Die deutschen Universitäten galten, einige gegenläufige Tendenzen während der Restaurationszeit ausgenommen, in den ersten siebzig Jahren des 19.Jahrhunderts als „Hort liberaler Überzeugungen und vorurteilsfreien Denkens“, von denen bedeutende Impulse für die Emanzipation der Juden ausgegangen waren.1 Von den späten 1820ern bis zu den frühen 1870er Jahren war kein tonangebender Antisemitismus in der organisierten Studentenschaft zu bemerken.2 Auch von den ersten judenfeindlichen Hetzkampagnen in der kleinbürgerlichen und ultrakonservativen Presse um 1875 schien der akademische Bereich keine Notiz zu nehmen.3
Dieses Bild änderte sich jedoch rapide, die deutschen Hochschulen wurden sehr bald zu Zentren des Antisemitismus.4 Bereits mit der Gründung des ersten Vereins Deutscher Studenten in Berlin im Jahre 1880 konnte sich der Antisemitismus auch an den Hochschulen organisieren. Spätestens seit der Jahrhundertwende galt er als soziale Norm in der organisierten Studentenschaft, selbst die Burschenschaften, die eine lange liberale Tradition aufzuweisen hatten, nahmen keine Juden mehr auf. „Die gesellschaftliche Isolierung des jüdischen Studenten ist heute in der Hauptsache vollzogen,“ konstatiert 1902 ein Mitglied eines Vereins Deutscher Studenten.5
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie sich der Antisemitismus als selbstverständliche Weltanschauung in großen Teilen der organisierten Studentenschaft etablieren, wie es nur wenige Jahrzehnte nach der Revolution von 1848 zu der völligen Ablösung der akademischen Jugend von der liberalen Grundhaltung ihrer Vätergeneration und der Herausbildung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus kommen konnte.6
Inhaltsverzeichnis
1. EinleitungSeite
2. Die Ausbreitung des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich
3. Die Frequenzexplosion an den deutschen Hochschulen und die Überfüllungskrise des akademischen Arbeitsmarktes
4. Der Berliner Antisemitismusstreit
5. Das studentische Engagement an der Antisemitenpetition
6. Die Vereine Deutscher Studenten und der Kyffhäuserverband
7. Die Burschenschaften und die Corps
8. Schluss
Quellenverzeichnis
Literaturverzeichnis
1. Einleitung
Die deutschen Universitäten galten, einige gegenläufige Tendenzen während der Restaurationszeit ausgenommen, in den ersten siebzig Jahren des 19.Jahrhunderts als „Hort liberaler Überzeugungen und vorurteilsfreien Denkens“, von denen bedeutende Impulse für die Emanzipation der Juden ausgegangen waren.1 Von den späten 1820ern bis zu den frühen 1870er Jahren war kein tonangebender Antisemitismus in der organisierten Studentenschaft zu bemerken.2 Auch von den ersten judenfeindlichen Hetzkampagnen in der kleinbürgerlichen und ultrakonservativen Presse um 1875 schien der akademische Bereich keine Notiz zu nehmen.3
Dieses Bild änderte sich jedoch rapide, die deutschen Hochschulen wurden sehr bald zu Zentren des Antisemitismus.4 Bereits mit der Gründung des ersten Vereins Deutscher Studenten in Berlin im Jahre 1880 konnte sich der Antisemitismus auch an den Hochschulen organisieren. Spätestens seit der Jahrhundertwende galt er als soziale Norm in der organisierten Studentenschaft, selbst die Burschenschaften, die eine lange liberale Tradition aufzuweisen hatten, nahmen keine Juden mehr auf. „Die gesellschaftliche Isolierung des jüdischen Studenten ist heute in der Hauptsache vollzogen,“ konstatiert 1902 ein Mitglied eines Vereins Deutscher Studenten.5
Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, wie sich der Antisemitismus als selbstverständliche Weltanschauung in großen Teilen der organisierten Studentenschaft etablieren, wie es nur wenige Jahrzehnte nach der Revolution von 1848 zu der völligen Ablösung der akademischen Jugend von der liberalen Grundhaltung ihrer Vätergeneration und der Herausbildung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus kommen konnte.6
2. Die Ausbreitung des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich
Die politische Neuorientierung großer Teile des akademischen Nachwuchses ab etwa 1880 muss im umfassenden Zusammenhang der Krise des Liberalismus und dem Aufkommen des modernen politischen Antisemitismus begriffen werden.7
Die 1870er bedeuteten sowohl das Ende der liberalen Ära der Reichsgründungszeit als auch die „Geburtsstunde“ des modernen Antisemitismus in Deutschland.8 Die durch den Gründerkrach von 1873 ausgelöste konjunkturelle Depression, unter deren Einfluss sich das politisch-geistige Klima gravierend wandelte, führte einen allgemeinen „Schwund an Liberalität“ mit sich, der sich unter anderem in einer offenen Judenfeindschaft manifestierte.9
Unsicherheit und Pessimismus griffen in der Bevölkerung um sich, auf der Suche nach Sündenböcken schob man den Juden, die vielfach als Exponenten des liberal-kapitalistischen Wirtschaftssystem gesehen wurden, die Schuld an der Krise zu und machte sie für die wirtschaftliche und politische Fehlentwicklung des jungen Kaiserreiches verantwortlich.10
Mit der Krise des wirtschaftlichen Liberalismus mit der Wendung Bismarcks zur Schutzzollpolitik 1878/79 geriet der Liberalismus generell in eine Legitimationskrise und damit auch das liberale Prinzip der rechtlichen Gleichstellung aller Staatsbürger, also auch der Juden.11
Der moderne Antisemitismus knüpfte an überlieferte Formen und Inhalte der traditionellen Judenfeindschaft an, stellte jedoch durch die Bestrebung, die bereits erreichte Gleichstellung der Juden zu revidieren, ein „qualitativ neuartiges Phänomen“ dar.12 Dies spiegelt bereits der hochtrabend gewählte, erstmals 1879 im Umfeld des Schriftstellers Wilhelm Marr aufgetauchte, Begriff „Antisemitismus“ wieder: Unter dem „Schein der Wissenschaft“ prätendierte er, dass die Vorurteile gegen die Juden rational begründet und wissenschaftlich fundiert seien; gerade seine inhaltliche Unbestimmtheit machte ihn zum Sammelbegriff für unterschiedlichst motivierte und argumentierende Bewegungen.13 „The very term ‘anti-Semitism’ became a source of strength to those who gathered under it... Such an omnibus term could easily cover a multitude of motives and impulses”, beschreibt S.W.Baron sehr treffend.14 Als politisches Schlagwort emotionalisierte und politisierte er auch im außerdeutschen Sprachraum.15
In Deutschland lud sich der moderne Antisemitismus seit den 1880ern zunehmend mit rassentheoretischen und völkischen Theorien auf, man argumentierte nicht mehr mit der religiösen, sondern mit einer angeblich biologisch bedingten Andersartigkeit der Juden. Der rassistische Antisemitismus verband sich von Beginn an mit dem antiliberalen Nationalismus zu einer festen und dauerhaften „Legierung“, er zielte auf die Erlangung des inneren Zusammenhaltes des deutschen Volkes durch die Ausgrenzung alles Fremdartigen ab.16
Ende der 1870er nahm der Antisemitismus auf politischer Ebene organisierte Formen an. Der protestantische Hofprediger Adolf Stoecker war der erste Politiker des Kaiserreiches, der den Antisemitismus ganz bewusst als wirksames Mittel zur politischen Massenmobilisierung einsetzte. Seine 1879 gegründete „Christlich-soziale Partei“ markiert den Beginn antisemitischer Organisationen in Deutschland und konnte bei den Reichtagswahlen einige Erfolge erzielen. Der Durchbruch zur konservativen Massenpartei blieb ihr zwar verwehrt, jedoch konnte sie den Mittelstand und die Studentenschaft an den Konservatismus heranführen; zudem machte Stoecker kraft seines Ansehens den Antisemitismus in konservativen Kreisen salonfähig.17
Wenig später gründeten sich radikalere Parteien, deren höchstes politisches Ziel die Lösung der neuaufgeworfenen „Judenfrage“ darstellte. Das Bild dieser Antisemitenparteien war von „verwirrender Vielfalt“, von „persönlichen Rivalitäten der Wortführer“, von „Aufstieg und Niedergang“ der einzelnen Splittergruppen geprägt, eine geschlossene Massenbewegung konnte aufgrund divergierender Vorstellungen nicht hervorgehen.18 Trotz der Differenzen zwischen den einzelnen Parteien, besonders über die Stellung zum Konservatismus, wiesen sie grundlegende Gemeinsamkeiten auf. Man war sich einig, dass die Juden aufgrund ihrer „rassischen Andersartigkeit“ eine Gefahr für die Existenz der Nation darstellten, ebenso einig war man sich über die politischen Konsequenzen: Zurücknahme oder wenigstens Beschränkung der rechtlichen und politischen Gleichstellung der Juden, Beschränkung oder Verbot der Einwanderung ausländischer Juden und einer drastischen Beschränkung für bestimmte Berufe.19
Als erfolgreichster antisemitischer Agitator auf politischer Ebene neben Stoecker trat der Marburger Bibliothekar Otto Böckel auf, dem „Hessischen Bauernkönig“ gelang 1887 als erstem Parteiantisemiten der Einzug in den Reichstag. Auf dem Höhepunkt des Parteienantisemitismus 1893 konnte die Partei Böckels sogar sieben Abgeordnete entsenden, es folgte jedoch ein rascher Niedergang des politischen Antisemitismus.20
Auch wenn die Antisemitenparteien keines ihrer oben beschriebenen Ziele erreichten, selbst gemäßigtere Ideen bewegten sich vor 1914 „jenseits des politisch Möglichen“, so kann ihre Agitation durchaus nicht als folgenlos bezeichnet werden. Ihr Wirken hielt die „Judenfrage“ als ständigen Gegenstand der öffentlichen Diskussion lebendig, ihre antijüdische Hetzkampagne vergiftete die politische Atmosphäre nachhaltig und strahlte auf die gesellschaftliche Ebene ab.21
Der Niedergang des politischen Antisemitismus bedeutet nämlich nicht den Rückgang antijüdischer Einstellungen. Von der zeitgenössischen Öffentlichkeit und auch der Geschichtswissenschaft weitaus weniger beachtet als der Radauantisemitismus der Antisemitenparteien, nahm der Einfluss des Antisemitismus ab Mitte der 1890er auf gesellschaftlicher Ebene zu, er drang in Vereine und Verbände ein und setzte sich hier fest. Während sich die sozialdemokratisch organisierte Arbeiterschaft relativ unempfänglich zeigte, fand er im akademischen Nachwuchs, im Mittelstand und in den national gesinnten Kreisen des Bürgertums große Resonanz.22
[...]
1 Helmut Berding: Moderner Antisemitismus in Deutschland, Frankfurt a.M. 1988, S.111.
2 Detlef Grieswelle: Antisemitismus in deutschen Studentenverbindungen des 19.Jahrhunderts, in: Student und Hochschule im 19.Jahrhundert, S.367.
3 Berding (wie Anm.1), S.111.
4 Werner Jochmann: Gesellschaftskrise und Judenfeindschaft in Deutschland 1870-1945, Hamburg 1988, S.17.
5 Zit. nach Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht 1871-1914. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches, 4.Aufl., Frankfurt a.M. 2001, S.391.
6 Unerwartet unergiebig: Notker Hammerstein: Antisemitismus und deutsche Universitäten 1871-1933, Frankfurt a.M., New York 1995.
7 Norbert Kampe: „Studentische Judenfrage“ und „neuer Nationalismus“ im Deutschen Kaiserreich. Zur Wirkungsgeschichte der Vereine Deutscher Studenten, in: Marc Zirlewagen: Kaisertreue – Führergedanke – Demokratie. Beiträge zur Geschichte des Verbandes der Vereine Deutscher Studenten, Köln 2000, S.37.
8 Ullrich (wie Anm.5), S.383.
9 Berding (wie Anm.1), S.85.
10 Jochmann (wie Anm.4), S.35-52.
11 Kampe (wie Anm.7), S.39.
12 Ullrich (wie Anm.5), S.385.
13 Reinhard Rürup / Thomas Nipperdey: Antisemitismus. Entstehung, Geschichte und Funktion eines Begriffes, in : Rürup: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage“ der bürgerlichen Gesellschaft, Göttingen 1975, S.103.
14 Zit. nach Rürup (wie Anm.13), S.104.
15 Ebd., S.103f.
16 Zit. nach Ullrich (wie Anm.5), S.386.
17 Berding (wie Anm.1), S.86-99.
18 Ullrich (wie Anm.5), S.387.
19 Ebd., S.388. Vgl. Berding (wie Anm.1), S.99-110.
20 Berding (wie Anm.1), S.106f.
21 Ullrich (wie Anm.5), S.389.
22 Berding (wie Anm.1), S.110f.
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