Am 23.12.2007 wurde von der ARD der Tatortfilm „Wem Ehre gebührt“ ausgestrahlt. Dabei ging es um einen Inzest-Fall in einer alevitischen Familie, der einen Mord nach sich zog. Die Mitglieder der alevitischen Gemeinschaft und die Alevitische Gemeinde Deutschlands (AABF) waren hierüber zutiefst entsetzt. Über tausend Menschen versammelten sich vor dem ARD-Hauptstadtbüro. Die deutsche Öffentlichkeit war und ist nicht imstande, diese Empörung und diesen Protest nachzuvollziehen. Wie denn auch? Sie beruft sich zwar auf die Kunst- und Redefreiheit, kennt aber weder die Aleviten und das Alevitentum noch die historischen (gesellschaftlichen) Hintergründe für die Empörung über den im Film gezeigten Inzest-Fall in einer alevitischen Familie.
Freiheit und ihre Spielarten, also auch die Kunst- und Redefreiheit gehören zu den wesentlichen Elementen des Alevitentums. Der Protest der Aleviten richtete sich nicht gegen diese starken Prinzipen und Grundlagen offener Gesellschaften, sondern einzig und allein gegen die unreflektierte Darstellung des Inzest-Falles im Zusammenhang mit einer alevitischen Familie.
Der vorliegende Beitrag will aufklären. Er will die historischen Hintergründe dieses Protestes aufzeigen. Er versucht zu ergründen, wie und weshalb Menschen zu gewissen entwürdigenden Vorurteilen gelangen können.
Wer aber – bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich – gewisse entwürdigende Vorurteile (gegen wen und in welcher Form auch immer) weitertransportiert und sich dabei auf Kunst- und Redefreiheit beruft, der verklärt und handelt unverantwortungslos.
Grundlage und Maß menschlicher Freiheit in Form der Kunst- und Redefreiheit ist die Würde des Menschen. Wer für diese Freiheitsformen eintritt, der sollte dabei ebenso die Würde des Menschen beachten. Kein Mensch, keine Kultur, keine Gemeinschaft und dergleichen darf aufgrund seiner Andersartigkeit ausgegrenzt und gedemüdigt werden.
Inhalt
Vorbemerkung
1. Explikation der Fragestellung, Prämissen und einiger methodologischer Grundsätze der Arbeit
2. Kritische Explikation einiger die Moral der Kizilbas betreffender Vorurteile
2. 1 Explikation des Vorurteils, die Kızılbaş würden Inzest betreiben
2. 2 Urheber, Genese und Kontext dieses Vorurteils
3. Kritik des die Moral der Kızılbaş betreffenden Vorurteils. Drei Argumente, die gegen M sprechen
3. 1 Erstes Argument und Erklärungsversuch
3. 2 Zweites Argument
3. 3 Drittes Argument
4. Abschließende Bemerkung: Was tun?
Literatur
Kein Gedanke ist gültig, wenn er völlig erklärt
werden kann als Ergebnis irrationaler Gründe. (C. S. Lewis)
Was jetzt gelten soll, gilt nicht mehr durch Gewalt, wenig durch Gewohnheit und Sitte, wohl aber durch Einsicht und Gründe. (Hegel)
Vorbemerkung
Am 23.12.2007 wurde von der ARD der Tatortfilm „Wem Ehre gebührt“ ausge- strahlt. Dabei ging es um einen Inzest-Fall in einer alevitischen Familie, der einen Mord nach sich zog. Die Mitglieder der alevitischen Gemeinschaft und die Alevitische Ge- meinde Deutschlands (AABF) waren hierüber zutiefst entsetzt. Über tausend Menschen versammelten sich vor dem ARD-Hauptstadtbüro. Die deutsche Öffentlichkeit war und ist nicht imstande, diese Empörung und diesen Protest nachzuvollziehen. Wie denn auch? Sie kennt weder die Aleviten und das Alevitentum noch die historischen (gesell- schaftlichen) Hintergründe für die Empörung über den im Film gezeigten Inzest-Fall in einer alevitischen Familie.
Freiheit und ihre Spielarten, also auch die Kunst- und Redefreiheit gehören zu den wesentlichen Elementen des Alevitentums. Der Protest der Aleviten richtet sich nicht gegen diese starken Prinzipen und Grundlagen offener Gesellschaften, sondern einzig und allein gegen die Darstellung des Inzest-Falles im Zusammenhang mit einer aleviti- schen Familie.
Der vorliegende Beitrag will aufklären. Er will die historischen Hintergründe dieses Protestes aufzeigen. Er versucht zu ergründen, wie und weshalb Menschen zu gewissen entwürdigenden Vorurteilen gelangen können.
Wer aber – bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich – gewisse ent- würdigenden Vorurteile (gegen wen und in welcher Form auch immer) weitertranspor- tiert und sich dabei auf Kunst- und Redefreiheit beruft, der verklärt und handelt unver- antwortungslos.
Grundlage und Maß menschlicher Freiheit in Form der Kunst- und Redefreiheit ist die Würde des Menschen. Wer für diese Freiheitsformen eintritt, der sollte dabei ebenso die Würde des Menschen beachten. Kein Mensch, keine Kultur, keine Gemeinschaft u. dgl. darf aufgrund seiner Andersartigkeit ausgegrenzt und gedemüdigt werden.
1. Explikation der Fragestellung, Prämissen und einiger methodologischer Grundsätze der Arbeit
In diesem Beitrag möchte ich mich mit einer „Meinung“ kritisch befassen, die die Mo- ral der Kızılbaş (Kysylbasch)1 bzw. ihr moralisches Verhalten betrifft und beurteilt. Vor allem möchte ich zeigen, dass wir es zwar mit einer Meinung zu tun haben, dass diese jedoch nichts anderes und geringeres ist als ein Vorurteil. Vorurteile können wahr oder falsch, gescheit oder dumm, weise oder töricht, positiv oder negativ, gut oder schlecht, rassistisch oder humanistisch, demütigend oder anerkennend sein.2
Dieses Vorurteilsverständnis scheint in einem bestimmten Sinne eine Aufklärungs- kritik zu implizieren. Gemäß diesem Verständnis ist ein Vorurteil nicht bloß ein vorzei- tiges, voreiliges, ein verfrühtes Urteil, eine vorgefasste Meinung (praecaria cognitio, praeiudicium, praeconcepta opinio) dem es an Erfahrung fehlt3, sondern auch eine Vielfach neigt man zu einer reduktiven Erklärung der Bedeutung dieser Bezeichnung in dem Sinne, dass man sich auf die Frage nach der Nachkommenschaft beschränkt und zu verstehen gibt, dass Ali nach dem Tode des Propheten seine Nachkommenschaft hätte antreten sollen, was ihm aber nicht gestattet worden wäre. Im weitesten Sinne beschränkt man sich auf den sog. „Ali-Kult“. Der „Ali-Kult“ ist aber erst im 16. Jahrhundert entstanden. Eine solche reduktive Erklärungsweise wird den weitreichenden historischen Ursprüngen des Phänomens, womit wir es zu tun haben, nicht gerecht, da sie dazu führt, die Frage nach dem Beginn mit dem 16. Jahrhundert anzusetzen. Damit wird ein Verständnis über die Eigentümlichkeit dessen, worum es geht, nicht erreicht. Vor allem wird damit der heterodoxe und synkretistische Charak- ter ausgeblendet (vgl. Gölpinarli 1955; Melikoff 1993, ders. 1999, ders. 1998; Ocak 2000, ders. 2000a). Vielmehr verwende ich den Terminus Kızılbaş (geschrieben auch: Kysylbasch), weil einerseits die hier behandelte Meinung unmittelbar mit dieser Bezeichnung in Verbindung gebracht wird und es an der Zeit ist, diese Bezeichnung selbstbewusst entgegen gewisser Tendenzen zu verwenden und weil andererseits dieser Terminus die historisch korrektere Bezeichnung ist.
In etymologischer Hinsicht besagt Kızılbaş (kızıl = rot, bas = Haupt, Kopf) zu deutsch „Rothaupt“ bzw.
„Rotkopf“ und bezog sich ursprünglich auf die roten Turbane jener sieben (schiitischen) Türkme- nenstämme, welche die Scheichs von Ardabil auf den persischen Thron brachten und Schah Ismail zur Gründung der Safawiden-Dynastie verhalfen. Ismail habe sie für ihre Treue mit dieser Kopfbedeckung ausgezeichnet, die bereits die Anhänger seiner Vorfahren getragen haben, um sie auf diese Weise deutlich von den sunnitischen „Grünköpfen“ („Yeşil Bas“) abzusetzen (vgl. Müller 1967, S. 10).
Allgemein waren die Kızılbaş jene Gruppe, die von der sunnitischen Orthodoxie abwichen, und zwar dadurch dass sie sich nicht nach der Scharia (ursprüngliche Bedeutung: „der Weg zu einer Wasserstelle“; siehe Lewis 2002, S. 39 u. a.), also dem heiligen Gesetz des Islam richteten. Das war Grund genug, um sie als Ketzer zu bezeichnen und zu behandeln. Dieser Terminus ist insofern ein klassischer Abgren- zungs- und Bezichtigungsbegriff.
praeconcepta opinio ohne wesentliche Erfahrungsgrundlage, die jedoch in einem bestimmten Kontext steht und perspektivisch und mit gewissen Eigenschaften (negativ oder positiv, dumm oder gescheit u. dgl.) verbunden ist, die bei einer kritischen Refle- xion über die Geltung und den Sinn eines Vorurteils berücksichtigt werden sollten.
Für diesen Zweck werde ich zeigen, dass die Meinung über die Kizilbas weder empi- risch noch argumentativ fundiert und begründet worden ist. Deshalb ist die Rede von einem Vorurteil gerechtfertigt. Was aber nicht fundiert und begründet worden ist, kann eventuell fundiert und begründet werden, wenn das natürlich möglich ist. Diese Frage betrifft demnach die Möglichkeit der Fundierbarkeit und Begründbarkeit einer Mei- nung. In Betreff dieser Frage behaupte ich, dass die das moralische Verhalten der Kızılbaş betreffende Meinung nicht zu fundieren und zu begründen ist. Fernerhin be- haupte ich, dass sie nicht nützlich ist. Meine zentrale These lässt sich so formulieren:
Die hier in Frage stehende Meinung betreffs der Moral der Kızılba ş wird sich zwar als ein Vorurteil herausstellen, ist aber nicht deshalb zu verwerfen, weil wir es hier mit einem Vorurteil zu tun haben, sondern einfach deshalb, weil sie falsch, dumm, töricht, negativ, kurz: demütigend bzw. entwürdigend ist.
Eine Gesellschaft ist unanständig, so Avishai Margalit in seiner Politik der Würde. Über Achtung und Verachtung4, wenn ihre Institutionen die Menschen oder „identitäts- stiftenden Gruppen“5 demütigen und ausschließen6; sie ist unzivilisiert, wenn die Men- schen oder identitätsstiftenden Gruppen einander demütigen7. Demütigung8, die auf den Gegenbegriff der Achtung angewiesen ist9, ist eine Form der Grausamkeit, die aus- schließlich Menschen zugefügt werden kann10. Sie besagt aber nicht nur Ausschluss, sondern auch Ignorierung identitätsstiftender Gruppen11. Seit dem osmanischen Zeital- ter werden die Aleviten gedemütigt. Seit der Gründung der Türkischen Republik im Jahre 1923 hat sich daran im Wesentlichen nichts geändert, auch wenn es hier und da positive Bemühungen und Tendenzen gab.
An dieser Stelle ist aber ausdrücklich hervorzuheben, was ich dabei nicht behaupte.
Ich behaupte nämlich nicht, dass mangelnde empirische Forschung über das Verhal- ten der Kızılbaş die Ursache für dieses Vorurteil ist. Mit anderen Worten: Ich behaupte also, auch dann, wenn die Urheber dieses Vorurteils hinreichende Kenntnis über die Kızılbaş hätten, würden sie dieses Vorurteil immer noch aufrechterhalten. Für diese Behauptung werde ich Gründe anführen. Ich werde einige u. a. religionsphilosophische, psychologische und politische Erklärungen anführen.
Den Geltungsanspruch auf Wahrheit meiner These werde ich nach der Explikation dieses Vorurteils argumentativ und pragmatisch einzulösen versuchen. Damit komme ich einer epistemologischen Aufforderung nach, die besagt, wer einen Wissensanspruch erhebt, setzt sich der möglichen Aufforderung aus, diese Behauptung einzulösen, sie zu rechtfertigen.12
Dabei kann der folgende Grundsatz leitend sein:
Ein Gedanke oder eine Meinung ist gültig, wenn er völlig erklärt werden als Ergebnis irrationaler Gründe13. Meinungen, die völlig auf irrationalen Gründen basieren oder sich gegen den am stärksten gegen sie erhobenen Einwand nicht als resistent erweisen, sollten wir alsbald aufgeben. Um mit Habermas zu sprechen:
„Eine Aussage ist wahr, wenn sie unter den anspruchsvollen Bedingungen ei- nes rationalen Diskurses allen Entkräftungsversuchen standhält.“14
2. Kritische Explikation einiger die Moral der Kizilbas betreffender Vorurteile
Gegenüber den Kızılbaş gibt es zahlreiche Vorurteile in oben erwähntem Sinne. So ist aus dem Munde eines geistlichen Lehrers (Hoca, Hodscha) das Folgende, uns von Fikret Otyam, der kein Kızılbaş ist, Überlieferte, zu entnehmen:
„Schaut nicht in das Gesicht der Kızılbaş. Das Licht, der Glanz eures Ge- sichts` geht sonst verloren. Ihr Brot, ihr Fleisch sind nicht essbar, ihre Teppiche sind nicht betretbar.“15
Auch wird den Kızılbaş nachgesagt, dass das, was sie zubereiten, nicht essbar wäre, da sie hineinurinieren würden. Insgesamt werde ich nun vier Vorurteile dieser Art an- führen. Nur auf das vierte Beispiel werde ich näher eingehen.
Erstes Beispiel
Müller16 schreibt unkritisch F. v. Luschan zitierend, Folgendes die Sozialstruktur der Tahtaci (Tachtadschi) beschreibend, die auch als Kızılbaş bezeichnet werden und hier auf ihre Moral zielend: Der Baba oder der Dede als Träger und Apostel der Ge- heimlehre besuche alljährlich sämtliche Familien seines Sprengels und veranstalte ent- weder in einem Zelte, in einer Höhle oder auch im Freien religiöse Zusammenkünfte, die des Abends mit Gesang und Tanz begönnen und um Mitternacht mit großer Zerknir- schung enden würden. Bei diesen Zusammenkünften stünde dem Geistlichen das Recht zu, sich eine beliebige Frau aus der Gemeinde zwecks nächtlichen Umgangs zu wählen, wodurch sich deren Gatte besonders geehrt fühlen solle.
Zweites Beispiel
Dieses Vorurteil entnimmt Müller H. Grothe.17 Er schreibt, dass es nach Grothe un- ter den Kızılbaş auch Gast- und Sakralprostitution geben solle. Grothe habe von einem orthodoxen Türken gehört, der Gast werde aufgefordert, 15 Tage im Hause zu bleiben und man würde ihm 15 junge Mädchen vorführen, von denen er sich zwei nach Belie- ben „zur Gesellschaft“ auswählen könne. Nun zitiert Müller Grothe direkt:
„Manche nehmen sogar mehr als zwei, was meist geduldet werde, und die Wanderpriester der Kızılbaş... sogar jede Nacht eine andere, wenn sie ein Dorf mit ihrem Besuch beehren“.
Man bedenke, dass mindestens in einem Fall der Urheber dieses Vorurteils ein Sunnit ist und dass in beiden Fällen die Urheber Menschen sind, die zu diesen Versamm- lungen keinen Zugang haben und haben können. Aber woher wissen sie das? Sind diese Aussagen glaubwürdig? Erstaunlich ist, dass Müller diese Aussagen für glaubwürdig hält, wenn er schreibt:
„Ich bezweifle, ob wir ein Recht haben, diese Angabe einfach als sunnitische Lästerpropaganda abzutun. Immerhin ist diese Beschreibung recht detailliert, und Grothe setzt eigens noch hinzu, diese Mitteilung sei ihm `mehrfach von glaub- würdiger Seite bestätigt` worden.“18
Zur Wissenschaftlichkeit gehört ein bestimmtes Maß an Rationalität, Transparenz, Öffentlichkeit, Überprüfbarkeit u. dgl. Wissenschaft kann sich nicht mit einer „Gerüch- teküche“ zufrieden geben. Es mag sein, dass diese Beschreibung recht detailliert ist. Dass aber eine Beschreibung recht detailliert ist, ist noch lange kein hinreichender Grund für die Annahme, dass diese Beschreibung glaubwürdig sei. Nicht alles, was recht detailliert beschrieben ist, ist deshalb schon wahr. Weil das so ist, haben wir des- halb auch ein Recht, an der Glaubwürdigkeit dieser Beschreibung zu zweifeln.
Drittes Beispiel
Den Kızılbaş wird auch vorgeworfen, dass sie areligiös seien, dass sie keine Religion hätten, um es schärfer zu formulieren, dass sie religionsfeindlich seien. Dieses Vorurteil ist quellenmäßig gut belegt. Es ist den von Baki Öz19 herausgegebenen Quellen (Nr. 43, Nr. 55, Nr. 59) zu entnehmen. Dieser Vorwurf ist in keiner Weise aufrechtzuerhal- ten. Bei diesem Vorurteil möchte ich kurz verweilen. Denn an diesem Vorurteil lässt sich die oben erwähnte Behauptung gut veranschaulichen, die besagt: Die primäre Ursa- che der Vorurteile der osmanischen Orthodoxie und der Sunniten ist nicht mangelndes Wissen. Auch wenn die osmanische Orthodoxie Nachforschungen über die Kızılbaş getan hätte, und vielleicht hat sie das tatsächlich getan, hätte sie dieses Vorurteil, weil ihre Weltanschauung in einem bestimmten Sinne einseitig, eng, ja fundamentalistisch, dogmatisch, absolutistisch gewesen ist. Der Quelle Nr. 59 ist das zu entnehmen. Die Argumentationsstruktur, die dieser Quelle zu entnehmen ist, lässt sich in Form eines Syllogismus so darstellen:
1. Menschen oder Gruppen sind unreligiös, wenn sie nicht fasten oder nicht beten.
2. Kızılbaş beten weder noch fasten sie.
3. Also haben sie keine Religion.
Erklärungsbedürftig ist die 1. Prämisse. In ihr kommt eine Art von Fundamenta- lismus zum Ausdruck. Denn in dieser Prämisse wird entweder eine bestimmte Religi- onsauffassung oder eine bestimmte Religion absolut gesetzt und als sicheres Kriterium für Religiosität betrachtet. Die 2. Prämisse ist schlichtweg falsch. Sie zeugt von Un- kenntnis. Die Kızılbaş haben rituelle Zeremonien und sie fasten auch. Weder ihre Zere- monien noch ihr Fasten ähneln dem Gebet und dem Fasten der sunnitischen osmani- schen Orthodoxie. Dazu gibt es auch keine Notwendigkeit. Denn in erkenntnistheoreti- scher Hinsicht lässt sich auch in Sachen der Religion so argumentieren: Keine Religion ist in Sachen der Religion im Besitze eines Archimedischen Standpunktes. Deshalb ist auch ein “exklusiver Monotheismus” als eine Gestalt bzw. Form des “exklusiven Mo- nismus”, wie Jan Assman in seinem kürzlich erschienenem Buch: “Die Mosaische Un- terscheidung. Oder der Preis des Monotheismus” (2003) zeigt, nicht haltbar.
Meine Hauptthese möchte ich nun am folgenden, am vierten Beispiel exemplarisch veranschaulichen.
2.1 Explikation des Vorurteils, die Kızılba ş würden Inzest betreiben
Das Vorurteil, von dem hier nun die Rede sein wird, besteht in der Meinung, dass die Kızılbaş Inzest (lat. Geschlechtsverkehr und Fortpflanzung zwischen Verwandten) betreiben würden. Genauer besteht das hier gemeinte Vorurteil in der Meinung (im Fol- genden M), dass es bei den Zusammenkünften der Kızılbaş, wo Frauen und Männer sich nächtens zu kultischen Feiern einfinden, zu zügellosen geschlechtlichen Vereinigungen käme20.
Der problematische Kern dieser Meinung besteht bei näherer Betrachtung in der An- nahme, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen der Moral der Kızılbaş und In- zest gäbe. Damit wird den Kızılbaş indirekt vorgeworfen, dass sie eine Sexualbeziehung zwischen Verwandten pflegen und diese Sexualbeziehung stets bejahen, fördern und nicht moralisch tadeln würden.
Wäre eine solche Meinung M tatsächlich zu bestätigen, gäbe es also tatsächlich einen solchen inneren Zusammenhang, so müssten wir ihn irgendwie nachweisen können und alsbald dürften wir folgern, dass die Kızılbaş gegen eines der ältesten, aus magisch- religiösen Quellen gespeistes Sexualtabu verstoßen.
Dieses Tabu ist nach Freud moralischer Natur. Die „Inzestschranke“21, die wahr- scheinlich zu den historischen Erwerbungen der Menschheit gehöre und wie andere Moraltabus bereits bei vielen Individuen durch organische Vererbung fixiert sein dürfte, also jene moralischen Vorschriften, welche die geliebten Personen der Kindheit als Blutsverwandte ausdrücklich von der Objektwahl ausschließen, wird damit nicht auf- rechterhalten. Die moralische Dimension dieses Sexualtabus wird von Freud pragma- tisch erklärt:
„Die Beachtung dieser Schranke ist vor allem eine Kulturforderung der Gesell- schaft, welche sich gegen die Aufzehrung durch die Familie wehren muss, die sie für die Herstellung höherer sozialer Einheiten braucht, und darum mit allen Mit- teln dahin wirkt, bei jedem einzelnen, speziell beim Jüngling, den in der Kindheit allein maßgebenden Zusammenhang mit seiner Familie zu lockern.“22
2.2 Urheber, Genese und Kontext dieses Vorurteils
Nicht zum erstenmal sind Kızılbaş mit diesem Vorurteil konfrontiert. Hier und da trat es im Alltag vor allem in Form eines (vielleicht gut gemeinten, nicht weiter reflektier- ten) „Witzes“ auf: „Freunde lasst uns - wie die Aleviten (Kızılbaş) – eine Kerze auslö- schen!“ Häufig wird dieses Vorurteil im Zusammenhang mit der Metapher des “Auslö- schens einer Kerze” (“Mum söndürmek”) zum Ausdruck gebracht. Was ist aber genauer mit dieser Metapher gemeint? Viele wissen zwar, was mit dieser Metapher gemeint ist, aber sie können nicht ange- ben, weshalb gerade diese Metapher gebraucht wird, um den Kızılbaş ein unmoralisches Verhalten vorzuwerfen. Der hier unterstellte Zusammenhang zwischen Inzest und dieser Metapher (“Mum Söndü”) lässt sich so darstellen:23
Die Kızılbaş würden sich in einem Haus versammeln. An dieser Versammlung näh- men sowohl Männer als auch Frauen teil. Sie würden dann im Haus eine Kerze anzün- den, die sie in eine Ecke stellen. In die unmittelbare Nähe dieser Kerze würden sie an- schließend einen Hahn stellen. Sobald der Hahn beginne, mit seinen Flügeln flatternd die Kerze auszulöschen, komme es zwischen den Anwesenden ungeachtet des Ver- wandtschaftsgrades zu einer sexuellen Vereinigung.
Dieses Vorurteil hat einen weitreichenden historischen Ursprung und ist der Quellen- lage nach auf die Sultanerlasse des 16. Jahrhunderts, die Auswahlweise von A. Refik 1932 herausgegeben worden sind, zurückzuführen24. Ich werde aber im Folgenden auf die erwähnte Quellenedition von Öz (1997) zurückgreifen, da sie mir zugänglich und allgemein verständlich ist.
Der folgende Erlass stammt aus dem Jahre 1571 und fällt in die Zeit von Selim II:
„Quelle: 36
Erlass in Betreff der Bestrafung der Kızılba ş in Kastamonu und Tasköprü:
An den Herrn von Kastamonu, an die Richter in Küre und Taşköprü richte ich das folgende Urteil:
In den heutigen Tagen ist aus dem an den Landkreis Taşköprü angeschlossenen Dorf Hamit Yugu jemand Namens Ilyas zu meiner heiligen Tür gekommen. Er hat mir mitgeteilt, dass in den Dörfern Hacı Yölük, Kırca und Kızılcavıren, die in die- ser Region liegen, Kızılbaş wären. Auch teilte er mir mit, dass die Frau von je- mandem namens Kara Recep aus dem Wohnviertel Hacı Yügü zu der über religi- öse Fragen verhandelnden Versammlung gekommen sei, um mitzuteilen, dass ihr Mann ein Kızılbaş sei und dass dieser sich nächtens mit Gleichgesinnten in einem Haus zu treffen pflegte, wo sie zu Klängen des saz (volkstümliches Musikinstru- ment) beisammen wären und nach einiger Zeit in der Nacht nach dem Auslöschen der Kerze gegenseitig von ihre Frauen Besitz genommen hätten (...)“
In einem Erlass über die Bestrafung der Kızılbaş in der Gegend von Amasya werden zwölf Jahre später fast wörtlich die gleichen Anschuldigungen erhoben:
[...]
1 In der Tat hat der Terminus Alevi einen Bedeutungswandel erfahren. Obwohl mit diesem Terminus gewisse Assoziationen verbunden werden können, die irreführend sind, da gewisse historische Tatsachen nicht ausreichend berücksichtigt und gewürdigt werden, werde ich gelegentlich diesen Terminus gebrau- chen.
2 Vgl. Dorschel 2001, S. 1.
3 Vgl. ebd., S. 7 – S. 34.
4 Vgl. Margalit 1999, S. 15.
5 Vgl. ebd., S. 169 f.
6 Vgl. ebd., S. 172.
7 Vgl. ebd., S. 15.
8 Nach Margalit (vgl. ebd., S. 177) gibt es drei Varianten bzw. drei verschiedene Sinnebenen der Demüti- gung: erstens Menschen so zu behandeln, als ob sie keine Menschen wären, zweitens der Ausschluss aus der Menschengemeinschaft und drittens Handlungen, die zum Verlust der Selbstkontrolle führen oder diesen verdeutlichen.
9 Vgl. ebd., S. 181.
10 Vgl. ebd., S. 175.
11 Vgl. ebd., S. 174.
12 Toulmin 1996, S. 189.
13 C. S. Lewis zitiert nach Rosenberg 1986, S.185.
14 Habermas 1999, S. 259. Vgl. dazu die kritische Auseinandersetzung von Apel 2002.
15 Otyam 2002, S. 108. An einer anderen Stelle berichtet Otyam von einer Erfahrung, die er im Alter von sechs Jahren 1932 gemacht habe. Otyam wäre an einem Mittwoch auf dem Markt von Aksaray dabei gewesen, bei einem älteren Herrn Butter einzukaufen. Jemand, der ihn beobachtet habe, habe heftig am Arm ziehend dafür gesorgt, dass er sich von diesem Platz entfernt habe. Dieser habe ihn mit den Worten, die er damals nicht verstanden habe, zurechtgewiesen: “Sohn, was machst du da? Das sind Kızılbaş! Ihr geschlachtetes Fleisch, ihre Butter, ihr Käse sind nicht essbar, sind widerlich, verboten.” Ebd., S. 238. Anschließend bemerkt Otyam, dass diese Worte nie aus seinem Gedächtnis gelangt wären und dass er mit der Neugier auf die Bedeutung dieser Worte aufgewachsen sei. Diese Bemerkung von Otyam ist in einer anderen Hinsicht lehrreich: Gerade in Anwesendheit von Kindern sollten wir sehr darauf achten, was wir sagen. Kinder werden allgemein von Vorurteilen und vor allem von inhumanen, entwürdigenden Vorur- teilen stärker geprägt und irritiert. Schon deshalb, weil wir eine besondere Verantwortung gegenüber ihnen haben, sollten wir diese Art von Vorurteilen vermeiden und sie dort, wo sie gemacht werden, strikt unterbinden.
16 Dazu im Folgenden Müller 1967, S. 5.
17 Vgl. ebd., S. 25 f.
18 Vgl. ebd., S. 26.
19 Diesbezüglich Öz 1997. Die Nummerierung der Quellen von Öz habe ich beibehalten.
20 Vgl. Kehl-Bodrogi 1998, S. 228.
21 Diesbezüglich Freud 1912; ders. 1991, S. 124 ff.
22 Freud 1991, S. 125.
23 Bozkurt, 1993, S. 83.
24 Vgl. Kehl-Bodrogi 1998, S. 29 f. Es mag ungewöhnlich sein, diese Aussagen als Vorurteil zu behan- deln. Das ist es auch. In argumentativer Hinsicht scheint das aber nicht ganz abwegig zu sein, wenn zur Kenntnis genommen wird, dass die Urheber dieser Quellen, auch wenn in ihnen die Kızılbaş zitiert wer- den, die Osmanen gewesen sind und insoweit als befangen gelten. Für ihre Befangenheit spricht ihr Um- gang mit den Kızılbaş, worauf ich noch zu sprechen kommen werde. Vor allem behandle ich diese Aus- sagen aus systematischen Gründen als Vorurteil. Ich bin an einem Problem orientiert. Würde es das Prob- lem der Gleichsetzung zwischen Kızılbaş und Inzest nicht geben und bestünde hier nicht die Möglichkeit, ausgehend von diesen Quellen eine solche Gleichsetzung zu belegen, nähme ich diese Aussagen als Tat- sachenbeschreibungen zur Kenntnis – ohne aber einen inneren Zusammenhang zwischen beiden zu sehen oder hieraus abzuleiten. Auch auf dieses erkenntnistheoretische Problem werde ich eingehen.
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