Diese Seminararbeit hat zum Ziel mittels Literaturanalyse zu untersuchen, wie Montaigne sich zum Thema „europäischer Ethnozentrismus“ positioniert. Zu Beginn der Arbeit wird der Essay Des Cannibales analysiert, um zunächst zu präsentieren, wo sich Montaigne zu diesem Thema äußert. Gleichzeitig soll dabei Montaignes Argumentationsweise anhand ausgewählter Stellen dieser Essays untersucht werden, um festzustellen, wie Montaigne dieses Phänomen begründet und bewertet. Im Anschluss an diese Analyse, werden Montaignes zentrale Aussagen des Essays vor dem Hintergrund verschiedenster Theorien zum Ethnozentrismus genauer betrachtet, um Montaignes Bild des Ethnozentrismus zu präzisieren. Genauer wird dabei auf die William Sumner, Thomas Hylland Eriksen sowie Isidoro Moreno eingegangen, deren Theorien unterschiedliche Ansätze aufweisen. Die Behandlung dieser wissenschaftlichen Lehren soll einen vielschichtigen Blick auf Montaignes Darstellung des Ethnozentrismus eröffnen.
Danach folgt eine Darstellung zu Montaignes Wissenshintergrund. Um Montaignes Position zum Ethnozentrismus einordnen zu können, erscheint es unabdingbar der Frage nachzugehen, welche Quellen Montaigne konsultiert. Diese Erkenntnisse dienen dazu, nachzuvollziehen, auf welches Wissen Montaignes Argumente aufbauen, was wiederum ermöglichen soll, seine Haltung besser einzuschätzen.
Den Abschluss der Arbeit bildet das Fazit, das einen Versuch darstellt, Montaignes Position zum Ethnozentrismus zu definieren. Zudem werden in dem finalen Abschnitt die wesentlichsten Erkenntnisse nochmals dargestellt sowie weitergeführt..
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Von Barbaren und Kniebundhosen–Ethnozentrismus in Des Cannibales
1.1. Textanalyse
1.2. Theorien des Ethnozentrismus dargestellt in Des Cannibales
2. Hintergründe und Quellen zu Montaignes Bild der nouveau monde
3. Fazit
Literaturverzeichnis
Einleitung
Die Zeit Michel de Montaignes ist geprägt von ständigem Wandel. Krieg und technischer Fortschritt halten die Welt in Atem und sorgen für gravierende gesellschaftliche Umbrüche. Besonders prägend für das 16. Jahrhundert ist die Erforschung von neu entdeckten Gebieten: Mit dem vermehrten Kulturkontakt rückt der Vergleich zwischen Gewohntem und Fremden immer mehr ins Zentrum und obwohl sich die Welt räumlich zu öffnen scheint, kommt es auf moralischer Ebene verstärkt zu einer deutlichen Abschottung zum Neuen, Andersartigen. In seinem Essay Des Cannibales bezieht Montaigne Stellung zur ethnozentristischen Tendenz dieser Zeit und beurteilt insbesondere die Einstellung der europäischen Eroberer gegenüber der neuen Welt und deren Völkerschaften. Während sich Europa sich als „parfait et accompli“ betrachtet, werden andere Bevölkerungsgruppen als „barbarisch“ oder gar „primitiv“ abgestempelt.
Diese Seminararbeit hat zum Ziel mittels Literaturanalyse zu untersuchen, wie Montaigne sich zum Thema „europäischer Ethnozentrismus“ positioniert. Zu Beginn der Arbeit wird der Essay Des Cannibales analysiert, um zunächst zu präsentieren, wo sich Montaigne zu diesem Thema äußert. Gleichzeitig soll dabei Montaignes Argumentationsweise anhand ausgewählter Stellen dieser Essays untersucht werden, um festzustellen, wie Montaigne dieses Phänomen begründet und bewertet. Im Anschluss an diese Analyse, werden Montaignes zentrale Aussagen des Essays vor dem Hintergrund verschiedenster Theorien zum Ethnozentrismus genauer betrachtet, um Montaignes Bild des Ethnozentrismus zu präzisieren. Genauer wird dabei auf die William Sumner, Thomas Hylland Eriksen sowie Isidoro Moreno eingegangen, deren Theorien unterschiedliche Ansätze aufweisen. Die Behandlung dieser wissenschaftlichen Lehren soll einen vielschichtigen Blick auf Montaignes Darstellung des Ethnozentrismus eröffnen.
Danach folgt eine Darstellung zu Montaignes Wissenshintergrund. Um Montaignes Position zum Ethnozentrismus einordnen zu können, erscheint es unabdingbar der Frage nachzugehen, welche Quellen Montaigne konsultiert. Diese Erkenntnisse dienen dazu, nachzuvollziehen, auf welches Wissen Montaignes Argumente aufbauen, was wiederum ermöglichen soll, seine Haltung besser einzuschätzen.
Den Abschluss der Arbeit bildet das Fazit, das einen Versuch darstellt, Montaignes Position zum Ethnozentrismus zu definieren. Zudem werden in dem finalen Abschnitt die wesentlichsten Erkenntnisse nochmals dargestellt sowie weitergeführt..
1. Ethnozentrismus in Des Cannibales
1.1. Textanalyse
Quand le Roi Pyrrhus passa en Italie, après qu’il eut reconnu l’ordonnance de l’armée que les Romains lui envoyaient au-devant, je ne sais, dit-il, quels barbares sont ceux-ci (car les Grecs appelaient ainsi toutes les nations étrangères) mais la disposition de cette armée, que je vois, n’est aucunement barbare.1
Mit diesen Worten beginnt Montaigne seinen Essay Des Cannibales. Bei dieser Geschichte handelt es sich um eine Nacherzählung aus Plutarchs Biographie Pyrrhus aus dem Jahre 75 nach Christus.2 König Pyrrhus befand sich zwischen 280 – 275 vor Christus auf einem Vormarsch gegen Rom3 und wie aus dem Zitat hervorgeht, stellt er fest, dass die Anordnung des gegnerischen römischen Heers keineswegs barbarisch sei, wie er zunächst angenommen hatte. Zur Zeit Montaignes wurde unter dem Begriff barbare etwas anderes verstanden als zur Zeit Pyrrhus, deshalb findet sich an dieser Stelle eine Anmerkung Montaignes zur Bedeutung dieses Terminus. Zu Zeiten Pyrrhus wird barbare auf neutrale Weise verwendet, um auf die Fremdartigkeit eines Volkes hinzuweisen, allerdings tritt eine Pejorisierung des Begriffs ein. Seit Beginn der Antike weist barbare eine negative Konnotation auf und dient seither als abwertende Bezeichnung für die Andersartigkeit fremder Kulturen.4 Es ist eher wahrscheinlich, dass Montaigne sich in diesem Beispiel – trotz Verweis auf die ursprüngliche Bedeutung des Barbarenbegriffs – auf die negativ konnotierte Variante bezieht, da er auf den nachfolgenden Seiten ebenfalls die abwertende Haltung gegenüber der fremden Kultur behandelt, die auch in diesem Beispiel thematisiert wird. Folglich kann in dieser Geschichte rund um Pyrrhus barbare als Werkzeug zur Abgrenzung zum Fremden und zur Demonstration der eigenen Überlegenheit interpretiert werden.
Montaigne kommentiert diese Geschichte nicht weiter, sondern schließt mit ähnlichen Beispielen an, die er erst später während einer Überarbeitung seines Essays hinzugefügt hat5, vermutlich um sein Argument zu verstärken. Er zitiert in Folge Plutarch und Titus Livius6 und verweist darauf, dass die Griechen wohl dasselbe gesagt hätten, als Flaminius ihr Land durchzog.7 Auch Philippos soll von der geordneten Lagereinteilung eines von Publius Sculpicius Galba geführten Heeres ebenso erstaunt gewesen sein.8 Aus diesen Beispielen, die Montaigne schlussfolgert Montaigne, dass man sich bei der Urteilsbildung nicht auf die Meinung der Masse hören sollte.9 Diese Aussage impliziert, dass Montaigne den Grund für die negative Haltung gegenüber Fremden in der unreflektierten Übernahme der allgemein verbreiteten Meinung sieht, in anderen Worten: Der Ursprung dieses Phänomens liegt in der Voreingenommenheit der Masse. Montaigne erkennt, dass diese Einstellung zu Vorurteilen führen kann und schlägt mit der Besinnung auf die eigene „raison“10 zugleich eine Möglichkeit vor, wie dies vermieden werden könnte.
Mit diesem Einstieg führt Montaigne die Leserschaft auf die Hauptthematik des Essays hin, der Darstellung der neuen Welt. Er erzählt, dass er einen Mann bei sich gehabt hat, der -lange Zeit in „cet autre monde“11 gelebt hat, genauer in der französischen Kolonie „France Antartique“12, die sich zwischen Rio de Janeiro und Cabo Frio in Brasilien befindet13. Montaigne präsentiert anschließend seine allgemeine Meinung über Forschungsreisende, bevor er wieder zum Thema Barbarie zurückkehrt:
Or je trouve, pour revenir à mon propos, qu’il n’y a rien de barbare et de sauvage en cette nation à ce qu’on m’en rapporté : sinon que chacun appelle barbarie, ce qui n’est pas de son usage. Comme de vrai il semble, que n’avons autre mire de la vérité et de la raison, que l‘exemple et idée des opinions et usances du pays où nous sommes. Là est toujours la parfaite religion, la parfaite police, parfait et accompli usage de toutes choses.14
Der Begriff der Barbarie wird nun in einem anderen Kontext als zu Beginn des Essays verwendet. Montaigne bezieht sich hier auf „cette nation“15, damit sind jene brasilianischen Ureinwohner gemeint, über welche Montaigne berichtet worden sind. Im Gegensatz zu barbare, ein Begriff der zu Beginn sehr präsent war, ist nation ein neutraler Begriff, wodurch sich Montaigne ebenfalls von der Wortwahl in den zuvor erzählten Geschichten abhebt. Darüber hinaus liegt ein Zeitwechsel vor, denn barbare wird nun auf die gegenwärtige Zeit Montaignes angewandt und nicht mehr auf die Zeit der Griechen und Römer. Basierend auf den Schilderungen des Reisenden über die brasilianischen Ureinwohner fällt Montaigne das Urteil, dass diese Völkerschaft keineswegs barbarisch sei. Er erklärt, dass alles was nicht unserer Gewohnheit entspricht als „barbare“16 bezeichnet wird. Mit diesem Kommentar scheint er in gewisser Weise die Verwendung dieses negativen Begriffs zu rechtfertigen.
Auffallend in diesem Beispiel ist der Wechsel der unterschiedlichen Personalpronomen. Während Montaigne bei der Begründung des Begriffs „barbarie“ auf die dritte Person Singular zurückgreift, „chacun appelle barbarie ce qui n’est pas de son usage“17, verwendet er im darauffolgenden Teil die erste Person Singular: „[…] n’avons autre mire de la vérité […]“18. Die Verwendung der ersten Person Plural in diesem Ausschnitt impliziert, dass sich Montaigne hier auf die Seite der Menschen stellt. Es wirkt so, als wäre er selbst davon betroffen, wodurch er ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit der Leserschaft erzeugt. Sprachlich gesehen schließt er sich aber zuvor bei der Begründung der Verwendung des Begriffs aus. Für Montaigne selbst scheint „chacun“19 nicht zu gelten und deutet hier in gewisser Weise mit dem Finger auf jene, die sich dieses Begriffes ungerechtfertigterweise anmaßen. Montaigne hält sich hier geschickt aus der heikleren Situation raus, aber zählt sich dann wieder dazu, wenn die Lage rechtgefertigt und somit entschärft wird. Dies erweckt den Anschein, dass Montaigne hier gezielt auswählt, welches Bild er von sich selbst vermitteln möchte: Einerseits verkörpert er den Anprangernden, andererseits gibt er auch den Betroffenen. Durch diese Verbindung beider Gegenpositionen wird der Leserschaft zunächst erschwert, seinen tatsächlichen Standpunkt zu entschlüsseln.
Mit dem nachfolgenden Satz „Là est toujours la parfaite religion, la parfaite police, parfait et accompli usage de toutes choses.“20 gibt Montaigne eine klarere Auskunft über seine Einstellung: Die Verwendung der Anapher „la parfaite religion, la parfaite police“21 und die darauffolgende Tautologie „parfait et accompli“22 unterstützen Montaignes ironischen Ton in dieser Aussage. Es scheint als würde er hier die Sicht der Europäer annehmen und sich darüber mokieren, dass dieses Volk tatsächlich meint, die ideale beziehungsweise perfekte Gesellschaft darzustellen. Montaigne geht hier aber noch weiter. Er macht sich darüber nicht nur lustig, sondern veranschaulicht nun, um seine Kritik zu untermauern, was diese ideale Gesellschaft bereits in der Welt angerichtet hat.
Montaigne bezieht sich hier auf den Eingriff in die Natur, konkret auf den Anbau von Früchten, die der Mensch mithilfe von „künstlichen Eingriffen ihrer natürlichen, ursprünglichen Ordnung entzogen hat“23. Mit dieser Vorgehensweise, so Montaigne, haben wir die stärksten, wirkungsvollen Kräfte der Natur verfälscht, nur um sie unserem „goût corrompu“24 entsprechend anzupassen. Dieses Beispiel könnte man Allegorie für die Besiedelung und Unterdrückung der neuen Welt deuten, denn auch hier wurde mit Menschenhand in die natürliche Lebensordnung fremder Völker eingegriffen und für den europäischen Geschmack passend gemacht. In weiterer Folge erklärt Montaigne : „Nous avons tant rechargé la beauté et richesse de ses ouvrages (mère nature) par nos inventions, que nous l’avons du tout étouffée.“25 Montaigne sieht in unsere Erfindungen den Ursprung der europäischen Künstlichkeit. Mithilfe dieser erdrücken wir die Schönheit und den Reichtum von Mutter Naturs Werken. Mit diesem Beispiel zeigt Montaigne, wie viel Macht wir über die Natur besitzen, schaffen wir es doch sie mit unserem Handeln zu zerstören, doch er bringt noch einen weiteren Aspekt ins Spiel. Egal wie viel Macht wir theoretisch über die Natur haben, wir würden nie an sie herankommen. Dies demonstriert er anhand eines weiteren Beispiels: „Tout nos efforts ne peuvent seulement arriver à représenter le nid du moindre oiselet, sa contexture, sa beauté, et l’utilité de son usage : non pas la tissure de la chétive araignée“.26
Er hält der europäischen Gesellschaft hier den Spiegel vor, indem er behauptet, dass sie nicht einmal in der Lage wäre die einfachsten Werke der Natur zu vollbringen, ein Vogelnest oder ein Spinnennetz, in anderen Worten: so groß, wie wir uns halten, sind wir nicht, denn die Kraft der Natur steht über uns allen und dieser sind wir in keinster Weise gewachsen. Paradoxerweise sind den Europäern hier jene voraus, denen sie ihre „perfekte“27 Ordnung aufzwingen wollen. Gemäß Montaigne gehorchen die indigenen Völker den Regeln der Natur, anstatt sie verändern zu wollen, wodurch ihnen die Verderbnis der Natur erspart bleibt.28 Montaigne zeigt, dass im Bezug auf den Umgang mit der Natur, die indigenen Völker in seinem Sinne fortschrittlicher sind als die europäischen, wodurch er im selben Zug die europäische Vorstellung umkehrt.
Ähnlich verhält sich Montaignes Argumentationsweise bei jenem Thema, das dem Essay seinen Namen gibt: der Kannibalismus. Montaigne nutzt den Kannibalismus, gleich wie die Natur, nicht um zu zeigen, wie minderentwickelt die indigene Bevölkerung im Gegensatz zu den Europäern ist, sondern, um zweiteren aufzuzeigen, in welcher Hinsicht sie sich unzivilisierter als die ihrerseits verhöhnten Kannibalen verhalten. Er erklärt, dass der Kannibalismus ein Ausdruck der Rache sei. Der Verzehr von Menschenfleisch diene nicht der Lust, sondern soll den Feinden einen Schrecken einjagen. Die Tatsache, dass die “Kannibalen“ ausschließlich Gefangene verspeisen, bringt die Frage hervor, weshalb die indigene Bevölkerung einen so schrecklichen Racheakt vollzieht. Montaigne kommt zum Schluss, dass die Taten der Feinde wohl noch grausamer sein müssen, dass sie gezwungen sind, derartig Rache zu nehmen und beweist dies mit einem konkreten Beispiel.29
„Et qu’il soit ainsi, ayant aperçu que les Portugais, qui s’étaient ralliés à leurs adversaires, usaient d’une autre sorte de mort contre eux, quand ils les prenaient, qui était de les enterrer jusques à la ceinture, et tirer au demeurant du corps force coups de trait, et les pendre après : ils pensèrent que ces gens ici de l’autre monde […] prenaient pas sans occasion cette sorte de vengeance, et qu’elle devait être plus aigre que la leur , commencèrent de quitter leur façon ancienne, pour suivre celle-ci.30
Aus diesem Zitat geht hervor, dass der Kannibalismus laut Montaigne vor der Kolonisierung nicht existiert hat -- er ist ein Resultat der Kolonisierung. Das Mitansehen der Hinrichtungspraktiken der Portugiesen muss wohl für ein Umdenken bei den Indigenen gesorgt haben, und so wurden die ursprünglichen Tötungsformen, von denen Montaigne allerdings kein genaueres Beispiel nennt, angepasst, um mit den Feinden mithalten zu können.
Nachdem Montaigne die Gründe für den Kannibalismus genannt hat, vergleicht er dieses Phänomen nochmals mit den europäischen Grausamkeiten, um zu verdeutlichen, dass diese nicht weniger barbarisch sind. „Je ne suis pas marri, que nous remarquons l’horreur barbaresque , qu’il y a en une telle action, mais oui bien de quoi jugeants bien de leurs fautes nous soyons si aveuglés aux nôtres.“31 Montaigne kritisiert hier explizit („je“) die Haltung der Europäer, die stets die Fehler anderer kritisieren, aber die eigenen nicht erkennen, und gibt Beispiele für die schrecklichen Foltermethoden der Europäer, die die Grausamkeit des Kannibalismus deutlich übertreffen. Montaigne bezieht sich hier auf die Methode des Zerreißens, die stückweise Verbrennung des Körpers und das Zerfleischen am lebendigen Leib von Schweinen und Hunden.32 Um sein Argument zu verstärken betont Montaigne, dass diese Foltermethoden der seiner gegenwärtigen Zeit entsprechen und nicht gegen alte Feinde angewandt wurde, sondern gegen Mitbürger und Nachbaren, und was dies noch viel schlimmer mache ist die Tatsache, dass dies unter dem Vorwand von Frömmigkeit und Glaubenstreue passiere.33
Montaigne verweist hier auf die Religionskriege seiner Zeit34 und demonstriert somit, dass sich die Europäer nicht nur grausam gegenüber der indigenen Bevölkerung verhalten, sondern auch gegenüber ihren eigenen Landsleuten.
Er kommt zum Schluss, dass wir, die Europäer, die indigenen Völker nach den Regeln der „raison“ als barbarisch bezeichnen können, allerdings nicht, wenn wir sie an uns selbst messen, da unsere Taten im Vergleich viel grausamer sind. „Nous les pouvons donc bien appeler barbares, eu égard aux règles de la raison, mais non pas eu égard à nous, qui les surpassons en toute sorte de barbarie. (…)“.35 Montaigne kehrt somit erneut das Fremdenbild der Europäer um. Er stellt die Indigenen und Europäer nicht einmal auf ein und dieselbe Stufe, sondern ordnet die Europäer sogar unter die indigene Bevölkerung.
Nachdem Montaigne mithilfe der Darstellung der europäischen Foltermethoden unter dem Gesichtspunkt der Religionskriege die Grausamkeit der Europäer veranschaulicht hat und die Gräueltaten im Vergleich zum Kannibalismus gestellt hat, kehrt er wieder auf den Kontext des Kolonialismus und der Natur zurück.
„Ils ne sont pas en débat de la conquête de nouvelles terres : car ils jouissent encore de cette uberté naturelle, qui les fournit sans travail et sans peine, de toutes choses nécessayres, en telle abondance, qu’ils n’ont que faire d’agrandir leurs limites. Ils sont encore en cet heureux point, de ne désirer qu’autant que leurs nécessités naturelles leur ordonnent : tout ce qui est au-delà, est superflu pour eux.“36
Montaigne zieht folgenden Vergleich zwischen Europäer und indigener Stämme: Die Indigenen begehren nur so viel, wie es für ihre Bedürfnisse erforderlich ist. Die Natur beschenkt sie so reichlich, dass sie mit allem Notwendigen bereits versorgt sind. Mit dieser Charakterisierung der indigenen Bevölkerung entwirft Montaigne ein Gegenbild zu den Europäern, die er explizit in diesem Abschnitt zwar nicht erwähnt, aber aufgrund der behandelten Themen wird deutlich, dass diese Beschreibung als implizite Darstellung der Europäer ausgelegt werden kann.
Im Gegensatz zu den Indigenen sind die Europäer an der „conquête de nouvelles terres“37 interessiert. Sie befinden sich nicht an dem glücklichen Punkt, wie die Indigenen, mit dem zufrieden zu sein was sie besitzen – im Gegenteil, sie sind gierig und dadurch getrieben, ihre Grenzen auszudehnen.
Im weiteren Verlauf des Essays kehrt Montaigne erneut auf den Kannibalismus zurück und widmet sich genauer der Lage der Gefangenen vor ihrer Hinrichtung und anschließenden Verspeisung. Er berichtet davon, dass die Gefangenen vor und während ihrer Hinrichtung spöttisch Grimassen schneiden.38 Montaigne zitiert sogar den Liedtext eines in Gefangenschaft entstandenen Liedes, um die Einstellung der Gefangenen hervorzuheben.
[…] qu’ils viennent hardiment trétous et s’assemblent pour dîner de lui, car ils mangeront quant et quant leurs pères et leurs aieux, qui ont servi d’aliment et de nourriture à son corps : ces muscles, dit-il, cette chair et ces veines, ce sont les vôtres, pauvres fols que vous êtes : vous ne reconnaisset pas que la substance des membres de vos ancêtres s’y tient encore : savourez-les bien, vous y trouverez le gôut de votre propre chair.39
Montaigne lobt die Einzigartigkeit dieses Einfalls und fügt hinzu, dass „[…] ils ne cessent jusques au dernier soupir, de les braver et défier de parole et de contenance. Sans mentir, au prix de nous, voilà des hommes bien sauvages : car ou il faut qu’ils le soient bien à bon escient, ou que nous le soyons.“40 Die „Wilden“ geben sich bis zu ihrem letzten Atemzug nicht geschlagen und demonstrieren ihren Kampfgeist mit dieser Geste. Montaigne erläutert - dementsprechend ironisch-, dass diese Männer wahrlich wild sein müssen, denn wenn wir es nicht sind, sind es wohl sie. Montaigne präsentiert hier spöttisch die Sicht der Europäer und übt implizit Kritik an ihrer Sichtweise. Mit dieser Aussage zeigt er, dass eine Grunddifferenz von wild und nicht-wild herrscht, wobei sich die Europäer selbst der Seite des nicht-wilden zuordnen, daraus ergibt sich, dass alles nicht-Europäische wild sein muss. Der Europäer ist maßgebend und was ihm nicht gleichkommt, wird von vornherein stark abgewertet.
Die Referenz auf den Liedgesang dient aber nicht nur dazu, um zu zeigen wie einfallsreich und nicht-wild die Gefangenen sind, sondern auch, um die sprachliche Gewandtheit der indigenen Bevölkerung zu demonstrieren. Montaigne zitiert einen weiteren Liedtext, der wie folgt lautet: couleuvre, arrête-toi, arrête-toi couleuvre, afin que ma sœur tire sur le patron de ta peinture, la façon et l’ouvrage d’un riche cordon, que je puisse donner à m’amie : ainsi soit en tout temps ta beauté et ta disposition préférée è tous les autres serpents.41
[...]
1 Michel de Montaigne: „Des Cannibales“, in: Emmanuel Naya/ Delphine Reguig/ Alexandre Tarrête (Hg.), Essais I, Paris: Gallimard 2009, S. 392- 410, hier: S. 392.
2 Siehe Alexandre Tarrête: „Des Cannibales. Notes.“, in Emmanuel Naya/ Delphine Reguig/ Alexandre Tarrête (Hg.), Essais I, Paris: Gallimard 2009, S.656-660, hier: S. 657.
3 Siehe Greg Woolf: Rom. Biographie eines Weltreichs, übers. von Andreas Wittenburg, Stuttgart: Klett-Cotta 2017, S.20.
4 Siehe Volker Losemann: „Barbaren“, in: Hubert Cancik / Helmuth Schneider / Manfred Lanfester (Hg.), Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike.
5 Dieser Abschnitt ist im Essai kursiv geschrieben. Mit dieser Schrift werden spätere Hinzufügungen von Montaigne in der Gallimard Ausgabe für die Leserschaft ersichtlich gemacht.
6 Siehe Tarrête, Des Cannibales. Notes, S. 657.
7 Titus Quinctius Flaminius (ca. 230-174 v. Chr) war ein römischer Feldherr und Politiker, der sich seinerzeit die Vormachtstellung von Rom in Griechenland erkämpfte und im zweiten makedonisch-römischen Krieg (ca. 200-196 v. Chr) Rom zum Sieg verhalf. Nachzulesen bei: Alfred Heuß: „Die Erringung der Vorherrschaft im östlichen Mittelmeer“, in: Römische Geschichte, hrsg. v. Hans-Joachim Gehrke, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, S. 133-145, hier: S. 139.
8 Erneute Anspielung auf den zweiten makedonisch-römischen Krieg aus denen die römischen Truppen von Publius Sculpicius Galba siegreich hervorgingen und so die Macht Philip V (Philippos) von Makedonien eindämmten. Nachzulesen bei: ebd.
9 Montaigne, Des Cannibales, S.392.
10 Ebd., S. 392.
11 Ebd., S. 392.
12 Ebd., S. 392.
13 Siehe hierzu: Ilda Mendes dos Santos: „Là où Villegagnon prit terre… la France Antarctique (1555-1560)“, in: Bibliothèque Nationale de France. URL: https://heritage.bnf.fr/france-bresil/fr/villegagnon-france-antarctique-article#:~:text=Malgr%C3%A9%20son%20%C3%A9chec%20(ou%20peut,en%20somme%20ce%20%C2%AB%20cannibale%20%C2%BB%20que (04.07.2021).
14 Ebd., S. 396.
15 Ebd., S. 396.
16 Ebd., S. 396.
17 Ebd., S. 396.
18 Ebd., S. 396.
19 Ebd., S. 396.
20 Ebd., S. 396.
21 Ebd., S. 396.
22 Ebd., S. 396.
23 Ebd., S. 397. Übersetzung: M.S.
24 Ebd. S. 397.
25 Ebd. S. 397.
26 Ebd., S. 397.
27 Ebd., S. 397. Übersetzung: M.S.
28 Siehe Ebd., S. 398.
29 Siehe Ebd.
30 Ebd., S. 402-403.
31 Ebd., S. 403.
32 Siehe Ebd,, S. 403.
33 Siehe Ebd., S. 403.
34 Hugenottenkriege 1562-1598: Acht aufeinanderfolgende Bürgerkriege zwischen Katholiken und Kalvinisten in Frankreich, nachzulesen bei: Ulrich Niggemann: Hugenotten. Köln / Weimar / Wien: Böhlau Verlag 2011.
35 Montaigne, Des Cannibales, S. 404.
36 Ebd., S. 404.
37 Ebd., S. 404.
38 Siehe ebd., S. 407.
39 Ebd., S.407.
40 Ebd., S. 408.
41 Ebd., S. 409.
- Quote paper
- Anonymous,, 2021, "Parfait et Accompli". Der europäische Ethnozentrismus des 16. Jahrhunderts dargestellt bei Montaigne, Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1289039
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