Ziel der vorliegenden Masterarbeit ist es, in einem Gedankenexperiment verschiedene Szenarien für die künftige Beziehung Nordirlands nach dem Brexit zur EU aufzuzeigen. Vor dem Hintergrund aktueller Entwicklungen wie der Auswirkungen des Brexits auf den Nordirland-Konflikt und das Karfreitagsabkommen sowie damit einhergehender Gewalttaten an der nordirisch-irischen Grenze werden Möglichkeiten zu einer Statusänderung Nordirlands erarbeitet.
Dazu werden die für eine Statusänderung relevanten Verträge wie britisch-irische Abkommen mit Bezug auf Nordirland, das Karfreitagsabkommen von 1998, Europäische Verträge und das Brexit-Abkommen herangezogen. Darauf basierend werden unterschiedliche Szenarien für die Zeit nach dem Brexit skizziert: Das Szenario einer Wiedervereinigung Nordirlands mit der Republik Irland und der damit verbundenen Eingliederung Nordirlands in die EU wird mit dem Sonderfall der deutschen Wiedervereinigung inklusive der Aufnahme der DDR in die EG verglichen, da dieses Beispiel in der Geschichte der europäischen Integration dem skizzierten Szenario am nächsten kommt.
Ein zweites Szenario sieht die Loslösung Nordirlands von Großbritannien und den Beitritt eines souveränen Nordirlands zur EU vor. Weitere Szenarien beinhalten die umgekehrte Grönland-Option, das zypriotische Modell und Partnerschaften zwischen der EU und Nordirland ohne EU-Mitgliedschaft. Unter letzterem Punkt werden eine EFTA-Mitgliedschaft, die schweizerische Option, eine Zollunion wie mit der Türkei oder ein Präferenzhandelsabkommen in Betracht gezogen.
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
1. Einleitung
2. Historischer Abriss
2.1 Der Nordirland-Konflikt
2.2 „Brexit“: Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU
3. Aktuelle Entwicklungen
3.1 Auswirkungen des Brexits auf den Nordirland-Konflikt
3.2 Status quo: Nordirland als Teil des EU-Binnenmarkts
4. Betrachtung der für eine Statusänderung von Nordirland relevanten Verträge
4.1 Das Sunningdale-Abkommen von
4.2 Das Anglo-Irische Abkommen von
4.3 Die Gemeinsame Friedenserklärung und das Rahmenabkommen
4.4 Das Karfreitagsabkommen von 1998 und der Brexit
4.5 Europäische Verträge
4.6 Zusammenfassung des rechtlichen Rahmens
5. Exkurs: Sonderfall deutsche Wiedervereinigung und DDR-Beitritt zu den EG
6. Methodisches Vorgehen: Gedankenexperiment
7. Szenarien für Nordirland nach dem Brexit
7.1 Szenario 1: Irische Wiedervereinigung
7.1.1 Möglichkeiten und Herausforderungen
7.1.2 Wie wahrscheinlich ist eine irische Wiedervereinigung?
7.2 Szenario 2: Beitritt eines souveränen Nordirlands zur EU
7.3 Szenario 3: Grönland vice versa
7.4 Szenario 4: Das zypriotische Modell für Nordirland
7.5 Szenario 5: Partnerschaft ohne EU-Mitgliedschaft
7.5.1 Nordirland als Teil der EFTA und des EWR
7.5.2 Das Schweizer Modell für Nordirland
7.5.3 Zollunion nach türkischem Vorbild
7.5.4 Präferenzhandelsabkommen zwischen der EU und Nordirland als Drittstaat
8. Vergleich: Status quo Nordirlands vs. Veränderung
9. Fazit
Literatur
Abkürzungsverzeichnis
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
„In the fast changing European and global context, the Brexit decision exposes the contradiction of partition, and folly of one part of Ireland being in the EU, and another part of the island being kept outside.“ (Kearney 2017: 42)
1. Einleitung
Geteilte Souveränität, Liberalismus, Pluralismus, Solidarität, Gleichheit und Schutz von Minderheiten – das sind die Grundsätze, auf denen die Europäische Union (EU) aufgebaut wurde (vgl. Schnapper 2017: 88). Mittlerweile machen Abgeordnete mit einer anti-europäischen Haltung etwa ein Viertel des Europaparlaments aus (vgl. ebd.). Damit gefährden sie die europäischen Grundsätze (vgl. ebd.). Eigentlich strebt die EU die „Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas“ (Bongardt/ Torres 2017: 117) an, doch diese Entwicklung unterbricht der Austritt des Vereinigten Königreichs1 (UK) aus der EU. „Soll das Vereinigte Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder die Europäische Union verlassen?“ – so lautete die Frage im Referendum über die EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs, über die die britische Bevölkerung am 23. Juni 2016 abstimmte (vgl. Flader 2018: 115). Auf diese Frage konnten die Wähler2 zwischen den Antwortmöglichkeiten „Mitglied der Europäischen Union bleiben“ und „Die Europäische Union verlassen“ entscheiden (vgl. ebd.). Knapp mehr als die Hälfte der britischen Bevölkerung stimmte für den sogenannten „Brexit“ (vgl. McEwen/ Murphy 2021: 1). Nach Jahren schwieriger Verhandlungen trat das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland zum 31.01.2020 aus der EU aus (vgl. ebd.: 6). Damit wurde ein 40-jähriger Erweiterungsprozess unterbrochen (vgl. Schnapper 2017: 83). Bisher befand sich die EU stets in einem Prozess der Erweiterung (vgl. Cunha Rodrigues 2017: 67). Dass ein Mitgliedstaat die EU verlässt, war bis dahin noch nie vorgekommen. Politikwissen-schaftler Robert Flader bezeichnet den Brexit sogar als „größte[n] politische[n] Schock seit Generationen“ (Flader 2018: 110).
Das Nordirland-Protokoll des Austrittsabkommens regelt den Verbleib Nordirlands als Teil des Vereinigten Königreichs im EU-Binnenmarkt für Waren (vgl. McEwen/ Murphy 2021: 10; Schulz 2020). Damit ist Nordirland an den EU-Binnenmarkt sowie dessen Zollunion gebunden, was eine regulatorische Grenze in der Irischen See mit sich bringt (vgl. Schulz 2020). Durch den Brexit ist eine EU-Außengrenze auf der irischen Insel zwischen Nordirland und der Republik Irland entstanden. Um diese Grenze gibt es schon seit Jahrzehnten Konflikte. Als Konfliktparteien stehen sich die katholische und die protestantische Bevölkerung gegenüber, die jeweils gegensätzliche politische Ziele verfolgen: Erstere fordert eine irische Wiedervereinigung, letztere betont die Zugehörigkeit Nordirlands zum Vereinigten Königreich (vgl. BPB 2015). 1998 wurde zur Lösung des Nordirland-Konflikts das sogenannte „Karfreitagsabkommen“ (auch: Belfast-Abkommen; Englisch: Good Friday Agreement (GFA)) beschlossen (vgl. Hayward 2020: 273). Dieses ermöglicht es Nordirland, über eine Vereinigung mit Irland abzustimmen (vgl. ebd.: 275). Somit existiert eine rechtliche Grundlage für ein vom Vereinigten Königreich unabhängiges Nordirland. Auf politischer Ebene tritt die auf der gesamten irischen Insel vertretene Partei Sinn Féin für ein geeintes und vom Vereinigten Königreich unabhängiges Irland ein (vgl. Riedel 2016: 3; Schulz 2020). Durch den Brexit und die damit erschwerten Beziehungen zur EU sind diese Bestrebungen nicht geringer geworden (vgl. ebd.). Im Gegenteil: Seit dem Referendum über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU ist die Zustimmung zu einer irischen Wiedervereinigung gestiegen – und zwar auf der gesamten irischen Insel (vgl. Schulz 2020). Der Brexit könnte also die Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten noch verschärfen (vgl. Griessler 2021: 376).
Seit dem Brexit-Referendum wird in der Literatur diskutiert, ob der Brexit den Anfang der europäischen Desintegration einläutet oder als Weckruf für europäische Reformen gesehen werden kann (siehe z. B. Da Costa Cabral et al. 2017). Ein weiterer Literaturblock beschäftigt sich mit der Frage nach möglichen Optionen für die künftige Beziehung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich (siehe z. B. Jorens/ Strban 2017). Die vorliegende Masterarbeit hingegen legt den Fokus auf die künftige Beziehung zwischen der EU und Nordirland bzw. der irischen Insel. Vor diesem Hintergrund geht die Arbeit der Frage nach, wie Nordirland wieder in die EU eingegliedert werden könnte. In Anlehnung an die Untersuchungen der Politikwissen-schaftlerinnen Nicola McEwen und Mary C. Murphy (2021) beleuchtet die Arbeit in einem Gedankenexperiment verschiedene Szenarien, wie ein Wiederbeitritt Nordirlands zur EU ermöglicht werden könnte und zieht dabei sowohl die Unabhängigkeit Nordirlands als auch dessen Wiedervereinigung mit der irischen Republik und einen EU-Beitritt nach Beispiel der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in Erwägung. Darüber hinaus werden weitere Szenarien erarbeitet. Im Vergleich dazu wird der Status quo betrachtet, um Möglichkeiten und Herausforderungen einer Veränderung der aktuellen Situation für Nordirland herauszustellen.
Das Vereinigte Königreich besteht bekanntermaßen nicht nur aus England und Nordirland, sondern hat mit Schottland und Wales zwei weitere regionale Gebiete (vgl. Doherty et al. 2017: 2). Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf Nordirland, da dieses der einzige Teil des Königreichs ist, der eine Landgrenze zu einem anderen EU-Mitgliedstaat, nämlich der Republik Irland, hat (vgl. ebd.). Dadurch ergibt sich auf der irischen Insel ein dichteres Geflecht von grenzüberschreitenden Handelsbeziehungen und wirtschaftlichen Verflechtungen als zwischen jedem anderen Teil des Vereinigten Königreichs und den EU-Mitgliedstaaten (vgl. ebd.). Dies ist insbesondere in der Grenzregion der Fall (vgl. ebd.). Auch ist Nordirland im Unterschied zu Schottland und Wales geografisch vom Vereinigten Königreich losgelöst (vgl. ebd.). Darüber hinaus gibt es wesentliche Unterschiede in den Dezentralisierungsvereinbarungen: Die Regelungen in Nordirland sind Teil des Friedensabkommens von Belfast von 1998, das die Versöhnung zwischen den beiden großen Gemeinschaften der Protestanten/Unionisten und Katholiken/Nationalisten herbeiführen soll (vgl. ebd.). Diese Regelungen werden durch einen bilateralen, völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland untermauert (vgl. ebd.). Da das Karfreitagsabkommen von einer EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs und der Republik Irland ausgeht, ist das Abkommen aufgrund der Grenze zwischen Nordirland und Irland auf die gemeinsame EU-Mitgliedschaft der beteiligten Parteien angewiesen (vgl. ebd.: 2f.). Und der Fortbestand der Dezentralisierungsvereinbarungen hängt von der Zustimmung sowohl der Unionisten als auch der Nationalisten ab, was sich in der Anforderung der Machtteilung zwischen den beiden Gemeinschaften zeigt (vgl. ebd.: 3). Zudem gehen die Politik- und Rechtswissenschaftler um Brian Doherty davon aus, dass Nordirland stärkere wirtschaftliche Konsequenzen durch den Brexit erleiden wird als der Rest des Vereinigten Königreichs (vgl. Doherty et al. 2017: 3). Daher ist es umso sinnvoller, in dieser Arbeit zu betrachten, wie Nordirland in die EU zurückgeführt werden kann. Die vorliegende Masterarbeit befasst sich auch deshalb mit dem Fall Nordirlands und der Problematik um die nordirisch-irische Grenze, weil diese im Brexit-Prozess eine große Herausforderung darstellt: „In short, Northern Ireland is one of the most challenging aspects of Brexit because its relationship with both the UK and EU is so distinctive.“ (Mars et al. 2018: 6) Der Fokus der folgenden Betrachtungen liegt auf Nordirland, weil hier nebst Schottland die durch den Brexit aufgeworfenen territorialen Fragen am akutesten sind (vgl. McEwen/ Murphy 2021: 2). Darüber hinaus hatte eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung beim Brexit-Referendum für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU gestimmt (vgl. Doherty et al. 2017: 1; Skoutaris 2017: 2), was den Fall zu einem besonders interessanten Untersuchungsgegenstand macht.
In einem historischen Abriss werden der Nordirland-Konflikt und der Brexit dargelegt. Zur weiteren politisch-historischen Grundlage in Vorbereitung auf das Gedankenexperiment werden als aktuelle Entwicklungen die Auswirkungen des Brexits auf den Nordirland-Konflikt sowie der Status quo Nordirlands als Teil des EU-Binnenmarkts beleuchtet. Diese Betrachtungen beziehen sich aus Zeitgründen auf den Zeitraum bis zum 31. Dezember 2021. Im Anschluss werden die für das Gedankenexperiment relevanten Verträge wie britisch-irische Abkommen mit Bezug auf Nordirland, insbesondere das Karfreitagsabkommen von 1998, Europäische Verträge und das Brexit-Abkommen betrachtet. Dabei liegt der Fokus auf Regelungen zur EU-Mitgliedschaft, zum EU-Beitritt, zur irischen Wiedervereinigung sowie zu Beziehungen mit der EU. Als Exkurs werden die deutsche Wiedervereinigung und die damit verbundene Eingliederung der DDR in die damaligen Europäischen Gemeinschaften (EG) umrissen, da dieses Ereignis im weiteren Verlauf der Arbeit mit der Situation Nordirlands verglichen werden soll. Daraufhin wird die Methode des Gedankenexperiments vorgestellt. Im darauffolgenden Teil werden mögliche Szenarien für die Beziehung zwischen Nordirland und der EU nach dem Brexit erarbeitet: Das Szenario einer Wiedervereinigung Nordirlands mit der irischen Republik sowie ein Beitritt Nordirlands zur EU nach DDR-Beispiel werden skizziert. Dabei wird das Szenario mit dem Sonderfall der deutschen Wiedervereinigung inklusive der Aufnahme der DDR in die EG verglichen. Dieser Vergleich ist insofern sinnvoll, als dieses Beispiel einer möglichen irischen Wiedervereinigung und einer Eingliederung Nordirlands in die EU in der Geschichte der europäischen Integration am nächsten kommt. Abgesehen von der DDR ist es bisher nicht vorgekommen, dass ein (Teil-)Staat durch die Vereinigung mit einem anderen Staat in die EU aufgenommen wurde. Ein zweites Szenario sieht die Loslösung Nordirlands von Großbritannien und den Beitritt eines souveränen Nordirlands zur EU vor. Weitere Szenarien beinhalten die umgekehrte Grönland-Option, in der Nordirland EU-Mitglied bleibt, während England und Wales eigene Arrangements verfolgen (vgl. Gad 2016), sowie Partnerschaften zwischen der EU und Nordirland ohne EU-Mitgliedschaft. Unter letztere fallen eine Mitgliedschaft in der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA), die schweizerische oder zypriotische Option, eine Zollunion wie mit der Türkei oder ein Präferenzhandelsabkommen. Diese Szenarien nach dem Brexit werden damit begründet, dass es Bestrebungen für ein geeintes, vom Vereinigten Königreich unabhängiges Irland gibt, besonders von der Partei Sinn Féin. Im Gedankenexperiment, das die möglichen Szenarien aufgreift, werden folgende Forschungsfragen behandelt: Wie könnte die Beziehung zwischen Nordirland und der EU nach dem Brexit aussehen? Was wäre, wenn sich Nordirland und die Republik Irland wiedervereinen würden? Könnte Nordirland dann, ähnlich wie die DDR damals, in die heutige EU aufgenommen werden? Wäre ein (erneuter) EU-Beitritt Nordirlands umsetzbar? Welche Rahmenbedingungen müssten erfüllt sein? In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse zusammengetragen und Antworten auf die Forschungsfragen formuliert. Dabei wird darauf hingewiesen, dass eine Interpretation des Gedankenexperiments schwierig ist, weil die EU heute anders aufgebaut ist als ihr Vorläufer zur Zeit des DDR-Beitritts. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass Nordirland einst EU-Mitglied war, während die DDR dies vorher nicht war. Darüber hinaus werden eine Einschätzung zur Wahrscheinlichkeit der verschiedenen Szenarien für Nordirland nach dem Brexit abgegeben und Handlungs-implikationen für die Politik formuliert. Die vorliegende Masterarbeit trägt insofern zur Literatur bezüglich des Nordirland-Konflikts und des Brexits bei, als sie an bereits existierende Untersuchungen zu den Auswirkungen des britischen EU-Austritts auf das Karfreitagsabkommen anschließt und daraus mögliche Szenarien für die Zukunft Nordirlands erarbeitet, bei denen die Bestimmungen und Vorkehrungen des Friedensabkommens im Vordergrund stehen. Die Arbeit kommt zu dem Schluss, dass eine erneute EU-Mitgliedschaft Nordirlands jedweder Ausgestaltung eine Verbesserung im Vergleich zum Status quo darstellen würde. Eine Wiedervereinigung der irischen Insel wäre der wahrscheinlichste und aus rechtlicher Sicht einfachste Weg, Nordirland wieder in die EU einzugliedern.
2. Historischer Abriss
In diesem Kapitel wird zunächst ein historischer Abriss über die zu betrachtenden politisch-gesellschaftlichen Ereignisse gegeben, um einen gemeinsamen Wissensstand für das Verständnis der vorliegenden Masterarbeit zu schaffen. Zu Beginn wird der Nordirland-Konflikt skizziert, wobei auch auf aktuelle Unruhen an der nordirisch-irischen Grenze eingegangen wird. Darauf folgt die Darlegung des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU, des sogenannten „Brexits“.
2.1 Der Nordirland-Konflikt
In diesem Kapitel wird der langjährige Konflikt an der nordirisch-irischen Grenze dargelegt. Um den Konflikt zu verstehen, werden hintergründige Entwicklungen des frühen 20. Jahrhunderts kurz angerissen. Der Fokus des Kapitels liegt jedoch hauptsächlich auf der Zeit ab den 1960er-Jahren, da der Nordirland-Konflikt zu dieser Zeit aufflammte bzw. eskalierte (vgl. Griessler 2021: 360). Weitere Hintergründe für die Spaltung der irischen Insel und damit auch der irischen Identität werden z. B. von Griessler kompakt dargelegt (vgl. ebd.: 358ff.). Auch wenn die Gewalttaten in den frühen 2000er-Jahren offiziell eingestellt wurden (vgl. BPB 2015), so gibt es aktuell wieder Auseinandersetzungen an der Grenze (vgl. Griessler 2021: 376f.). Ein Grund dafür ist der Brexit (vgl. ebd.).
Der Nordirland-Konflikt gilt als „the most serious and long-lasting internal conflict that the EU has experienced“ (Doyle/ Connolly 2019: 79). Der Konflikt verläuft entlang zweier Linien: der nationalen Identität und der religiösen Orientierung. Als Konfliktparteien stehen sich die nordirischen Protestanten und Katholiken gegenüber, welche jeweils gegensätzliche politische Ziele verfolgen (vgl. BPB 2015). Die Protestanten berufen sich auf ihre schottischen und englischen Vorfahren und somit auf ihre britische Identität und treten als sogenannte „Unionisten“ oder „Loyalisten“ für den Verbleib Nordirlands im Vereinigten Königreich ein (vgl. BPB 2015; Doyle/ Connolly 2019: 79; Powell 2002: 133f.). Die Katholiken hingegen betonen den irischen Nationalismus und ihre irische Identität und wollen daher als Nationalisten oder Republikaner die Einheit der irischen Insel wahren (vgl. BPB 2015; Doyle/ Connolly 2019: 79; Powell 2002: 133f.).
Hintergrund des Nordirland-Konflikts ist das Scheitern des britischen Staatsgründungsprojekts im frühen 20. Jahrhundert, mit dem die territorialen Errungenschaften der Kolonisation in Irland konsolidiert werden sollten (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 80f.). Beim Aufstand von 1916, dem sogenannten Easter Rising, rief die irische Rebellion die Republik Irland aus, womit sich dieser Aufstand von früheren, misslungenen Aufständen unterscheidet (vgl. Griessler 2021: 359). „It became a mysterious symbolic event for the Irish state because it is considered to be the first step towards an Irish Republic.“ (ebd.) Bei den britischen Parlamentswahlen von 1919 gewann die irische politische Bewegung Sinn Féin die absolute Mehrheit, zog aber nicht in das Parlament in London ein, sondern gründete stattdessen ein unabhängiges Parlament in Dublin (vgl. Griessler 2021: 359). Die Einrichtung paralleler politischer Strukturen untergrub die Legitimität der britischen Herrschaft und führte zu einer Eskalation des Konflikts, der in einem Krieg mündete (vgl. ebd.). „The war was ended by the Anglo-Irish Treaty in December 1921 and the partition of the island of Ireland.“ (ebd.: 360) Intensive politische Aktivitäten und ein Guerillakrieg der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) in den Jahren 1919 bis 1921 führten zur Gründung eines unabhängigen irischen Staates (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 80f.; Griessler 2021: 360). „The declaration of the Irish Free State was the result of the brutally led War of Independence (1919-1921) between the British troops based in Ireland and the self-declared Irish Republican Army […].“ (Griessler 2021: 360) Durch ein britisches Parlamentsgesetz, für das keine einzige irische Stimme abgegeben wurde, wurden zwei Staaten (Nord und Süd) geschaffen (vgl. Kearney 2017: 39). Mit der Gründung Nordirlands 1921 wurde die Insel geteilt (vgl. Todd 2021: 61). Im Süden bildeten 26 der insgesamt 32 Grafschaften einen neuen unabhängigen Staat (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 80f.; Kearney 2017: 39) Die sechs Grafschaften im Nordosten der Insel blieben als Nordirland Teil des Vereinigten Königreichs und wurden vollständig unter der Vorherrschaft der Briten von einem lokalen Parlament mit begrenzten Befugnissen regiert (vgl. ebd.). In den Jahren der Staatsbildung ab 1922 etablierte die irische Elite im Freistaat eine katholische, anti-imperialistische, republikanische Ideologie (vgl. Griessler 2021: 360). 1948 wurde der Freistaat zur Republik Irland (vgl. Kearney 2017: 39). Im Gegensatz dazu wurde Nordirland als protestantischer Staat gegründet, der zwar der britischen Krone gegenüber loyal war, aber eine dezentrale Einheit innerhalb des Vereinigten Königreichs darstellte (vgl. Griessler 2021: 360). Mit der Gründung dieser beiden getrennten politischen Einheiten – eines Staates und einer dezentralisierten Provinz – sollte eine Entspannung des Konflikts aufgrund der physischen Trennung der beiden nationalen Identitäten erreicht werden, indem ein Gebiet geschaffen wurde, in welchem beide Konfliktparteien jeweils eine Mehrheit haben (vgl. ebd.). Eine bedeutende britische Kolonialpräsenz bestand aber weiterhin fort (vgl. Kearney 2017: 39). Die Teilung spiegelte sich auf politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Weise auch in der Bevölkerung wider (vgl. ebd.).
Der Nordstaat entwickelte sich zu einem von der Ulster Unionist Party (UUP) dominierten Einparteienstaat, in dem katholische Bürger und diejenigen, die nationalistische und republikanische Verfassungsbestrebungen teilten, einer wirtschaftlichen und politischen Apartheid unterworfen wurden (vgl. Kearney 2017: 39). Die protestantische Einparteienregierung unterdrückte die Katholiken bis in die 1970er-Jahre und erlaubte ihnen keine Teilhabe am politischen und gesellschaftlichen Leben (vgl. BPB 2015). Der nichtunionistische Teil der Gemeinschaft wurde als Bürger zweiter Klasse behandelt (vgl. Kearney 2017: 39). Beim Wahlrecht, bei der Wohnungssuche und beim Zugang zu Beschäftigungsmöglichkeiten wurden sie diskriminiert (vgl. ebd.; Doyle/ Connolly 2019: 80f.). Irische kulturelle Ausdrucksformen und die nationalistische politische Tradition wurden unterdrückt (vgl. Kearney 2017: 39). Zur nationalen und territorialen Differenz kam nun die Diskriminierung der katholischen Minderheit durch die protestantische Mehrheit in Nordirland hinzu (vgl. BPB 2015). Aus protestantischer Sicht waren die Katholiken illoyal gegenüber Nordirland und sollten die mehrheitlich protestantische Provinz verlassen und sich stattdessen im katholischen Freistaat niederlassen (vgl. Griessler 2021: 360). Gleichzeitig glaubten die Katholiken weiterhin an eine Änderung der Grenzen zu ihren Gunsten oder sogar an eine Vereinigung mit der Republik Irland (vgl. ebd.). Die systematischen politischen und wirtschaftlichen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten des Nordstaates schufen den Kontext für einen erneuten politischen Konflikt in Irland (vgl. Kearney 2017: 39).
Die britisch-unionistische Regierung blieb unangefochten, bis Nationalisten in den späten 1960er-Jahren inspiriert durch die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten von Amerika und andere neue soziale Bewegungen eine Protestbewegung für politische Gleichheit der katholischen Bevölkerung ins Leben riefen (vgl. BPB 2015; Doyle/ Connolly 2019: 81; Griessler 2021: 360). Die Demonstrationen wurden von nordirischen Sicherheitskräften mit Brutalität beantwortet (vgl. Griessler 2021: 360). Die Unterdrückung der ursprünglich friedlichen, bürgerrechtlichen Protestbewegung führte zur Eskalation der Proteste zu einem erbitterten bewaffneten Bürgerkrieg gegen den Staat und dessen Sicherheitsorgane (vgl. BPB 2015; Doyle/ Connolly 2019: 81). Politische Versuche, einen Wandel in Nordirland herbeizuführen, scheiterten, sodass sich Teile der Bürgerrechtsorganisation der Gewalt zuwandten (Griessler 2021: 361). In Belfast und im nordirischen Londonderry kam es beim sogenannten Battle of the Bogside 1969 zu heftigen Kämpfen zwischen Protestanten und Katholiken (vgl. ebd.). Aufgrund der Eskalation der Situation setzte die britische Regierung Truppen auf irischem Boden ein (vgl. ebd.). „The following two decades (1970s and 1980s) were characterised by a war between the radical Irish republican groups, believing in the unification of the island, the radical Protestant loyalist groups […] and the British army, in defending the union with Great Britain.“ (Griessler 2021: 361) Zwischen 1969 und 2001 wurden zirka 3.500 Menschen durch den bewaffneten Konflikt getötet (vgl. BPB 2015).
Hauptakteurin im Nordirland-Konflikt war die IRA. Die paramilitärische Organisation gründete sich 1919 und verfolgte die Ziele, die irische Insel zu vereinen und Unabhängigkeit von Großbritannien zu erlangen. Dazu wandte die IRA Gewalt an. Nach 50 Jahren teilte sich die Organisation in die „Officials“ (OIRA) und „Provisionals“ (PIRA) auf, welche sich hauptsächlich in ihrer Vorgehensweise unterschieden. Gemeinsam war ihnen die Zielsetzung einer vereinten sozialistischen irischen Republik. Die PIRA orientierte sich an den gewaltvollen Strategien ihrer Vorgängerorganisation und tötete mit Bombenanschlägen und Attentaten zirka 1.800 Menschen. Die OIRA hingegen versuchte sich an einer parlamentarischen Erreichung ihrer Ziele. (Vgl. BPB 2015)
1972 ereignete sich eine Gewalttat, die den Sonntag, 30. Januar 1972 als Bloody Sunday in die Geschichte eingehen lassen sollte: Bei einer Demonstration von katholischen Bürgerrechtlern in Londonderry erschossen britische Truppen 14 unbewaffnete Demonstrierende und verletzten 13 weitere Menschen. Das tragische Ereignis und die Tatsache, dass dieses nicht aufgearbeitet wurde, verschaffte der PIRA einen verstärkten Zulauf. Daraufhin stieg die Gewalt im Konflikt massiv an. 2010 entschuldigte sich der damalige britische Premier David Cameron öffentlich für den Bloody Sunday, doch die involvierten Soldaten wurden bis heute nicht verurteilt. (Vgl. BPB 2015)
Die Situation änderte sich Ende der 1980er-Jahre, als deutlich wurde, dass der Konflikt nicht militärisch gelöst werden konnte (vgl. Griessler 2021: 361). Informelle Kommunikationskanäle wurden eröffnet, um einen Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt zu finden (vgl. ebd.). Hungerstreiks irisch-republikanischer Gefangener in den Jahren 1980-1981 politisierten das radikalere Spektrum der Irisch-Republikanischen Bewegung (vgl. ebd.). „[They] inspired new generations of political activists to join the IRA, and others swelled the membership of Sinn Féin, as an emerging political party in modern Ireland.“ (Kearney 2017: 39) Das anglo-irische Abkommen von 1985 zeigte jedoch, dass die britische Regierung bereit war, der irischen Regierung ein Mitspracherecht bei inneren Angelegenheiten Nordirlands einzuräumen (vgl. Griessler 2021: 361). Dies und die anhaltende Brutalität und sinnlose Gewalt führten dazu, dass sich die Mehrheit der irischen Bevölkerung von ihren paramilitärischen Organisationen abwandte und sie teilweise infrage stellte (vgl. ebd.). 1994 rief die IRA erstmals einen Waffenstillstand aus, auf den eine Entschuldigung für die Opfer des Konflikts durch eine Dachorganisation loyalistischer paramilitärischer Gruppen sowie der Waffenstillstand der Loyalisten folgten (vgl. ebd.: 361, 373). Nach 1994 nahm die Gewalt deutlich ab, und die Konfliktparteien suchten nach einer Basis, auf der Verhandlungen über ein Friedensabkommen beginnen konnten (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 81f.). Von zentraler Bedeutung für den Erfolg des Friedensprozesses war die Einigung der britischen und irischen Regierung, ihre verfassungsmäßigen Souveränitätsbekundungen zu Nordirland zu ändern (vgl. ebd.). Die irische Regierung gab ihren verfassungsmäßigen Anspruch auf das Gebiet auf und die britische Regierung sicherte ihre Unterstützung für ein zukünftiges vereinigtes Irland zu, sollte dies der Wille der Mehrheit der nordirischen Bevölkerung sein (vgl. ebd.).
Das Ende des Nordirland-Konflikts wurde mit der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens in Belfast am 10. April 1998 durch die Konfliktparteien eingeleitet (vgl. BPB 2015). Den Friedensprozess hatten die britische und die irische Regierung zusammen mit der Mehrheit der nordirischen Parteien (außer der Democratic Unionist Party (DUP)) sowie mit Unterstützung der damaligen Regierung der Vereinigten Staaten ausgehandelt (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 79). Die EU nahm in diesem Friedensprozess keine aktive Rolle ein, erleichterte jedoch die Implementierung des Abkommens, da beide Konfliktparteien Unionsmitglieder waren (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 79). Die Implementierung des Abkommens3 geschah schrittweise von 1998 bis 2017 (vgl. ebd.: 83).
Die Teilung der irischen Insel festigt laut Sinn Féin -Politiker Declan Kearney die Hegemonie der konservativen Kräfte im Norden und Süden der Insel und erleichtert die fortgesetzte undemokratische Rolle und den Einfluss des britischen Staates in irischen Angelegenheiten (vgl. 2017: 39). Die Existenz des Nordstaates bleibe aufgrund der Zuständigkeit des britischen Staates und der daraus resultierenden Verletzungen der nationalen irischen Demokratie umstritten (vgl. ebd.). Seit 2008 hat die regionale Koalitionsregierung immerhin die Zuständigkeiten für Polizei und Justiz inne, nachdem diese von der britischen Regierung übertragen wurden (vgl. ebd.). Nach dem Ende der gewaltvollen Auseinandersetzungen und mit der Erfüllung der Forderungen nach gleicher politischer Repräsentation und Antidiskriminierungs-maßnahmen für alle Bürger verlagerte sich das konfliktreiche Verhältnis zwischen den beiden Gemeinschaften der Iren und der Nordiren auf die kulturelle Ebene (vgl. Griessler 2021: 358). Besonders Fragen der Identität wurden sehr sensibel, da ihre Bewahrung als Symbol für das kulturelle Überleben angesehen wird (vgl. ebd: 375).
Die wichtigste Errungenschaft des Karfreitagsabkommens von 1998 ist die Entfernung der Gewalt aus der Politik in Nordirland (vgl. Griessler 2021: 373). Die Sinn Féin akzeptierte die Abmachung und erklärte sich dazu bereit, auch die IRA davon zu überzeugen, keine Gewalt mehr anzuwenden (vgl. ebd.; Schulz 2020). Obwohl sich die beteiligten Gruppen zu einer gemäßigteren Position hin bewegten, hatten sie mit Splittergruppen in ihren Reihen zu kämpfen, wovon einige weiterhin Anschläge verübten (vgl. Griessler 2021: 373). 2012 schlossen sich mehrere solcher Splittergruppen in der New IRA zusammen, welche sich weiterhin den bewaffneten Kampf auf ihre Fahne schrieb (vgl. BPB 2015). Auch die Traditionsmärsche der protestantischen Unionisten, mit denen an Schlachten und Aufstände erinnert wird, führen noch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen (vgl. ebd.). „Insgesamt finden in Nordirland jedes Jahr mehr als 2.000 Oranier-Paraden statt, die von der pro-irischen Bevölkerung häufig als Provokation aufgefasst werden.“ (ebd.) Kontroversen gibt es auch immer wieder um die Flagge des Vereinigten Königreichs, den sogenannten Union Jack: Der Beschluss im nordirischen Belfast, dass die Flagge statt ganzjährig nur noch an 15 ausgewiesenen Tagen im Jahr gehisst werden soll, löste monatelange gewaltsame Proteste pro-britischer Gruppen in Nordirland aus (vgl. BPB 2015; Griessler 2021: 375).
Die IRA, die auf der katholischen Seite gekämpft hatte, erklärte den bewaffneten Kampf im Juli 2005 endgültig für beendet, womit die Gewalt massiv abnahm (vgl. BPB 2015). 2007 zog mit der Ulster Volunteer Force auch der paramilitärische Verband der Protestanten nach (vgl. ebd.; Powell 2002: 132). Im selben Jahr wurde erstmalig eine gemeinsame Regionalregierung von Unionisten und Nationalisten aufgestellt und beide Seiten stellten einen Premierminister bzw. einen Stellvertreter (vgl. BPB 2015). Für die Unionisten war die DUP in der Regierung, für die Nationalisten die Sinn Féin, die aus der PIRA hervorgegangen war (vgl. ebd.).
Die komplexen Beziehungen zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich normalisieren sich, was sich positiv auf den Friedensprozess in Nordirland auswirkt (vgl. BPB 2015). Dabei entscheidet die Integration der Konfliktparteien ins Regierungsmodell maßgeblich über die Nachhaltigkeit des Friedensprozesses (vgl. ebd.). Der Zugewinn an politischer Macht der Sinn Féin sowie der demografische Wandel zugunsten katholischer Nordiren könnten den Nordirland-Konflikt wiederaufflammen lassen (vgl. ebd.). Anders als die PIRA in der Vergangenheit will die Sinn Féin das ferne Ziel einer irischen Wiedervereinigung jedoch lediglich unter Anwendung politischer statt gewaltvoller Mittel erreichen (vgl. ebd.). Grundpfeiler ihrer Bestrebungen ist das Karfreitagsabkommen von 1998, welches die Möglichkeit zur Durchführung eines Wiedervereinigungsreferendums einräumt, sollte sich eine Mehrheit der nordirischen Bevölkerung dafür aussprechen (vgl. ebd.). Für die irischen Nationalisten und insbesondere für die Sinn Féin bedeutet der Übergangscharakter des Karfreitagsabkommens, dass sie die Vereinigung Irlands in einer unbestimmten Zukunft noch unterstützen können (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 82). Möglicherweise ist diese unbestimmte Zukunft nun durch den Brexit gekommen (vgl. ebd.). Die Nationalisten haben im Karfreitagsabkommen einige Errungenschaften erzielt, darunter eine gestärkte Gleichstellungsagenda, eine Rolle in der Regierung für beide nationalistischen Parteien, eine offene Grenze und institutionelle Verbindungen zwischen dem Norden und dem Süden, sowie eine Dynamik für weitere progressive Veränderungen (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 82). Viele der Bestimmungen des Abkommens wurden dadurch erleichtert, dass zu dem Zeitpunkt beide souveräne Staaten Mitglieder der EU waren, die als Teil ihres Integrationsprozesses offene Grenzen und grenzüberschreitende Zusammenarbeit vorsieht (vgl. ebd.).
Die Frage der Souveränität über Nordirland und der Art dieser Souveränität ist seit der Teilung der Insel von grundlegender Bedeutung für die Beziehungen Irlands zu Nordirland und zur britischen Regierung (vgl. Connolly/ Doyle 2019: 218). Bis zur Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 war die irische Regierung mit dem internationalen Konsens konfrontiert, dass die britische Regierung die souveräne Macht in Nordirland sei und die irische Regierung keine Rolle in dem Gebiet spiele (vgl. ebd.). „As an international treaty, the Good Friday Agreement redefined this relationship, however, the full significance of this redefinition only became apparent during the period of negotiations between the UK and the EU that followed the Brexit referendum“ (ebd.). Das Ziel, das sich die EU in Bezug auf Nordirland gesetzt hat, ist die Duldung anstelle der Veränderung der rivalisierenden Identitäten im Nordirland-Konflikt (vgl. Hayward 2020: 275).
Die nordirische Gesellschaft ist noch heute durch die Auswirkungen des Konflikts gespalten (vgl. BPB 2015). Nicht nur die unterdrückten Katholiken, sondern auch die Protestanten frustriert: „There is a sense among Protestants that the peace process did not benefit the unionist/loyalist population in the same way as the Catholic community, consequently, this perception of the political and societal situation creates frustration.“ (Griessler 2021: 375) Zu dieser Frustration trägt auch bei, dass vergangene Verbrechen und Gewalttaten im Rahmen des Konflikts nicht vollständig aufgeklärt und Opfer und ihre Angehörigen nicht entschädigt worden sind (vgl. BPB 2015). Beispielsweise gelangte im Februar 2014 die Tatsache an die Öffentlichkeit, dass die britische Regierung der republikanischen Seite Straffreiheit für verdächtigte IRA-Angehörige im Gegenzug für die Zustimmung zur Entwaffnung der IRA zugesichert hatte (vgl. ebd.). Dieses Zugeständnis sorgte bei den Unionisten für Empörung (vgl. ebd.). Auch ist die Zeit der blutigen Krawalle an der nordirisch-irischen Grenze nicht vorbei. Aktuell gibt es weiterhin Unruhen und Ausschreitungen an der Grenze. Ähnliche Szenen wie damals spielen sich ab: Fahrzeuge werden in Brand gesetzt, Brandsätze werden geworfen, Prügeleien mit Polizisten finden statt, es gibt Schießereien und Explosionen, Menschen werden ermordet (vgl. Berger 2021). Besonders an der Grenze zwischen protestantischen und katholischen Wohnvierteln eskaliert die Gewalt (vgl. Berger 2021).
2.2 „Brexit“: Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU
In diesem Kapitel soll der Brexit in groben Zügen beschrieben werden. Eine detaillierte Analyse, wie es zum Brexit-Referendum und dessen Ausgang mit der Konsequenz des Austritts des Vereinigten Königreichs aus der EU kommen konnte, findet sich z. B. bei Cunha Rodrigues (2017), da Costa Cabral (2017) und Flader (2018).
Die Beziehung zwischen dem Vereinigten Königreich und Kontinentaleuropa war schon immer eine schwierige (vgl. Jorens/ Strban 2017: 272ff.). Das Vereinigte Königreich ist traditionell euroskeptisch und lehnt Aspekte der Struktur und Funktionsweise der EU ab (vgl. Cunha Rodrigues 2017: 66). Die Entscheidung zur Beantragung der EU-Mitgliedschaft wurde nicht als Ergebnis einer vollen Akzeptanz der politischen Dimension der europäischen Integration getroffen, sondern eher aufgrund des utilitaristischen Kalküls, dass das Vereinigte Königreich als Mitglied des Binnenmarktes und der Zollunion wirtschaftlich besser dastehen würde als außerhalb (vgl. Schnapper 2017: 84). Ein erster Versuch der Briten, der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beizutreten, wurde 1963 mit einem Veto des damaligen französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle verhindert (vgl. Jorens/ Strban 2017: 272ff.). Der Beitritt gelang erst zum 1. Januar 1973 gemeinsam mit Irland und Dänemark (vgl. ebd.). Doch das Vereinigte Königreich nahm nicht alle Aspekte der Gemeinschaft an: So lehnte es 1989 die Verabschiedung der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer und 1992 die der Europäischen Sozialcharta ab (vgl. ebd.). Auch handelte die damalige britische Premierministerin Margaret Thatcher für das Vereinigte Königreich den sogenannten „Briten-Rabatt“ aus, der die finanzielle Beitragsleistung an die EWG reduzierte (vgl. Flader 2018: 95). Zudem lehnten die Briten eine Mitgliedschaft in der Eurozone und im Schengenraum ab (vgl. Cunha Rodrigues 2017: 66). Die Phase der Opt-outs pausierte unter Tony Blairs Regierung (vgl. Jorens/ Strban 2017: 272ff.). 1997 akzeptierte das Vereinigte Königreich gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedern den Vertrag von Amsterdam, der die integrierte Sozialcharta der mittlerweile fusionierten EG enthielt (vgl. ebd.). 2010 entschied sich das Vereinigte Königreich jedoch erneut für ein Opt-out, diesmal im Bereich der Migration (vgl. ebd.). „[…] [T]he UK already benefitted from the best of both worlds, with full membership of the Union and its single market but also opt-outs on the single currency, the Schengen agreement and opt-ins for cooperation in home and justice affairs.“ (Schnapper 2017: 90) Rückblickend betrachtet hatte das Vereinigte Königreich bis zum Brexit Zugang zu vielen gemeinsamen Gütern der EU, blockierte einige andere und profitierte viele Jahre lang von vielen Ausnahmen (vgl. Bongardt/ Torres 2017: 120). Tatsächlich leiden die EU und alle ihre Mitglieder (einschließlich des Vereinigten Königreichs) seit langem unter der zunehmenden Entfremdung des Vereinigten Königreichs und dessen systematischen Opposition von innen (vgl. ebd.). Versuche institutioneller Reformen zur Vertiefung der Integration im Hinblick auf eine effizientere und demokratischere EU wurden vom Vereinigten Königreich systematisch mit einem Veto belegt (vgl. ebd.). Mit dem Brexit haben die Opt-outs des Vereinigten Königreichs eine neue Dimension angenommen.
„The announcement of the referendum in the United Kingdom began as a political move by David Cameron to discipline his party concerning what appeared to be the advantages of being part of the EU.“ (Cunha Rodrigues 2017: 66) Als Cameron 2005 den Parteivorsitz der Konservativen übernahm, mahnte er seine Partei dazu, die Lästerei über Europa einzustellen (vgl. Schnapper 2017: 85). 2010 wurde er Premierminister und sträubte sich noch gegen ein Referendum über den Verbleib in der EU (vgl. ebd.). Unter Druck von starkem Euroskeptizismus in seiner Partei, der Presse und der United Kingdom Independence Party änderte er 2013 jedoch seine Meinung und versprach im Falle seiner Wiederwahl im Mai 2015 die Durchführung eines solchen Referendums noch vor Ende 2017 (vgl. Flader 2018: 112; Schnapper 2017: 85f.). Cameron kündigte der britischen Bevölkerung eine Erneuerung der EU sowie eine Reform der britischen EU-Mitgliedschaft an (vgl. Flader 2018: 105). Die Forderungen des britischen Premierministers bezogen sich insbesondere auf staatliche Souveränität, Gleichbehandlung von EU-Staaten ohne Euro, Abbau der Bürokratie und Verringerung der Einwanderung (vgl. ebd.: 112, 115). Auch strebte er eine Vereinbarung an, dass das in den EU-Verträgen verankerte Ziel einer „immer engeren Union“ nicht mehr für das Vereinigte Königreich gelten sollte (vgl. ebd.: 115). „Cameron sah die Zeit gekommen, grundlegende Änderungen in der Beziehung zwischen dem United Kingdom und der Europäischen Union zu fordern – und andernfalls mit einem britischen Austritt zu drohen.“ (ebd.: 105)
„By May 2015, when he won the general election, the referendum was inevitable.“ (Schnapper 2017: 86) Noch im Februar 2016 versuchte Cameron, mit den Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten Sonderkonditionen für die britische EU-Mitgliedschaft auszuhandeln (vgl. Flader 2018: 107). Doch die letzte Verhandlungsrunde brachte nicht die von den Briten gewünschten Ergebnisse, daher kam es im Juni 2016 zum Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft (vgl. ebd.). Die zur Abstimmung gestellte Frage lautete, ob das Vereinigte Königreich EU-Mitglied bleiben oder die EU verlassen solle (vgl. ebd.: 115). Das Referendum nahm einen für Cameron überraschenden Ausgang: Eine knappe Mehrheit von 51,89 % der britischen Bevölkerung stimmte für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU (vgl. Carmona et al. 2017: 1).
Nach dem knappen Ausgang des Brexit-Referendums trat David Cameron zurück und Theresa May übernahm das Amt der Premierministerin (vgl. Riedel 2016: 1). Bevor sie die Anwendung von Artikel 50 des Vertrags der Europäischen Union (EUV) beantragte4, wollte May zunächst Klarheit zwischen der britischen Regierung und autonomen Regionen wie Nordirland bezüglich der Austrittsbedingungen schaffen (vgl. ebd.). Schließlich hatten beim Brexit-Referendum 55,8 % der Nordiren gegen den EU-Austritt des Vereinigten Königreichs gestimmt (vgl. ebd.: 3). Im Falle eines erfolgreichen Referendums hatten die Nordiren und die Schotten mit der Abspaltung vom Vereinigten Königreich gedroht (vgl. ebd.: 1f.). Am 17. Januar 2017 erklärte May in einer Rede, wie sich die britische Regierung den EU-Austritt vorstellt (vgl. May 2017). Als eine ihrer Verhandlungsprioritäten für das Vereinigte Königreich im Austrittsverhandlungsprozess legte die damalige britische Premierministerin fest, dass die starken Beziehungen zu Irland und das einheitliche Reisegebiet erhalten und geschützt werden sollten (vgl. ebd.). Die Zusicherung von Theresa May, die irische Landgrenze offen zu halten, unabhängig von zukünftigen Vereinbarungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich, wurde als „irischer Backstop“ bekannt und war letztlich das dominierende Thema bei den Verhandlungen, die zum Entwurf des Austrittsabkommens führten (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 88).
Am 29. März 2017 löste Theresa May formell Artikel 50 des EU-Vertrags aus (vgl. Bujard/ Wessels 2021: 17; Da Costa Cabral et al. 2017: 2). Es folgte eine Phase jahrelanger schwieriger Verhandlungen über den britischen Austritt (vgl. Bujard/ Wessels 2021: 19). Die britische Regierung strebte nach einem „harten“ Brexit, der den Austritt aus der EU-Zollunion und dem Binnenmarkt bedeutete (vgl. McEwen/ Murphy 2021: 2). Im Gegensatz dazu strebte die spätere Regierung unter Boris Johnson in den Verhandlungen nach wirtschaftlicher Unabhängigkeit von der EU und lehnte die Möglichkeit einer teilweisen Mitgliedschaft ab (vgl. Bujard/ Wessels 2021: 22). Im Europäischen Rat wiederum hatten die 27 Staats- und Regierungschefs eigene Leitlinien für die Festlegung der künftigen Beziehung zum Vereinigten Königreich festgelegt: „Eine differenzierte Integration mit Opt-ins als Nichtmitglied analog zu den Opt-outs während der Mitgliedschaft würde etwa beim Binnenmarkt nicht möglich sein.“ (Bujard/ Wessels 2021: 18) Die Auslösung von Artikel 50 durch das Vereinigte Königreich bedeutete den vollständigen Austritt aus der EU (vgl. Bongardt/ Torres 2017: 110). Weder eine Teilmitgliedschaft in der EU noch Rosinenpickerei in politischen Bereichen standen zur Debatte (vgl. ebd.). Daher ging es bei den anfänglichen Verhandlungen zunächst um die Loslösung des Vereinigten Königreichs von der EU und nicht unbedingt um einen Deal (vgl. ebd.). Die Bedingungen für die Teilnahme Großbritanniens an der EU waren vor dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1973 ausgehandelt und im Laufe der Zeit durch zahlreiche Vertragsrevisionen und zwischenstaatliche Vereinbarungen weiter ausgearbeitet worden (vgl. ebd.). Was im Rahmen der Austrittsverhandlungen diskutiert wurde, waren also Scheidungsbedingungen, um die bestehenden Bindungen zu lösen (vgl. ebd.).
Die ohnehin schon komplexe Verhandlungsposition der britischen Regierung wurde noch unklarer, als Theresa May unerwartet am 8. Juni 2017 Neuwahlen ausrief, in der Hoffnung, ihre Mehrheit zu stärken (vgl. Schnapper 2017: 94). Gleichzeitig wollte sie damit die Remainer und Hard Brexiteers in ihrer eigenen Partei zum Schweigen bringen (vgl. Schnapper 2017: 94). Ihr Plan scheiterte spektakulär, als sie die knappe Mehrheit, die sie vorher gehalten hatte, verlor und als Vorsitzende einer Minderheitsregierung aus der Wahl hervorging (vgl. ebd.). In der Folge wurden die Stimmen der zuvor schweigenden Remainer oder Befürworter eines weichen Brexits (d. h. eines Verbleibs in der Zollunion und möglicherweise im Binnenmarkt) wieder lauter (vgl. ebd.). Als die Verhandlungen mit der EU-27 begannen, waren die britische Regierung geschwächt und ihre Ziele noch immer ein Rätsel (vgl. ebd.). Durch die vorgezogenen Neuwahlen wurde der Beginn der Brexit-Verhandlungen verzögert und die verfügbare Zeit um etwa drei Monate verkürzt (vgl. Bongardt/ Torres 2017: 102).
Aufgrund des EU-Binnenmarkts und des gemeinsamen Reisegebiets (Common Travel Area, CTA) zwischen Irland und dem Vereinigten Königreich, das seit der irischen Unabhängigkeit besteht, gibt es auf der irischen Insel keine harte Grenze (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 85f.). In Artikel 2 Protokoll Nr. 20 der EU-Verträge wird der gemeinsame Reiseverkehr ausdrücklich anerkannt (vgl. ebd.). Dadurch haben Bürger beider Staaten, die von einem Staat in den anderen reisen, nicht nur das Recht auf Einreise ohne Visum, sondern auch das Recht auf Arbeit, Zugang zu Gesundheits- und Sozialleistungen sowie das Wahlrecht inne (vgl. ebd.). Während seine historischen Ursprünge auf die begrenzte Anerkennung der irischen Souveränität durch das Vereinigte Königreich im Jahr 1922 zurückzuführen sind, wurde das gemeinsame Reisegebiet normalisiert (vgl. ebd.). Als sich in der Brexit-Debatte herauskristallisierte, dass die Fortführung dieses Abkommens weder in London noch in Brüssel umstritten war, verschwand es aus der öffentlichen Debatte in der Annahme, dass es bei jedem möglichen Ausgang beibehalten würde (vgl. ebd.). Die Aufmerksamkeit verlagerte sich dann auf die Schaffung einer Zollgrenze nach dem Brexit und es wurde deutlich, dass die Anforderungen der Zollunion und des Binnenmarkts zu einer geschlossenen „harten“ Grenze auf der irischen Insel führen könnten (vgl. ebd.). „The opening of the border was one of the most powerful symbols of the peace process. The re-building of customs posts would be a powerful symbol of reversal and failure.“ (ebd.: 86) Die Frage der nordirisch-irischen Grenze wurde im November 2018 zum größten Hindernis für die Aushandlung des Entwurfs des Austrittsabkommens, da die Aufrechterhaltung der gleichen Bedingungen in Nordirland wie im übrigen Vereinigten Königreich für die britische Regierung eine Priorität darstellte und die Vermeidung einer harten Grenze auf der irischen Insel für die irische Regierung und damit für die EU eine Priorität war (vgl. ebd.: 80).
In den Brexit-Verhandlungen stand die Wahl zwischen einem soft Brexit und einem hard Brexit (vgl. Schnapper 2017: 93). Beim „weichen“ Brexit bliebe die Beziehung zur EU bestehen und der Zugang zum Binnenmarkt und zur Zollunion würde gewährt (vgl. ebd.). Dennoch würde das Vereinigte Königreich in den EU-Haushalt einzahlen und den freien Verkehr von Gütern, Kapital, Dienstleitungen und Personen zulassen müssen, wie es für Norwegen der Fall ist (vgl. Schnapper 2017: 93). Beim „harten“ Brexit hätte das Vereinigte Königreich die EU-Zollunion und den Binnenmarkt verlassen und Grenzkontrollen eingeführt (vgl. ebd.; McEwen/ Murphy 2021: 2). Die britische Regierung hoffte, in diesem Falle künftig ein Handelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, so wie andere Drittländer auch (vgl. Schnapper 2017: 93). Die EU stellte dem Vereinigten Königreich in Aussicht, nach dessen Austritt aus dem europäischen Binnenmarkt über ein mögliches Freihandelsabkommen zu verhandeln (vgl. Bujard/ Wessels 2021: 18). „Eine britische Binnenmarktbeteiligung ohne die Beibehaltung der vier Freiheiten ist also nicht möglich.“ (ebd.)
Die EU weigerte sich, einen Deal zu unterzeichnen, der das Karfreitagsabkommen durch die Festlegung einer Landgrenze auf der irischen Insel gefährden würde. Daher entschied sich die britische Regierung für die Option einer irischen Seegrenze und vermied so einen „No Deal“-Brexit. Gleichzeitig priorisierte sie damit den Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der Zollunion. Die Brexit-Verhandlungen gaben den Unionisten die Möglichkeit, den Vorrang der Verbindung mit dem Vereinigten Königreich wieder zu betonen, daher präferierten sie eine Landgrenze auf der Insel. Infolgedessen sehen Unionisten das Nordirland-Protokoll des Austrittsabkommens sowohl als Niederlage als auch als Bedrohung, dass sich Nordirland unweigerlich in Richtung eines vereinigten Irlands bewegen wird und es nicht bei wirtschaftlicher Integration bleiben, sondern dass die politische folgen wird. Angesichts der strittigen Verfassungsfragen im gesamten Vereinigten Königreich könnten die Proteste der Unionisten gegen die Schwächung der britischen „Union“ auf Resonanz bei Teilen der Konservativen und der Labour-Partei stoßen, die eine mögliche Auflösung des Vereinigten Königreichs befürchten, insbesondere bei der starken Bewegung für die schottische Unabhängigkeit. Während sich eine neue Beziehung zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich herausbildet, wird sich das Vereinigte Königreich mit den Auswirkungen seiner politischen Entscheidungen auf die unbeständige Politik in Nordirland und seinen internen Verfassungskonflikten auseinandersetzen müssen. Dies könnte durch die wachsende öffentliche Debatte und Unterstützung für eine Abstimmung über ein vereinigtes Irland und Debatten über die künftige Form dieses Staates noch verschärft werden. (Vgl. Connolly/ Doyle 2021: 14)
Bei der Europawahl im Mai 2019 erlitten die Konservativen eine Niederlage, woraufhin May als Parteivorsitzende und Regierungschefin zurücktrat (vgl. Tagesschau 2020). Nachfolgender britischer Premier wurde Boris Johnson, der nun auch die Brexit-Verhandlungen weiterführen musste (vgl. Tagesschau 2020). Zu diesem Zeitpunkt was als Austrittsdatum der 31. Oktober 2019 angesetzt (vgl. ebd.). Johnson verhandelte im Oktober 2019 nach Mays gescheiterter Backstop -Option ein neues Austrittsabkommen mit der EU (vgl. Garry et al. 2021: 1525). Diese neue Regelung wird häufig als „Frontstop“ bezeichnet, weil sie unter allen Umständen, mit einer Ausnahme, gilt: Nordirland verbleibt übergangsweise weiterhin im europäischen Binnenmarkt für Waren und landwirtschaftliche Erzeugnisse (vgl. ebd.). De jure ist Nordirland Teil der Zollunion des Vereinigten Königreichs, aber de facto wird die Grenze in der Irischen See nach EU-Recht verwaltet (vgl. ebd.). Auf diese neue Brexit-Vereinbarung einigten sich die britische Regierung und die EU-Kommission am 17. Oktober 2019 unter Zustimmung des britischen Parlaments (vgl. Tagesschau 2020). Zudem legten sich die EU-Mitgliedstaaten auf die Verschiebung des Austrittsdatums fest, sodass das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland die EU formal am 31. Januar 2020 verließ (vgl. ebd.; Bujard/ Wessels 2021: 15).
„Nach dem britischen EU-Austritt am 31. Januar 2020 begannen im März die formellen Verhandlungen über das künftige Verhältnis.“ (Bujard/ Wessels 2021: 19) Während der Übergangsphase, welche bis Ende 2020 vereinbart worden war, befand sich das Vereinigte Königreich außerhalb der EU-Zollunion, während Nordirland weiterhin den EU-Zollkodex sowie die EU-Vorschriften für landwirtschaftliche und industrielle Erzeugnisse anwendete (vgl. Campbell 2020). Damit sollten neue Überprüfungen und Kontrollen an der nordirisch-irischen Grenze verhindert werden (vgl. ebd.). Wie der Warenverkehr in Zukunft an dieser Grenze aussehen sollte, war bis zu dem Zeitpunkt noch Gegenstand der Verhandlungen (vgl. ebd.). Im Dezember 2020 beschlossen die EU und das Vereinigte Königreich ein Handels- und Kooperationsabkommen (vgl. Bujard/ Wessels 2021: 19).
Politikwissenschaftler Andrew Gamble identifiziert einige ironische und paradoxe Aus-wirkungen des Brexits (vgl. 2018): Beispielsweise seien Ziele der Leave -Kampagne einerseits die Reduzierung der Zahlungen des Vereinigten Königreichs an die EU sowie die Verringerung der Immigration gewesen (vgl. Keating 2021: 5; Swales 2016: 5). Dennoch wird das Vereinigte Königreich weiterhin regelmäßig in den EU-Haushalt einzahlen müssen, um den Zugang zum Binnenmarkt zu wahren (vgl. Gamble 2018: 16). Zwar hätten die Briten die souveräne Kontrolle über ihre Grenzen zurückgewonnen, allerdings würde die Regierung nach Einschätzung Gambles diese Souveränität nutzen, um eine ähnlich hohe Anzahl Arbeiter immigrieren zu lassen wie aktuell, um den ökonomischen Bedürfnissen des Königreichs gerecht zu werden (vgl. Gamble 2018: 16). Durch einen Austritt aus dem Jurisdiktionsbereich des Europäischen Gerichtshofs könnte das Vereinigte Königreich zwar formale rechtliche Souveränität wiedererlangen – diese Souveränität würde sich allerdings auf realpolitischer Ebene nicht widerspiegeln (vgl. ebd.). Durch den Brexit werde der Einfluss des Vereinigten Königreichs auf die Regelungen, die dessen wirtschaftlichen Handel formen, weiter abnehmen (vgl. ebd.). „After Brexit it will become even more a rule taker rather than a rule maker.“ (ebd.)
3. Aktuelle Entwicklungen
Dieses Kapitel dient der Übersicht der aktuellen Entwicklungen in Nordirland. Dazu werden zunächst Auswirkungen des EU-Austritts des Vereinigten Königreichs sowie des Brexit-Prozesses auf den Nordirland-Konflikt betrachtet. Hierbei wird auch auf Geschehnisse an der nordirisch-irischen Grenze eingegangen. Im nächsten Unterkapitel wird der Status quo Nordirlands als Teil des EU-Binnenmarkts beleuchtet.
3.1 Auswirkungen des Brexits auf den Nordirland-Konflikt
Bereits vor dem Brexit-Referendum war die friedliche Situation in Nordirland labil (vgl. Kapitel 2.1). Die Nationalisten sind unzufrieden mit den Selbstverwaltungsrechten, welche Nordirland im Rahmen des Dezentralisierungsprozesses (Devolution) der 1990er-Jahre erlangt hatte (vgl. Riedel 2016: 5). In diesem Autonomiemodell wurde ein nordirisches Regionalparlament etabliert, das den Nordirland-Konflikt entschärfen sollte (vgl. ebd.). Als autonome Region erhielt Nordirland politische Entscheidungs-rechte, parlamentarische Gewalt sowie administrative Unabhängigkeit (vgl. ebd.). 1999 folgte eine eigene Legislative (vgl. Keating 2021: 2f.). Westminster behält sich zwar die Befugnis vor, in dezentralisierten Bereichen Gesetze zu erlassen, wird sich dieser aber gemäß der Sewel Convention in der Regel nicht bedienen (vgl. ebd.). Insgesamt sind dies jedoch lediglich Befugnisse, die Nordirland von Westminster geliehen wurden und die die britische Regierung jederzeit wieder zurücknehmen kann (vgl. ebd.). Der Bereich der Außenpolitik, einschließlich der Beziehungen zur EU, ist der britischen Zentralregierung vorbehalten (vgl. ebd.). Die Dezentralisierungsgesetze sahen vor, dass die dezentralen Regierungen und Gesetzgebungen an das EU-Recht gebunden waren, sodass jedes Gericht alle dezentralen Gesetze, die dagegen verstießen, aufheben konnte (vgl. Keating 2021: 4.). Innerhalb des Geltungsbereichs des EU-Rechts und der EU-Verordnung hatten die dezentralisierten Staaten jedoch den gleichen Ermessensspielraum bei der Umsetzung von Richtlinien und der Anwendung von Maßnahmen wie die Regierungen der Mitgliedstaaten (vgl. ebd.). In den meisten dezentralisierten (Teil-)Bereichen gab es also keine britische Regulierungsebene und keine britischen Behörden (vgl. ebd.).
Der Nordirland-Konflikt war von Anfang an entscheidend für die Zukunft der britisch-irischen und irisch-nordirischen Beziehungen: Der Konflikt stellte die Organisation des britischen Staatsgebiets infrage (vgl. Doyle/ Connolly 2019: 131; Powell 2002: 131ff.). Insbesondere die Funktionstüchtigkeit der Dezentralisierung, welche als Antwort auf den verstärkten Ausdruck des irischen Nationalismus angegangen worden war, stand in der Kritik (vgl. ebd.). Nach kurzer Zeit wurden Konstruktionsmängel des Konzepts der Devolution deutlich (vgl. Riedel 2016: 5). Die Autonomierechte waren nicht zentral und einheitlich festgelegt worden, sondern beruhten auf bilateralen Verträgen zwischen den autonomen Regionen und der britischen Zentralregierung (vgl. Riedel 2016: 5). So erwiesen sich andere autonome Regionen wie z. B. Schottland als erfolgreichere Verhandlungspartner als Nordirland, sodass sie sich im Laufe der Zeit mehr Rechte sichern konnten (vgl. ebd.). Dies führte in Nordirland zu politischer Unzufriedenheit (vgl. ebd.). Der Brexit hat nun verstärkt Bruchstellen des Devolutionskonzepts offengelegt und eine starke Zentrifugalwirkung innerhalb des Vereinigten Königreichs ausgeübt, da seine Bestandteile ihren eigenen Platz innerhalb der europäischen Architektur suchen, wobei neue Grenzen und Abgrenzungen geschaffen werden, jedoch ohne eine einzige kohärente oder hierarchische territoriale Ordnung (vgl. Keating 2021: 2). Da es sich laut Oberstem Gerichtshof des Vereinigten Königreichs bei der Sewel Convention um ein rein politisches Übereinkommen handelt, ist es rechtlich nicht bindend (vgl. ebd.: 7). Damit wurde die politische Stellung der dezentralen Regierungen im Brexit-Prozess effektiv untergraben (vgl. ebd.). In Nordirland trieb das Brexit-Votum einen Keil zwischen die unionistischen und nationalistischen Parteien und untergrub die sowieso schon labilen Institutionen der Machtteilung (vgl. Keating 2021: 8). „The changes and challenges unleashed by Brexit in Northern Ireland touch on some very fundamental considerations about how Northern Ireland is understood as a component and constituent part of the UK […].“ (Murphy 2021: 12) Der Bruch, den der Brexit in der Politik des Vereinigten Königreichs verursacht hat, hat weitreichende Folgen für Nordirland, darunter wirtschaftliche Umwälzungen, politische Instabilität und verfassungsrechtliche Unsicherheit (vgl. Murphy 2021: 12).
[...]
1 Die vorliegende Arbeit versteht das Vereinigte Königreich als Staatenzusammenschluss von England, Wales, Schottland und Nordirland, während Großbritannien als geografische Bezeichnung verstanden wird, welche die britische Insel mit England, Wales und Schottland umfasst (vgl. Heigl/ Schuber 2020).
2 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit wird nicht ausdrücklich in geschlechtsspezifischen Personen-bezeichnungen differenziert. Die gewählte männliche Form schließt eine adäquate weibliche Form gleichberechtigt ein.
3 Inhalte des Karfreitagsabkommens werden in Kapitel 4.4 beleuchtet.
4 Artikel 50 gilt als Austrittsartikel (vgl. Carmona et al. 2017: 5) und wird in Kapitel 4.5 im Rahmen der Betrachtung europäischer Verträge näher erläutert.
- Arbeit zitieren
- Anna-Louisa Lobergh (Autor:in), 2022, Brexit und Nordirland-Konflikt. Gedankenexperiment über mögliche Zukunftsszenarien zwischen Nordirland und der Europäischen Union, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1289338
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