpfliche Thema der Emigration, legal, illegal oder wie immer, zirkulierten Gerüchte, woben sich Legenden, spannen sich Romane.“
(Schwarz 1979, 41 f)
„In Anbetracht ihrer prekären Situation, ihrer verzweifelten Suche nach einem Aufnahmeland, wären sie überall hin emigriert, so lange sie dort nur in Sicherheit leben konnten. >Bolivien – wo war das noch schnell ?<, so die Reaktion von Eugen Schwarz, als er mit der Unterstützung des Hilfsvereins vom Konsulat in Paris sein Visum erhalten hatte. >Wir wären auch auf den Mond ausgewandert<, erinnerte sich Andres Simon, ein anderer Flüchtling, und Renata Schwarz erzählte mir, >Bolivien war natürlich die nahe liegende Option, doch den Mond sahen wir jede Nacht. Er schien uns realer, greifbarer. Ich wußte damals über Bolivien ungefähr so gut Bescheid wie ihr heute über den Nordpol. Wahrscheinlich wisst ihr über den Nordpol sogar mehr.“
(Spitzer 2003, 133)
„... ging es um illegal an Juden verkaufte bolivianische Visa. Ein Ring von Konsularbeamten hatte – angeblich mit der Zustimmung von Eduardo Diez de Medina, dem Außenminister der Busch-Regierung – in den Konsulaten von Warschau, Hamburg, Genua, Paris und Zürich Tausende bolivianische Einreisegenehmigungen zu Geld gemacht und sich dabei einige Millionen US-Dollar angeeignet.“
(Spitzer 2003, 253)
„Nach der Besetzung Österreichs im Jahre 1938 gewährte das bolivianische Konsulat in Wien einer größeren Anzahl von aus religiösen, politischen oder rassistischen Gründen verfolgten Österreichern ein Einreisevisum. Diese viele Menschen rettende humanitäre Geste ist unvergessen, auch wenn nur eine kleine Zahl von österreichischen Flüchtlingen in Bolivien selbst verblieb.“
(Österreichisch-Bolivianische Gesellschaft, internet 21.12.2007)
„Fast allen (Juden JHK) ist gemeinsam: sie sind auf das Leben in diesem Land kaum vorbereitet. Sie
- sprechen kein oder wenig Spanisch,
- wissen nichts über die Geschichte, Politik, Gesellschaft Boliviens,
- kennen weder die Kultur der weißen Ober- und Mittelschicht noch die der Indios,
- haben in der Heimat Berufe erlernt oder ausgeübt, die sie – insbesondere im akademischen Bereich – nicht selbständig ausüben dürfen oder für die es kaum Verwendung gibt (z.B. Verwaltungsfach-, Industriekaufleute),
- sind den geographischen und klimatischen Gegebenheiten nicht gewachsen, oft altersbedingt gesundheitlich überfordert,
- besitzen keine oder nur ganz geringe finanzielle Mittel.
(Seelisch 1989, 93)
„Hört ihr Leute !
Purim das bedeutet Freude,
Purim das bedeutet Kuchenessen
und den Haman nicht vergessen.
Dieser Spruch aus Kindertagen
kann uns heute nichts mehr sagen.
Das war gestern, was wird morgen ?
Heute haben wir andere Sorgen:
Visum, Affidavit, Konsulat,
Brasilien, Kuba, Dominikanischer Staat,
Bolivien, Haiti, Paraguay, Alexandrette, Palästina oder Shanghai,
Rhodesien, Australien, Südafrika,
die letzte Rettung sind doch die USA.
Da möcht' man hin, da könnte man lachen,
doch keine Verwandschaft drüben, wie soll man das machen ?“
Aus einem Purim-Gedicht (vor 1938)
(http://www.stadtarchiv.nuernberg.de/forschung/formerly.html)
„Das Büro, das seinen Namen dem Kaulsdorfer Pfarrer Heinrich Grüber verdankte, war mit seiner Zentrale in Berlin und Vertrauensstellen im ganzen Reich der einzige bekannte Versuch von evangelischer Seite, 'nichtarischen' Protestanten in größerem Stil zu helfen.“
„Anmerkung 419: Das Büro Grüber brachte zwischen Juli 1939 und Oktober 1940 Auswanderer unter in: Argentinien, Australien, Belgien, Bolivien, Brasilien ... .“
(Dirk Schönlebe: München im Netzwerk der Hilfe für 'nichtarische' Christen (1938 – 1941),
http://www.landesbischof-meiser.de/downloads/Hilfe.pdf)
„In Warschau gelang es, Einwanderungsvisen für Bolivien für eine Anzahl von Danziger Familien zu erhalten, und außerdem wurde eine größere Gruppe von Auswanderern nach Schanghai geschickt ...
Das Gemeindeblatt vom 7. Juli 1939 gab folgende zusammenfassende Darstellung:
Der Stand der Auswanderungsarbeit
Die unausgesetzten Bemühungen der Gemeinde um eine weitere Förderung der jüdischen Auswanderung aus Danzig haben sich in den letzten Tagen zu einer Reihe von Aktionen verdichtet, die sich mit den Zielländern Bolivien, Schanghai und England verbinden.
Eine Gruppe von 12 Familien ist bereits im Besitz von Einwanderungsvisen nach Bolivien und wird mit der nächsten Passagemöglichkeit die Überfahrt nach Südamerika vollziehen. Zwei Familien konnten bereits am 29. Juni Danzig verlassen. Es handelt sich durchweg um junge Menschen, vorwiegend Handwerker und Siedler, die sich auf dem Lande niederlassen wollen.“
(Lichtenstein 1973, Seite 103 f)
„Aber eines Abends nahmen mich meine Eltern entgegen ihrer Gewohnheit mit, als sie weggingen. Alle waren zu jener Zeit irgendwie aufgeregt, und die Regeln wurden nicht mehr so streng beachtet. Wir besuchten eine befreundete Familie. ... Sie wollten alle nach England auswandern. Sie sagten zu meinen Eltern: ' Wir wissen auch für Euch eine Möglichkeit zum Auswandern!' - 'Wie und wohin ?'; fragte meine Mutter. - 'Nach Bolivien! Sie haben gerade ihre Grenzen geöffnet. Der Botschafter ist derzeit in Hamburg, und man kann bei ihm für 250 Dollar pro Person ein Visum kaufen. Aber ihr braucht jemand in einem Nachbarland von Bolivien. Der die notwendigen Formalitäten von dort aus erledigen kann.'
'Nun, ich habe eine verheiratete Nichte dort,' sagte mein Vater, ' die Tochter meines Bruders. Sie lebt mit ihrem Mann in Argentinien. Sie könnte ihre Eltern und uns gleichzeitig herausholen.'
(Schwarz 2007, 65)
„Im Sommer 1938 beschloss ich Deutschland zu verlassen. Ich ging nach Berlin und klopfte bei vielen Botschaften von verschiedenen Übersee-Ländern an wie etwa den Vereinigten Staaten oder lateinamerikanischen Ländern. Das stellte sich als verlorene Liebesmüh heraus, denn fast jedes Land hatte seine Grenzen für jüdische Flüchtlinge dichtgemacht. Über ein Reisebüro in Berlin erfuhr ich, dass man mit einer eher hinterhältigen Methode ein Touristenvisum nach Peru bekommen könnte. Der peruanische Konsul in Deutschland verweigerte zwar Visa, doch der peruanische Konsul in Paris stellte gegen eine kleine 'Vergütung' sehr wohl welche aus. Der Haken daran war, dass das Geld in amerikanischen Dollar bezahlt werden musste. Der Besitz von Fremdwährung war jedoch für Deutsche streng verboten. Ich schrieb Briefe an Freunde und mögliche Verwandte im Ausland – einschließlich aller 'Baers' im New Yorker Telefonbuch – und bat sie für die Rettung meines Lebens um einen 'Kredit' in Dollar, den ich – so versicherte ich – zurückzahlen würde, sobald ich im Ausland Arbeit gefunden hatte. Die wenigen Antworten, die ich erhielt, waren alle ablehnend, außer der von einem entfernten Cousin, der nach Gastonia im US-Staat North Carolina ausgewandert war. Seine Mutter lebte in Breslau und wir vereinbarten, dass er die Summe von 280 US-Dollar an den peruanischen Konsul in Paris überweisen würde. Im Austausch sollte meine Mutter der seinen den Gegenwert von diesen 280 US-Dollar in Reichsmark zahlen. Die Umsetzung dieser Pläne dauerte mehrere Monate und die Vorbereitungen waren erst Anfang November 1938 abgeschlossen.“
(Baer 2002, 38 f)
„Währenddessen versuchte ich (John J. Baer in La Paz, JHK) einen Weg zu finden, um für meine Mutter und für Ursulas (die Verlobte von John J. Baer) Eltern Visa zu besorgen. Das war nun schwieriger, da in Europa schon der Krieg ausgebrochen war. Ich fand heraus, dass man Visa über Mittelsmänner mit Beziehungen zum Einwanderungsminister und seinem Stab kaufen konnten (sic). Da ich Spanisch sprach, hatte ich den 'Schneid', um eine Audienz beim bolivianischen Präsidenten General Quintanilla anzusuchen. Er war gerade an die Regierung gekommen, nachdem Präsident Busch unter mysteriösen Umständen verstorben war. Die Audienz war mir durch den Sohn meiner Vermieterin, der einen Offizier in der Palastgarde des Präsidenten kannte, vermittelt worden. Ich erzählte dem Präsidenten von meinem 'freiwilligen' Dienst für die bolivianische Armee als Übersetzer und dass ich meinem 'neuen Vaterland' auch in Zukunft dienen wolle, doch ich müsse mit meiner Familie vereint werden. Nur wenige Minuten später rief der General seinen ayudante herein und befahl ihm, ein Telegramm an den bolivianischen Konsul in Hamburg mit Visa-Instruktionen für meine Mutter und meine zukünftigen Schwiegereltern zu schicken.“
(Baer 2002, 61)
„Meine Mutter (von Werner Guttentag JHK) hat mein Visum, wie sie mir erzählt hat, auf eine ganz irrsinnige Art gekriegt. Für ein Visum mußte man sich am Präsidentenpalast anstellen, um es bem Präsidenten zu verlangen. So klein war das Land. Der Präsident in der Zeit war Busch und der hat die Immigration für die Juden geöffnet. Er argumentierte, sie bräuchten europäische Immigration für die Landwirtschaft. ...
Meine Mutter hat also Schlange gestanden vor dem Präsidentenpalais und es ging nicht vorwärts. Für ihren einzigen Sohn machte sie natürlich alles, was sie machen konnte. Sie ging aus der Schlange raus und ging in ein Zimmer rein. Dort – so hat sie es mir erzählt – stand ein großer Mann in Uniform mit viel Lamette. Sie sprach den auf deutsch an, denn sie konnte ja noch kein Spanisch, und der habe deutsch geantwortet. Offenbar war das Busch selbst. Viel Deutsch konnte der aber wohl auch nicht. Jedenfalls rief er angesichts dieser aufgeregten Frau seinen Dekan und sagte, man solle ihr das Visum geben.“
(Arnold/Satzer 2001, Seite 50 f)
- Quote paper
- Julius H. Krizsan (Author), 2009, Fluchtziel Bolivien 1933 - 1945, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/129862
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