Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit dem Phänomen der Radikalisierung von Jugendlichen. Dabei werden konkret der Rechtsextremismus als politisch begründete Radikalisierung und der Salafismus als religiös begründete Radikalisierung thematisiert. Es werden sozialwissenschaftliche Zugänge zu Auslösern, Risikofaktoren und Verlaufsformen von Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen erörtert. Zuletzt werden präventions- und interventionsbezogene methodische Zugänge im Rahmen Sozialer Arbeit aufgegriffen, die sich dem Thema politisch-religiöser Radikalisierung im Jugendalter widmen.
Inhaltsverzeichnis
Abstract
Schlüsselbegriffe
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Einleitung
1 Begrifflichkeiten
1.1 Radikalisierung
1.2 Extremismus
1.2.1 Rechtsextremismus – als politisch begründete Radikalisierung
1.2.2 Salafismus – als religiös begründete Radikalisierung
1.2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Rechtsextremismus und Salafismus
2 Theoretische Erklärungsansätze zu Radikalisierung
2.1 Auslöser für Radikalisierung auf Makro-, Meso- und Mikroebene
2.1.1 Makroebene
2.1.2 Mesoebene
2.1.3 Mikroebene
2.2 Radikalisierungsprozess nach Beelmann
2.2.1 Ontogenetische Entwicklungsprozess
2.2.2 Proximaler Radikalisierungsprozess bis hin zur Übernahme politischer oder religiös extremistischer Einstellungen
3 Radikalisierung im Jugendalter
3.1 Merkmale der Lebensphase Jugend und ihre Herausforderung im Hinblick auf Radikalisierung
3.2 Wie genau werden Jugendliche radikalisiert?
3.2.1 Rechtsextremistischer Radikalisierungsprozess bei Jugendlichen
3.2.2 Salafistischer Radikalisierungsprozess bei Jugendlichen
4 Prävention und Deradikalisierung im Rahmen der Sozialen Arbeit und angebotene Programme
4.1 Prävention
4.1.1 Präventionstriade nach Caplan und Gordon mit praxisnahen Projektbeispielen
4.2 Deradikalisierung
4.2.1 Deradikalisierung am Beispiel der Beratungsstelle Extremismus in Österreich
4.2.2 Deradikalisierung am Beispiel des Vereins NEU START in Österreich
5 Methodischer Umgang in der Sozialen Arbeit mit rechtsradikalen und salafistisch-orientierten Jugendlichen
5.1 Soziale Arbeit im Bereich der rechtsextremen Szene
5.1.1 Akzeptierende Jugendarbeit
5.1.2 Integrationspädagogik
5.1.3 Konfrontative Jugendarbeit
5.1.4 Herausforderungen für die Soziale Arbeit mit rechtsextrem orientierten und rechtsextremen Jugendlichen
5.2 Soziale Arbeit im Bereich der salafistischen Szene
5.2.1 Präventive Ansätze
5.2.2 Biografiearbeit
6 Resümee
Literaturverzeichnis
Abstract
Die vorliegende Bachelorarbeit beschäftigt sich mit dem Phänomen der Radikalisierung von Jugendlichen. Dabei werden konkret der Rechtsextremismus als politisch begründete Radikalisierung und der Salafismus als religiös begründete Radikalisierung thematisiert.Es werden sozialwissenschaftliche Zugänge zu Auslösern, Risikofaktoren und Verlaufsformen von Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen erörtert.Zuletzt werden präventions- und interventionsbezogene methodische Zugänge im Rahmen Sozialer Arbeit aufgegriffen, die sich dem Thema politisch-religiöser Radikalisierung im Jugendalter widmen.
This present Bachelor’s Thesis is focused on the phenomenon of radicalization. The far-right-extremism as a politically justified form of radicalization so as the Salafism as a religiously justified form of radicalization will be made a subject of discussion in this Thesis. Furthermore, reasons, risk factors and the development of processes of radicalization will be discussed in a social scientific way. Finally, methods of prevention and intervention in the context of social work will be presented, which deal with political and religious radicalization during adolescence.
Schlüsselbegriffe
Radikalisierung Radicalization
Rechtsextremismus far-right extremism
Salafismus Salafism
Ideologie Ideology
Radikalisierungsprozess Radicalization process
Jugendliche youths
Deradikalisierung Deradicalization
Prävention prevention
Soziale Arbeit social work
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Überblick zum entwicklungsorientierten Modell der Radikalisierun
Abbildung 2: Präventionstypen
Abbildung 3: Inhalte des PARTS-Programms
Einleitung
Im Verfassungsschutzbericht 2019 des Bundesministeriums für Inneres in Österreich wird gezeigt, dass sich im Jahr 2019 insgesamt 313 Österreicher*innen mit manifest religiös begründeten Ideologien (Salafismus) aktiv am Jihad in Irak oder Syrien beteiligten beziehungsweise beteiligen wollten. Mit Blick auf die rechtsextremistische Szene, in der politisch begründete Ideologien manifestiert sind, kann gesagt werden, dass im Jahr 2019 954 Personen eine rechtsextremistische, ausländerfeindliche oder unter anderem antisemitische Tathandlung begangen haben (Bundesministerium Inneres, 2020, S. 16, 34). Dies lässt auf die Relevanz des Themas Radikalisierung schließen, welches in der vorliegenden Arbeit behandelt wird.
Im Rahmen dieser Bachelorarbeit wird auf die politisch begründete Radikalisierung (Rechtsextremismus) sowie auf die religiös begründete Radikalisierung (Salafismus) bei Jugendlichen eingegangen. Den Leser*innen wird ermöglicht, sich mit dem Thema Radikalisierung bei Jugendlichen vertieft auseinanderzusetzen. Diesbezüglich werden im ersten Kapitel die Begrifflichkeiten Radikalisierung, Rechtsextremismus und Salafismus genauer beschrieben, um in weiterer Folge Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Rechtsextremismus und Salafismus deutlich zu machen. Das zweite Kapital beinhaltet theoretische Erklärungsansätze zum Phänomen Radikalisierung und beleuchtet mögliche Auslöser auf der Mikro-, Meso- und Makroebene. Des Weiteren wird das entwicklungsorientierte Modell von Beelmann herangezogen, um ein Verständnis im Hinblick auf den Prozess von Radikalisierung zu erlangen. Das Modell, bestehend aus 3 Stufen, zeigt deutlich die Risikofaktoren im ontogenetischen sowie proximalen Entwicklungsprozess auf, welche, nach Beelmann, je nach Ausprägung zu einem hohen Risiko beitragen, extremistische Einstellungen zu manifestieren. Im Kapitel 3 werden die Merkmale der Lebensphase Jugend und ihre Herausforderungen im Hinblick auf Radikalisierung aufgezeigt, gefolgt von der Fragestellung, wie sich Jugendliche sowohl rechtsextremistisch als auch salafistisch radikalisieren. Deutlich machen sollen dies praxisnahe Fallbeispiele, welche herangezogen werden. Im Anschluss wird im Kapitel 4 auf Prävention und Deradikalisierung im Rahmen Sozialer Arbeit eingegangen. Darin findet sich die Präventionstriade nach Caplan und Gordon anhand von praktischen Projektbeispielen wieder. Außerdem wird Deradikalisierung am Beispiel der Beratungsstelle Extremismus in Österreich und dem Verein NEU START gezeigt. Abschließend wird im Kapitel 5 auf den methodischen Umgang mit rechtsradikalen und salafistisch-orientierten Jugendlichen in der Sozialen Arbeit verwiesen. Hierfür verwendete Methoden, beziehungsweise Methoden, welche im Bereich der rechtsextremen und salafistisch-orientierten Radikalisierung im Zuge der Sozialen Arbeit angewandt werden, sind unter anderem die akzeptierende Jugendarbeit, die Integrationspädagogik, die konfrontative Jugendarbeit sowie die Biografiearbeit.
Bevor Ihr liebe Leser*innen, mit dem Lesen dieser Arbeit beginnt, möchte ich Ihnen ein für mich wichtiges Zitat von Glaeser nahelegen. Dieses Zitat soll deutlich machen, welche Gefühle und Emotionen, vor allem im Jugendalter, mit Radikalisierung einhergehen können und welchem emotionalen Bann betroffene Jugendliche ausgesetzt sind. Es geht dabei nicht darum, nicht-vorhandene Akzeptanz gegenüber Radikalisierung aufzuzeigen, sondern vielmehr darum, vorurteilfreies Verständnis gegenüber sozialen Randgruppen zu verdeutlichen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Anwerbung für radikales Gedankengut mit einem sehr wirkungsmächtigen Versprechen der engen emotionalen Zugehörigkeit verbunden ist. Versprochen wird die Gemeinschaft unter Brüdern und Schwestern mit klar definierten Außenfeinden (,,die Ungläubigen‘‘) […] (Glaeser, 2018, S. 80).
1 Begrifflichkeiten
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den Begrifflichkeiten Radikalisierung und Extremismus und führt die religiös und politisch begründete Radikalisierung, also den Rechtsextremismus und den Salafismus, genauer aus. Abschließend wird in diesem Kapitel Rechtsextremismus und Salafismus kurz gegenübergestellt.
1.1 Radikalisierung
Beim Begriff Radikalisierung liegt weder eine einheitliche Definition vor, noch gibt es über deren Ursache und Verlauf ein gemeinsames Verständnis. Radikalisierung bedeutet, manchen Theorien zufolge, Gewalt als legitimes Mittel anzusehen, um ideologische Ziele festzumachen (Aslan et al., 2018, S. 17).
Das Adjektiv ,radikal‘ bedeutet ,,von Grund auf, gründlich; bis auf die Wurzel, bis zum Äußersten gehend, hart, rigoros und rücksichtslos‘‘ und ist dem spätlat. radicalis, radix im 16. Jh., später im 18. Jh. dem franz. radical entlehnt (Kilb, 2020, S. 28).
Aslan et al. (2018, S. 18) führen an, dass eine weitgehende Einigkeit zum Begriff Radikalisierung darin besteht, dass er eng mit Extremismus und Gewaltbereitschaft in Verbindung steht. Kilb (2020, S. 29) versteht Radikalisierung als individuellen oder kollektiven Entwicklungsprozess, welcher sich in einem extremen Verhalten und einer extremen Sichtweise äußert, einhergehend damit, dass gesellschaftliche Werte und Normen abgetan und infolgedessen durch Aktivitäten bekämpft werden. Diese extremen Entwicklungsprozesse können sich unter anderem im religiösen, politischen oder sportlichen Bereich sowie in gesundheitsbezogenen oder weltanschaulichen Bekenntnissen vollziehen (Kilb, 2020, S. 31). Nicht selten tritt gegen Ende eines Radikalisierungsprozesses eine Offenheit gegenüber extremen Überzeugungen und extremistischen Gruppen ein, wobei Gewalt als legitimes Mittel zur Zielerreichung verwendet wird (Lantermann, 2020, S. 16). Festgehalten werden muss, dass Radikalisierung nicht mit dem Begriff Terrorismus gleichzusetzen ist, denn hinter dem Begriff Radikalisierung muss sich nicht zwingend etwas Negatives verbergen (Biene et al., 2017, S. 120, zitiert nach Koc, 2019, S. 11). Historisch rückblickend wird nämlich auch auf die Notwendigkeit und Richtigkeit des radikalen Ansatzes hingewiesen. Die sogenannten Radikalen schafften es demnach, neue Denkansätze herbeizuführen. Ersichtlich ist dies in der Abschaffung des Sklavenhandels sowie in der Einführung des Frauenrechts (Halbhuber-Gassner, Kappenberg, 2020, S. 8).
1.2 Extremismus
Diese Arbeit bezieht sich auf die Radikalisierung im politischen sowie im religiösen Kontext, in der Gewalt, Hass, Aggression und Menschenfeindlichkeit existieren. Aus diesem Grund wird nachfolgend der Begriff Radikalisierung in seiner Bereitschaft zu Gewalt und Extremismus, welcher sich individuell oder verhaltensbasiert einer Ideologie anpasst, mit der Abzielung, ein gesellschaftliches Ordnungssystem grundsätzlich zu verändern, herangezogen (Biene et al., 2017, S. 120, zitiert nach Koc, 2019, S. 11f.). Radikalisierung am Endpunkt wird nach Ceylan, Kiefer (2018, S. 41) als Extremismus bezeichnet, welcher sich im kognitiven Extremismus oder im gewaltbereiten Extremismus äußern kann.
Die Definition von Radikalisierung macht deutlich, dass es sich mehr oder weniger um einen Prozess handelt, durch den Betroffene infolgedessen zu Extremist*innen werden können. Der kognitive Extremismus äußert sich im Hinblick auf Zielsetzungen und Ideologien, welche im Widerstand zu den herrschenden Überzeugungen einer Gesellschaft stehen. Der gewaltbereite Extremismus umfasst die Methoden und Mittel der Akteur*innen, um eine Verwirklichung ihrer Ziele herbeiführen zu können. Dies kann sich in Form von Straßengewalt, Hassverbrechen oder terroristischer Gewalt äußern (Neumann, 2017, S. 43 ff.) In Deutschland gelten extremistische Gruppierungen als verfassungsfeindlich. Radikalismus hingegen kann als eine im Grundgesetz zugesicherte Meinungsfreiheit angesehen werden (Quent, 2016, S. 33). Der Begriff Extremismus wird nach Quent als die Tendenz zu einer Gesinnung, der es aus welchen Gründen auch immer, nicht mehr um die humane und menschennah zu vertretende Sache als vielmehr um eine unerbittliche Haltung geht, die, wirklichkeitsblind und fanatisch, unter keinen Umständen zu Kompromissen, Reformen, Konzessionen bereit ist‘‘ (Quent, 2016, S. 33). verstanden.
1.2.1 Rechtsextremismus – als politisch begründete Radikalisierung
Unter dem Begriff des Rechtsextremismus werden Strömungen oder Bestrebungen verstanden, welche häufig mit einer Anwendung von Gewalt oder Androhung einhergehen. Derartige Bestrebungen sind es, Personen mit körperlichen Merkmalen wie Körperbau, Haarbeschaffenheit oder Hautfarbe, anderer Herkunft oder anderer religiöser oder sexueller Orientierung, auszugrenzen, weil diese nicht der gültigen Standardnorm entsprechen. Im Extremfall befindet sich in deren Ideologie die Vorstellung, diese Menschen auszurotten (Butterwegge, 2002, S. 22). Als rechtsextrem werden jene Akteur*innen verstanden, welche in ihren Verhaltensweisen, Einstellungen oder Aktionen von einer ,,ethnisch begründeten sozialen Ungleichheit der Menschen ausgeht.‘‘ (Koc, 2019, S. 14). Rechtsextremismus beinhaltet unter anderem das Befürworten von rechtsautoritären Diktaturen sowie Ausländerfeindlichkeit, aber auch das Verharmlosen des Nationalsozialismus (Köttig, 2011, S. 345). Weiteren gilt die Gewaltanwendung als legitimes Mittel dafür, politische Ziele zu erreichen und soziale Konflikte auszutragen (Glaser et al., 2015, S. 37). Zum einen kann Rechtsextremismus über die Verhaltensebene erfolgen, wie beispielsweise über das Wahlverhalten, über die aktive Ausübung von Gewalt, über Proteste und Provokationen oder über die Mitgliedschaft in rechtsextremistischen Vereinen und zum anderen über die Einstellungsebene, welche eine Verinnerlichung von rechtsextremen Ideologien umfasst. Zu rechtsextremen Ideologien zählen unter anderem der Nationalismus, welcher sich durch seine feindselige Haltung gegenüber anderen Völkern oder Staaten zeigt, der Antisemitismus, welcher als sogenannte Ausdrucksform für rassistisches Denken fungiert sowie eine generelle Fremdenfeindlichkeit. Rechtsextremismus lehnt die Vorstellung einer rassischen und ethnischen Gleichheit ab und lebt die Ideologie, dass nicht alle Menschen den gleichen Anspruch und die gleichen Rechte haben (Salzborn, 2015, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 42ff.). Sie lehnen den Multikulturalismus ab und weisen eine tiefgreifende Feindschaft gegenüber demokratischem Denken und Handeln auf (Koc, 2019, S. 44f.).
Nach einigen Recherchen im Internet zu rechtsextremen Vorfällen, werden im Folgenden kurz 3 rechtsextreme Geschehnisse erläutert.
Am 19. Februar 2020 wurden in Hanau neun Menschen getötet, mit der Begründung, dass sie Muslime und somit Nicht-Deutsche sind. Vom Täter wurden Aufnahmen im Internet gesichtet, wo er über Kulturen sprach, welche, so der Täter, zu eliminieren seien.
Am 09. Oktober 2019 versuchte ein rechtsextremer Täter in die Synagoge in Halle einzudringen, um dort ein Massaker anzurichten. Der Täter scheiterte an der Türe und erschoss daraufhin willkürlich eine Passantin und einen Gast in einem Dönerladen, unmittelbar in der Nähe der Synagoge. Am 15. März 2019 wurden in zwei Moscheen in Neuseeland 51 Menschen aufgrund ihres Glaubens hingerichtet. Drei rechtsextreme Terrorakte innerhalb eines Jahres (Musyal, Stegemann, 2020, o.S.).
Derartige Strafbegehen zeigen, wie weit Menschen mit manifest rechtsextremen Ideologien bereit sind, zu gehen.
1.2.2 Salafismus – als religiös begründete Radikalisierung
Salafismus, im arabischen Salafiyya, wird unter dem Ausdruck salaf as-salih festgehalten, welcher übersetzt ,die frommen Altvorderen‘ bedeutet. Unter salaf as-salih werden die ersten drei Generationen der Muslime verstanden. Aktuelle Strömungen des Salafismus können dahingehend definiert werden, dass Gesellschafts- und Religionsvorstellungen aus der Frühgeschichte des Islams gelebt werden, welche etwaige Abweichungen kaum oder gar nicht zulassen. Dem zugrunde liegend, soll die Heilige Schrift des Koran und der Sunna wortwörtliche Verwendung finden. Der Salafismus kennzeichnet sich durch eine Reinheit der Lehre aus. Damit ist gemeint, dass nicht-islamistische Einflüsse oder Bestandteile im gesellschaftlichen und religiösen Verständnis ausgeschlossen bleiben. Gegenwärtig handelt es sich beim Salafismus mehr um eine heterogene Bewegung als eine einheitliche Organisation, welche sich in politischer oder terroristischer Weise austragen kann. Die Anhänger des politischen Salafismus fordern die Gleichheit beziehungsweise eine Umorientierung des Staates oder der Gesellschaft im Sinne ihrer Deutung zum Islam. Der Unterschied zum terroristischen Salafismus besteht in der Frage der Gewaltanwendung. Anhänger des terroristischen Salafismus kennen Gewalt als legitimes Mittel an, um die eigenen religiösen Einstellungen im Gesellschaftsgeschehen zu realisieren. Abweichler oder Verräter sind zunehmend körperlicher Gewalt oder gar dem Tod ausgesetzt (Pfahl-Traughber, 2015, o.S.). Die puristische Reformbewegung innerhalb des Osmanischen Reiches im 17. Jahrhundert verfolgte den Glauben, dass der Genuss von Kaffee, Tabak, Wein sowie Musik, Singen und Tanzen als unmoralisch anzusehen sei. Besuche an Heiligengräbern und deren Verehrung waren verpönt, da davon auszugehen war, dass Heilige dadurch unerlaubterweise in die Nähe von Gott rückten. Charakteristisch für den Salafismus sind diese Einstellungen noch heute, mit Ausnahme der Ablehnung des Kaffeegenusses (Bauknecht, 2018, o.S.). Wahhabismus, unter der Gründung von Ibn Abd al-Wahhab, teilt, wie der Salafismus heute, das Verständnis von Monotheismus und die damit einhergehende Abneigung gegenüber Nichtmuslimen, Sufis und Schiiten. Monotheismus bedeutet hierbei den Glauben an einen allumfassenden Gott (Bauknecht, 2018, o.S.). Salafist*innen orientieren sich demnach kompromisslos an der islamischen Frühzeit vor 1.400 Jahren. Westliche Systeme sowie weltliche Gesetze werden strikt abgelehnt, frühislamische Gesellschafts- und Herrschaftsformen hingegen finden ihre Befürwortung. Personen, welche einer salafistischen Ideologie folgen, streben einen einheitlichen Staat und eine einheitliche Religion an (Bayrisches Netzwerk für Prävention und Deradikalisierung, o.D., o.S.). Für Salafist*innen, die dazu neigen, Gewalt auszuüben, steht oftmals das Gefühl nach Gerechtigkeit an oberster Stelle. Viele von ihnen glauben daran, dass ihre Weltordnung die einzig richtige und gerechte sei. Ihr Alltag bewegt sich zunehmend in relativ geschlossenen Gruppen, wodurch das Gefühl von Sicherheit, was das eigene Denken betrifft, täglich verstärkt wird. Durch die klar definierte Positionierung der gruppeninternen Ideologie findet die eigene Identität mit ihrer salafistischen Ideologie zunehmend Anerkennung und Akzeptanz. Dahingehend steigt der Druck nach Konformität innerhalb der Gruppe (Uslucan, 2020, S. 30f.). Auswertungen zufolge werden terroristische Anschläge zu 95% in Gruppen ausgeführt (Doosje et al., 2016, o.S., zitiert nach Uslucan, 2020, S. 31). Nicht zuletzt gilt der Dienst einer heiligen Sache für viele Betroffene als Lückenfüller ihrer bisherigen als sinnlos erlebten Welt, wie folgendes Zitat von Buchta (2017, S. 151) zeigt.
Sobald sie einmal in die Welt des IS eingetaucht sind, sind sie kaum mehr zu erreichen. Sie leben dann in der ,,Erlebniswelt Dschihad‘‘. Die Internetpropaganda berichtet in jugendgerechter Sprache live aus dem Krieg, sie macht aus den Kämpfern Helden, ästhetisiert die Gewalt. Vor allem macht sie Jugendlichen, die sonst kaum wahrgenommen werden, klar, dass beachtet wird, wer in den Dschihad nach Syrien zieht (Buchta, 2017, S. 151).
Nachfolgend wird gezeigt, wie sich der Salafismus in Österreich entwickelte. Salafismus oder genauer gedeutet der Islam, wird in Österreich als Körperschaft im öffentlichen Recht anerkannt. Somit kann gesagt werden, dass Österreich muslimischen Gruppen eine günstige Ausgangslage ermöglicht (Aslan et al., 2018, S. 68).
Bereits in den 1990er Jahren wurde der salafistische Islam mit wahhabitischem Vorbild durch die Migrationsbewegungen nach Österreich transportiert. Ausschlaggebend dafür waren einerseits der Zerfall des ehemaligen Jugoslawiens und andererseits der Krieg in Bosnien und der Konflikt in Tschetschenien. Dem nachgehend sind Mitte der 2000er Jahre vermehrt österreichisch-salafistische Gruppierungen entstanden, welche vorwiegend von jungen Männern dominiert werden. Durch das neue Integrationsgesetz in Österreich von 2017, sind Koranverteilungen von radikalen Gruppen österreichweit verboten. Mohammed Mahmoud, eine wesentlich bekannte Person in der salafistischen Szene in Österreich, gründete 2005 die Islamische Jugend Österreichs (Aslan et al., 2018, S. 70fff.). 2007 wurde Mohammed gemeinsam mit seiner Ehefrau wegen ,,Bildung und Förderung einer terroristischen Vereinigung‘‘ (Jusline, 2008, o.S.) festgenommen und zu 4 Jahren Haft verurteilt (Bobi et al., 2007, o.S.). Nach seiner Verbüßung der Freiheitsstrafe gründete Mahmoud in Deutschland die dschihadistische Bewegung Millatu Ibrahim. Einer der Mitglieder dieser Organisation war Denis Cuspert, welcher später für den IS in Syrien aktiv war. Aus einem Videoausschnitt konnte entnommen werden, dass ihre demokratiefeindliche Einstellung wie folgt ausgesehen hat:
Die Leute, die die Gesetze machen, die sind die Schlimmsten. (…) Wie kann ich auf so `ne Leute ihre Gesetze hören. (…) Und diese anderen Politiker, die sind alle Dreck. Haben nichts anderes zu tun als Muslime zu unterdrücken, die Muslime schlechtzumachen. (…) Wir sind die Medizin. Der Islam ist die Medizin. Die Scharia ist die Medizin gegen die Krankheit Demokratie und Integration und diese westliche Ideologie. Und daher rufe ich zu (…) Jihad auf (Bundesministerium des Innern, 2012, S. 235).
Die Argumentationen, wie aus diesem Zitat ersichtlich, sind gängige Praxis in der Szene des Salafismus. Für sie zählen lediglich Gesetze Gottes. Durch ein verschärftes Vorgehen seitens der österreichischen Behörden, wurden Vertreter radikaler salafistischer Glaubensgruppen zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt. Ob sich dahingehend ein nachhaltiger Effekt erzielen lässt, bleibt offen. Zukünftige Geschehnisse hängen des Weiteren vielfach von den Entwicklungen in muslimischen als auch nicht-muslimischen Ländern ab (Aslan et al., 2018, S. 74, 77).
1.2.3 Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Rechtsextremismus und Salafismus
Beide Ideologien haben den gemeinsamen Wunsch nach einer für sich gewünschten Staatsform. Salafist*innen wünschen sich ein System, in welchem lediglich den Kalifen, also den Stellvertreter des gesandten Gottes gefolgt wird. Sie leben die Ideologie, dass die Religionszugehörigkeit ausschlaggebend dafür ist, welche Rechte einem Menschen zustehen oder nicht. Der Rechtsextremismus wünscht sich einen Führerstaat, dem Treue und Gehorsamkeit gegenübergebracht wird. Salafist*innen erkennen alle Nicht-Gläubigen als Feinde an, für Rechtsextremist*innen stellen Ausländer*innen und Menschen mit Migrationshintergrund sogenannte Feindbilder dar (Koc, 2019, S. 101). Ein wesentlicher Unterschied beider Ideologien hingegen besteht darin, dass für Salafist*innen soziale Merkmale kein zwingendes Ausschlusskriterium darstellen, um in salafistische Gruppen einzutreten. Für sie ist es wichtig, dass der Glaube angenommen wird. Rechtsextremismus hingegen, einhergehend mit seiner rassistischen Denkweise und Ausländerfeindlichkeit, sieht in der ethnischen Zugehörigkeit ein wesentliches Ausschlusskriterium, ob jemand in rechtsradikalen Gruppen Fuß fassen kann beziehungsweise darf (Koc, 2019, S. 102).
2 Theoretische Erklärungsansätze zu Radikalisierung
Dieses Kapitel setzt sich mit theoriegestützten Erklärungsansätzen zum Thema Radikalisierung auseinander. Es soll dazu verhelfen, das Phänomen Radikalisierung besser zu verstehen. Infolgedessen wird auf verschiedene theoretische Erläuterungen Bezug genommen, anhand derer Radikalisierungsprozesse beschrieben und Auslöser dafür angeführt werden.
2.1 Auslöser für Radikalisierung auf Makro-, Meso- und Mikroebene
Diverse Disziplinen wie Soziologie, Politikwissenschaft, Kriminologie und Psychologie, beschäftigen sich bereits seit längerem mit dem Phänomen der Radikalisierung. Erklärungsmodelle dafür, welche Ursachen Radikalisierung hat, lassen sich in Makro-, Meso- Mikroebene unterteilen. Um einen Überblick darüber zu schaffen, was Mikro-, Meso- und Makroebene bedeutet, wird im Folgenden kurz auf die Begrifflichkeiten eingegangen. Die Makroebene in der Sozialen Arbeit definiert das Gesellschaftliche.
Im Hinblick auf Radikalisierung kann in der Makroebene davon ausgegangen werden, dass Radikalisierung durch Ungleichheiten in der Gesellschaft, gesellschaftliche Ideologien oder durch nationale und internationale Konflikte oder Kriege entstehen kann. Auf der Mesoebene richtet sich der Blick hingegen auf Gruppen. In dieser Thematik kann in der Mesoebene davon ausgegangen werden, dass radikalisierte Jugendliche durch eine Beteiligung in radikalen Szenen beispielsweise Gefühle der moralischen Verpflichtung bekommen oder inhaltliche Angebote, wie beispielsweise dieselbe Ideologie zu teilen. Die Mikroebene hingegen befasst sich mit dem Individuum alleine – sie fragt nach dem Grund im Individuum selbst. Beispiele hierfür könnten eine aktive Suche nach Sinn oder nach einer Gemeinschaft sein sowie negative politische Erfahrungen, welche zu einer Veränderung im eigenen Denken führen (Bögelein et al., 2017, S. 374).
2.1.1 Makroebene
Im ersten Ansatz wird Radikalisierung auf der Makroebene beleuchtet, wo davon ausgegangen wird, dass individuelle und kollektive Erfahrungen mit Unterdrückung und Diskriminierung innerhalb der Gesellschaft dazu führen können, dass zunehmend politischer Widerstand und Gewaltbereitschaft gelebt wird. Leiden Individuen oder Gruppen demnach unter sozioökonomischen Benachteiligungen, kann sich das Risiko zur Radikalisierung erhöhen (Murshed, Pavan, 2009, o.S.; Veldhuis, Staun, 2009, o.S.; Awan, 2008, o.S., zitiert nach Aslan et al., 2018, S. 23f.). Eine weitere Annahme verweist auf die zunehmende Globalisierung und Verbreitung von Massenmedien, wodurch schneller und einfacher (radikale) Ideologien verbreitet werden können (Veldhuis, Staun, 2009, o.S., zitiert nach Aslan et al., S. 24). Im Hinblick auf die zunehmende Radikalisierung sieht Soziologe Khosrokhavar eine Begünstigung vor allem in den Lebensbedingungen von Individuen, welche in Ghettos europäischer Städte aufwachsen, und andererseits in der zunehmenden gesellschaftlichen Chancenlosigkeit, die den Eindruck vermittelt, dass die Türen für Zukunftsperspektiven verschlossen bleiben (Khosrokhavar, 2016, o.S., zitiert nach Aslan et al., 2018, S. 24f.).
2.1.2 Mesoebene
Aus Studien, welche sich auf Mesoebene mit dem Phänomen Radikalisierung beschäftigt haben, ist zu entnehmen, dass sogenannte radikale Milieus vielfach auf Instanzen wie Gruppen, Organisationen, Netzwerke oder Freundschaften zurückzuführen sind. Gemeinsamkeiten liegen in der radikalen Ideologie. Wird dieselbe Ideologie gelebt, so entsteht zunehmend das Gefühl von Zugehörigkeit (Aslan et al., 2018, S. 25).
2.1.3 Mikroebene
Auf individueller Ebene, also auf der Mikroebene, konnte festgestellt werden, dass Gefühle von gesellschaftlicher Entfremdung, das Fehlen von sozialen Normen und damit einhergehend Gefühle von Sinn- und Ziellosigkeit in Zusammenhang mit Radikalisierung stehen. Betroffene versuchen diese Gefühlsleere mittels Ideologien zu füllen, welche bis hin zu radikalen Interpretationen führen können (Awan, 2008, o.S., zitiert nach Aslan et al., 2018, S.27). Des Weiteren kann auf individueller Ebene die Hypothese der Desintegration sowie die des Modernisierungsverlierers herangezogen werden, welche vorwiegend für die Erklärung von Rechtsextremismus entwickelt wurde. Sie beinhaltet zwei wesentliche gesellschaftliche Prozesse, nämlich die Individualisierung und die relative Deprivation (Beelmann, 2019, S. 191). Der Begriff Deprivation stammt vom lateinischen und findet seinen Ursprung in der Psychologie, er bedeutet ,,Entzug von Liebe u. Zuwendung‘‘ (Duden, 2013, S. 317). Individualisierung hierbei deutet auf die zunehmende Selbstständigkeit des eigenen sozialen Status hin, welcher ausgelöst wird durch die vermehrte Auflösung von traditionellen Milieus, Institutionen oder Gruppen. Damit einhergehend ist vermehrt eine individuelle Flexibilität und Adaptionsfähigkeit gefragt. Von Modernisierungsverlierern ist die Rede, wenn Personen diese Fähigkeiten fehlen und sie genau dadurch in relativer Deprivation verharren. Zu oft kommt der Vergleich mit der Vergangenheit. Diese Personen neigen zu nationalistischer und radikaler Politik, mit dem Wunsch nach einer Rückkehr zur einst traditionellen und gemeinschaftlichen Gesellschaft. Demnach kann gesagt werden, dass Radikalisierung durch mangelnde gesellschaftliche Integration ausgelöst werden kann. Weiters besteht die Annahme, dass die damit assoziierte Ausländerfeindlichkeit als Abwehrreaktion auf die nationalstaatlichen Entwicklungen, wie beispielsweise die europäische Integration, Globalisierung oder die zunehmende Migration und Zuwanderungspolitik, gesehen werden kann (Beelmann, 2019, S. 191). Aus politischen Akteur*innenkreisen geht hervor, dass ebenso politische Unzufriedenheit sowie Statusverlustängste zu Radikalisierung führen können (Best et al., 2016, o.S.; Lubbers et al., 2002, o.S., zitiert nach Beelmann, 2019, S. 192). Vor allem dann, wenn dem Staat zu wenig Zutrauen geschenkt wird, kann es passieren, dass Ideologien mit anderen Einstellungen und Werten zunehmend unterstützt werden (Beelmann, 2019, S. 192).
2.2 Radikalisierungsprozess nach Beelmann
In dem entwicklungsorientierten Modell von Beelmann (2019, S. 196) wird davon ausgegangen, dass kognitive, motivationale und soziale Prozesse ausschlaggebend für die Übernahme extremistischer Einstellungen sind. Diese Prozesse beruhen wiederum auf bestimmten ontogenetischen Entwicklungen, welche beeinflusst werden durch individuelle, soziale und gesellschaftliche Faktoren. Die folgende Abbildung verdeutlicht die drei Prozessstufen des Modells sowie die darin enthaltenen Faktoren für Radikalisierung.
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung1: Überblick zum entwicklungsorientierten Modell der Radikalisierung (Beelmann, 2019, S. 197)
Wie in der Abbildung ersichtlich, beruht Radikalisierung auf drei Prozessstufen. Als erste Entwicklungsstufe wird der ontogenetische Entwicklungsprozess angeführt, die zweite Stufe definiert den proximalen Radikalisierungsprozesse und als Endergebnis werden die extremistischen Einstellungen und Handlungen angeführt. Dieses Modell beruht auf der Annahme, dass sich aufgrund ungünstiger Entwicklungsprozesse im Lebenslauf individuelle Radikalisierung charakterisieren lassen. Des Weiteren werden die Begriffe politischer und religiöser Extremismus als Ergebnis einer problematischen Sozialentwicklung gesehen (Beelmann, 2019, S. 197). Die verschiedenen Entwicklungsstufen finden im weiteren Abschnitt ihre genauere Ausführung.
2.2.1 Ontogenetische Entwicklungsprozess
In der ersten Stufe werden Entwicklungsprozesse genannt, welche zwischen der frühen Kindheit bis circa 20 Jahren durch Risiko- und Schutzfaktoren gekennzeichnet sind. Unter Risikofaktoren werden hierbei soziale, gesellschaftliche und individuelle Merkmale genannt, welche in einem kausalen Zusammenhang mit radikalen und extremistischen Handlungen und Einstellungen stehen. Schutzfaktoren hingegen sind Faktoren, welche einen Ausgleich der Wirkungen eines Risikofaktors herbeiführen können. Ontogenetische Entwicklungen, oder auch lebenslaufbezogene Entwicklungen genannt, verstehen sich als das Ergebnis von Reziprozität zwischen den beiden Faktoren (Beelmann, 2019, S. 197f.). Soziale Risikofaktoren können einerseits aus der familialen Sozialisation kommen, wenn beispielsweise familiäre Konflikte auftreten, sich elterliche Vorurteile gegenüber Ausländer*innen vorfinden oder eine ausbleibende Wertevermittlung vorhanden ist. Und andererseits können die eigenen Erfahrungen mit Diskriminierung oder sogar Gewalt ausschlaggebend für einen radikalen Entwicklungsprozess sein. Auf gesellschaftlicher Ebene kann das Manifest der Radikalisierung vorwiegend durch Desintegration in die Gesellschaft zustande kommen. Das Gefühl von unsicheren Zukunftsperspektiven kann infolgedessen zu eben genannten Statusverlustängsten führen. Festzuhalten ist auch die zunehmende Verbreitung gewaltlegitimierender Ideologien. Als individuelle Risikofaktoren werden Defizite in der eigenen Moralentwicklung oder in kognitiven Grundfertigkeiten genannt, dissoziale Entwicklungen oder aber Erfahrungen mit Ausgrenzung. Umso wichtiger sind Schutzfaktoren, um präventiv gegen Radikalisierung vorzugehen. Das sind beispielsweise eine hohe Selbstkontrolle, Anerkennung von außen, positive Grundhaltungen zur Gesellschaft sowie positive Erfahrungen im Hinblick auf politische Werte (Beelmann, 2019, S. 199). Überwiegen zum meisten Teil die Risikofaktoren gegenüber den Schutzfaktoren, kann dies mit steigender Wahrscheinlich zu einem proximalen Radikalisierungsprozess führen (Beelmann, 2019, S. 200).
2.2.2 Proximaler Radikalisierungsprozess bis hin zur Übernahme politischer oder religiös extremistischer Einstellungen
Im Schritt Zwei des Entwicklungsmodells befindet sich der proximale Radikalisierungsprozess, welcher als notwendige Voraussetzung für die Entstehung politischer oder religiöser Extremismus festgehalten werden kann. Die proximalen Prozesse bilden sozusagen den Kern von Radikalisierung und finden meistens im Alter zwischen 14 und 30 Jahren statt (Beelmann, 2019, S. 22). Nach Borum (2014, o.S.) zitiert nach Beelmann (2019, S. 200) radikalisieren sich in diesem Alter 90% aller extremistischen Straftäter*innen.
Proximale Radikalisierungsprozesse beinhalten Identitätsprobleme, Vorurteilsstrukturen, politische oder religiöse Ideologien sowie Dissozialität, welche einen wesentlichen Einfluss auf extremistische Handlungen und Einstellungen darstellen. Unerfüllte Wünsche nach Anerkennung können Auslöser für Identitätsprobleme sein (Beelmann, 2019, S. 201). Diese können das Gefühl von Ungerechtigkeitsempfinden, Bedeutungslosigkeit und Marginalisierung entwickeln (Kruglanski et al., 2014, o.S., zitiert nach Beelmann, 2019, S. 201). Unter Vorurteilsstrukturen werden Prozesse verstanden, bei denen Personen eine abwertende Haltung gegenüber fremden sozialen Gruppen wie beispielsweise Ausländern oder Flüchtlingen aufweisen. Politische oder religiöse Ideologien können als Rechtfertigung für die Einsetzung illegitimer Mittel wie beispielsweise Gewalt verwendet werden. Eine gesellschaftliche Akzeptanz in Bezug auf bestehende Gruppen, welche politische oder religiöse Ideologien vertreten, stellen eine große Gefahr für den Radikalisierungsprozess dar. Der Prozess der Dissozialität kennzeichnet sich durch eine fehlende Entwicklung sozialer Regeln und Normen sowie durch Aggression und Straffälligkeit. Treten bereits im Vorschulalter Auffälligkeiten auf, deutet dies auf ein erhöhtes Risiko hin. Auch sind es deviante Gruppen im Jugendalter, welche einen großen Einfluss auf die Radikalisierung haben können. Die meisten dieser Prozesse werden individuell, vermehrt jedoch in Gruppenkontexten ausgelöst (Beelmann, 2019, S. 201ff.). Das Risiko, dass extremistische Einstellungen entstehen, steht in Abhängigkeit zur Ausprägung dieses proximalen Radikalisierungsprozesses. Es kann gesagt werden, je stärker diese Prozesse vorliegen, desto höher ist das Risiko, dass sich extremistische Einstellungen (Stufe 3) manifestieren (Beelmann, 2019, S. 203).
3 Radikalisierung im Jugendalter
Dieses Kapitel behandelt den Problemaufriss der Radikalisierung im Jugendalter, weil gerade in dieser Lebensphase ein erhöhtes Risiko besteht, sich extremistischen Gruppen anzuschließen beziehungsweise radikale Einstellungen zu manifestieren. Infolgedessen werden die typischen Merkmale der Lebensphase Jugend erläutert sowie Erklärungen dafür, wie Radikalisierung bei Jugendlichen entsteht, angeführt. Unterschieden wird hierbei zwischen der Radikalisierung im Hinblick auf den Rechtsextremismus und der Radikalisierung im Hinblick auf den Salafismus.
3.1 Merkmale der Lebensphase Jugend und ihre Herausforderung im Hinblick auf Radikalisierung
Zentral für die Jugendphase ist der Übergang vom abhängigen Kind zum unabhängigen Erwachsenen, welcher in drei Phasen untergliedert wird. Die erste Phase beinhaltet die frühe Jugendphase, welche mit Eintritt der Adoleszenz, im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren beginnt. Die zweite Phase, die mittlere Jugendphase, beschreibt die Entwicklung hin zum Erwachsenen und die dritte Phase, die späte Jugendphase, beschreibt die Übergangszeit in die Rolle des Erwachsenen, welche ungefähr im Alter zwischen 22 und 30 Jahren erfolgt. Die Jugendphase als eigenständige Lebensphase beinhaltet zahlreiche Entwicklungsaufgaben, welche durch ihre Bewältigung oder Nicht-Bewältigung wesentlich zum weiteren Lebensverlauf beiträgt. Die Entwicklungsaufgaben in der Jugendphase erstrecken sich von Qualifikation, Bindung über Konsum und Partizipation, um hierbei nur einige zu nennen. Zu der Entwicklungsaufgabe Qualifikation zählen intellektuelle und soziale Kompetenzen, welche zum Großteil auch für die berufliche Qualifikation ausschlaggebend sind. Bindung als Entwicklungsaufgabe beinhaltet soziale Bindungen zu Gleichaltrigen, welche einen wesentlichen Beitrag zur späteren eigenen partnerschaftlichen Beziehung beitragen. Mit Konsum als Entwicklungsaufgabe ist gemeint, dass Jugendliche ihre eigenen Bedürfnisse und den damit einhergehenden Umgang mit Konsumangeboten positiv steuern können. Gleichzeitig entwickeln sich dadurch Handlungsmuster, die wesentlich den Umgang mit Möglichkeiten und Angeboten steuern. Die letzte Entwicklungsaufgabe, Partizipation, beinhaltet die Entwicklung von Werten und Normen sowie ethischem und politischem Bewusstsein. Diese stellt die Grundlage für Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten dar. Sind diese vier Entwicklungsaufgaben erfolgreich abgeschlossen, erfolgt der Übergang von der Jugendphase zum Erwachsensein. Zunehmend von Bedeutung in der Jugendphase ist die Frage nach dem Sinn und die Suche nach Orientierung. Bereits vorhandene Wertemuster oder Weltbilder werden kritisch hinterfragt. Fehlt die Akzeptanz vorgefundener Werte und Normen, kann Verweigerung oder Protest eintreten. Entscheidend für eine positive Bewältigung dieser Entwicklungsaufgaben sind verschiedene Sozialisationsinstanzen wie Familie, Schule oder Jugendzentren. Erfahren Jugendliche wenig Unterstützung, können spürbare Entwicklungsprobleme auftreten, welche durch Strategien wie Aggression, Depression, Suchtverhalten oder Gewalt nach außen getragen werden können. Durch diese Strategien können die Jugendlichen einerseits ihre fehlende Aufmerksamkeit kompensieren oder aber gesellschaftlichen Druck abbauen. Ein erfolglos gebliebener Versuch, die Entwicklungsaufgaben positiv zu bewältigen, kann sich in Form von Risikowegen äußern, welcher dem Selbstschutz der Jugendlichen dient. Eine wesentliche Beeinträchtigung des Selbstwerts zeigt sich zumeist im aggressiven Verhalten gegenüber anderen (Hurrelmann, Quenzel, 2016, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 20ff.). Imbusch (2010, S. 7) verweist darauf, dass der Großteil aller Gewalttaten zwischen dem zwölften und 24. Lebensjahr stattfinden. Dies ist im überwiegenden Fall problematisch, da sich die Jugendlichen in ihrer Sozialisationsphase befinden, welche vielfach prägend für ihr späteres Leben ist. In dieser Lebensphase werden Regeln des Zusammenlebens gelernt, ethische und moralische Denkweisen gesetzt und Formen erlernt, welche zu einer Durchsetzung in der Gesellschaft führen. Diese Entwicklungsphase ist geprägt von Ambivalenzen, begleitet mit Selbstfindung, Persönlichkeitsentwicklung und neuen Erfahrungen (Imbusch, 2010, S. 7). Jugendliche neigen dazu, offener für neue und oft auch radikale Ideen zu sein und sehen diese als sogenannten Protest gegen die Welt der Erwachsenen oder gegen gesellschaftliche Normen und Werte. Genau das ist radikalen und extremistischen Organisationen bekannt. Bewusst versuchen diese, die Jugendlichen mitsamt ihrer Verunsicherung in der Identitätsentwicklung und ihrer Orientierungslosigkeit auszunutzen. Demnach kann es passieren, dass Jugendliche radikale Gruppen als heilsame Alternative empfinden, wodurch innere Entlastung erfahren wird (Friedmann, Plha, 2017, S. 222f.). Damit einhergehend wird den Jugendlichen durch einen Anschluss zu radikalen Gruppen das Gefühl von Zugehörigkeit und Anerkennung übermittelt. Durch die subjektiv positiven Erfahrungen der Jugendlichen kommt es dazu, dass die Angebote dieser Gruppe mehr und mehr angenommen werden. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass die Jugendlichen nicht unbedingt der gruppeninternen Ideologie folgen, sondern eher nach dem Stillen der inneren Bedürfnisse streben (Friedmann, Plha, 2017, S. 228f.). Meist sind es Jugendliche, welche im Elternhaus fehlende Geborgenheit und Akzeptanz erfahren haben. Emotionale Defizite sind demnach die Folge. Diese versuchen die Jugendlichen mit Unrecht und Gewalt zu kompensieren. Lernen die betroffenen Jugendlichen Personen kennen, die ihnen diese Akzeptanz und Geborgenheit übermitteln, schenken sie schnell vertrauen. Nach genauer Betrachtung kann auch davon gesprochen werden, dass Kinder und Jugendliche Opfer sind, welche versuchen, die Opferrolle in die der Täterrolle zu tauschen. Sie versuchen im übertriebenen Sinne, Selbstbewusstsein nach außen zu transportieren und profilieren sich innerhalb von Gruppen mit beispielsweise delinquenten Taten. Vor allem Jugendliche mit Migrationshintergrund bekommen gesellschaftliche Abwertung zu spüren und versuchen gegen diese anzukämpfen. Dieses Ankämpfen kann einerseits mit Isolation oder andererseits mit erhöhtem Engagement, gegen dieses Bild anzukämpfen, einhergehen. Oder aber die Jugendlichen suchen nach Anschluss an Gruppen oder Initiativen, welche ihnen ein Gefühl von Rückendeckung geben (Kaddor, 2015, S. 42fff.).
3.2 Wie genau werden Jugendliche radikalisiert?
Aus sozialwissenschaftlichen Befunden geht hervor, dass insbesondere Jugendliche, denen es an Strategien und Kompetenzen mangelt, anfällig für Extremes sind. Die heutige Welt und der darin verankerte Alltag beinhaltet Ungewissheit und Unsicherheit. Für viele Jugendliche erscheint das Leben immer mehr unkontrollierbar und ungewiss, wodurch die Zukunft allmählich mit einer Implikation von Bedrohung einhergeht. Es scheint als würde der Erfolg nicht unbedingt mit der getanen Leistung im Zusammenhang stehen und als würde dahingehend eine Spaltung zwischen Arm und Reich immer größer werden. Viele Jugendlichen berichten auch davon, dass das solidarische Miteinander zunehmend abnimmt. Übrig kann demnach das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Geborgenheit sein, einhergehend mit dem Gefühl ein hilfloses Opfer zu sein, welches keinen Einfluss auf die sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen hat. Was bleibt, ist eine Suche nach Zugehörigkeit, nach seinen/ihren Wurzeln, nach Orientierung, mit dem Resultat einer tiefgreifenden Selbstverunsicherung. Permanent dem Gefühl von Selbstverunsicherung ausgesetzt zu sein, ist eine große Belastung. Das grundlegende Bedürfnis nach Gewissheit und Sicherheit besteht. Um in dieser Erfahrung nicht verharren zu müssen, kann es passieren, dass eigene Sicherheiten geschaffen werden, welche mit einer Radikalisierung der eigenen Handlungen und Haltung einhergehen, bis hin zu einer hassgetriebenen, für sich entwickelten Ideologie (Lantermann, 2020, S. 11-15).
Elemente, die in den meisten Radikalisierungsprozessen bei Jugendlichen auftauchen, sind nach Neumann (2013, o.S., a) Erfahrungen mit Unzufriedenheit und Unmut, welche zumeist durch einem persönlichen Identitätskonflikt oder durch eigene Diskriminierungserfahrungen hervorgerufen werden. Des Weiteren führt Neumann die Annahme extremistischer Ideologien, welche mit einer Identifikation eines/einer Schuldigen einhergeht, sowie die Einbindung in Gruppen- und Sozialprozesse an, innerhalb derer das Gefühl von Gruppenloyalität und starken Bindungen hervorkommt und dahingehend Druck erzeugt wird, sich den Normen und Werten der Gruppen anzupassen (Neumann, 2013, o.S.). Für Böhnke (2006, S. 155) spielen Orientierungslosigkeit, Misstrauen und Pessimismus eine große Rolle, wenn es darum geht, in resignativen Einstellungen zu verharren. Er führt an, dass prekäre Lebensbedingungen Auslöser dafür sein können, dass Jugendliche beginnen, sich gegen das Gesellschaftssystem zu richten. Organisierbarer Protest ist die Folge.
3.2.1 Rechtsextremistischer Radikalisierungsprozess bei Jugendlichen
Vom Jugendforscher Farin geht hervor, dass die meisten rechtsextremen Jugendlichen aus Elternhäusern kommen, welche den Rechtsextremismus zwar ablehnen, rassistische Einstellungen jedoch als normal ansehen. Deutschlandweit sind es gut ein Drittel aller Erwachsenen, die rassistische Denkweisen benutzen (Farin, 2010, S. 22, zitiert nach Quent, 2016, S. 294). Der Prozess hin zur Radikalisierung kann nach Rommelspacher auf zufälligem Wege passieren. So kann es beispielsweise der Ort sein, an dem die Jugendlichen aufwachsen, in welchem es lediglich eine rechte Jugendgruppe gibt, oder aber es sind die Geschwister, welche sich in einer rechtsextremen Gruppe bewegen. Die zentrale Frage hierbei ist, welche Faktoren für die Jugendlichen ausschlaggebend sind, um im rechtsextremen Milieu zu verweilen. Dabei spricht Rommelspacher von einer Verfestigung der rechtsextremen Ideologie durch Gruppenerfahrung, Erlebnisse oder aber durch die Zustimmung älterer Personen, die Jugendliche zunehmend erfahren (Rommelspacher, 2006, S. 570-607, zitiert nach Quent, 2016, S. 294). Frindte und Neumann sprechen von der Wichtigkeit der familiären Situation. Sie konnten in ihren Gesprächen mit rechtsextremen Gewalttäter*innen feststellen, dass ihre familiären Bedingungen oftmals gekennzeichnet sind durch Beziehungsabbrüche, Disharmonie oder Beziehungsstörungen (Frindte, Neumann, 2001, S. 265f., zitiert nach Quent, 2016, S. 295).
Rechtsextremismus heutzutage richtet sich gezielt auf die Lebenswelt Jugendlicher, beispielsweise in Form von politisch-ideologischen Freizeit- und Unterhaltungsangeboten. Charakteristisch für den Rechtsextremismus ist die Verharmlosung und damit einhergehende Verherrlichung des Nationalsozialismus (Pfeiffer, 2017, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 45). Pfeiffer entwickelte den Begriff Erlebniswelt, welcher eine gezielte Ansprache von Jugendlichen mithilfe von verschiedenen Strategien umfasst. Unter dem Begriff Erlebniswelt werden kulturelle Räume verstanden, welche als sogenannte Fluchträume aus dem Alltag bezeichnet werden. Außeralltägliche Erlebnisse, Aktivitäten mit gemeinschaftlichem Charakter und zugesicherte Anerkennung finden hier ihren Platz. Damit die Aktivitäten eine zunehmende emotionale Ebene erhalten, kommen der Gruppendynamik sogenannte Symbole oder Codes zu, welche im Rechtsextremismus zumeist aus Zahlenkombinationen besteht. Eine dieser Zahlenkombinationen heißt 14 words, was so viel wie weiße Rasse bedeutet und auf die Wichtigkeit der Existenz von hellhäutigen Menschen hinweist. Die Zahlenkombination 88 steht für Heil Hitler, welche dazu dient die rechtsextreme Ideologie zum Ausdruck zu bringen. Durch die vielen Aktivitäten in der Gruppe bekommen die Jugendlichen zunehmend das Gefühl von Sicherheit, Selbstwirksamkeit und Überlegenheit, infolgedessen wird ihr Bedürfnis nach Anerkennung sozusagen gestillt (Pfeiffer, 2017, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 45fff.).
Im Gespräch mit einem rechtsextremen Jugendlichen
Hardtmann Gertrud (2017, S. 173), Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie und Psychoanalytikerin, führte im Rahmen eines sozialen Trainings, angeordnet vom Gericht, mehrfach Gespräche mit rechtsradikalen Jugendlichen. In den Gesprächen fielen ihr vorwiegend die Defizite im Umgang mit leidenschaftlichen Konflikten auf. Aus der angewandten Psychoanalyse kann entnommen werden, dass unverarbeitete leidenschaftliche Gefühle, wie beispielsweise Liebe und Hass, mit einem Rückzug zu sich selbst und zu anderen in Verbindung stehen. Derartige menschliche Mitteilungsbedürfnisse werden durch ,,automatenhaftes Reagieren als Abwehr gegen das Erleben von grenzenloser Einsamkeit und Traurigkeit‘‘ (Hardtmann, 2017, S. 173) ersetzt. Leidenschaft in diesem Sinne, meint die ergreifenden heftigen Emotionen, welche Gefühle von Frustration, Ärger und Angst mit sich bringen können. Dem Jugendlichen wurde vom Gericht, aufgrund rechtsextremer Straftaten, angeordnet, einmal wöchentlich an einem sozialen Training im Zuge der Bewährungsaufsicht teilzunehmen. Vorwiegend sind die Jugendlichen in autoritären Strukturen, geprägt von Unterwürfigkeit mütter- oder väterlicherseits, aufgewachsen. Gesprächs- und Diskussionsbedarf bestand in den Familien wenig bis keiner. Im Rahmen des Trainings wurde das Thema Verbrechen der Wehrmacht aufgegriffen, woraufhin ein Jugendlicher aufsprang und schrie: ,,» Wer hier etwas gegen meinen Großvater sagt, den bringe ich um.«‘‘ (Hardtmann, 2017, S. 177). Anmerkungen über seinen Großvater fanden bis dato keine statt. So scheint es, als wäre seine innere Stimme diejenige, die seinen Großvater infrage stellt. Der Jugendliche erlebte womöglich einen Zusammenbruch seiner Illusionen, die er bis dato über seinen Großvater hatte. Höchstwahrscheinlich war sein Großvater der Einzige, der sich um ihn gekümmert und mit Heldengeschichten aus dem Zweiten Weltkrieg gefüttert hat. Dahingehend liegt die Vermutung nahe, dass sein Großvater – als Kriegsheld – für den Jugendlichen auch ein Vorbild für seine rechtsradikale Einstellung war. Während des Gesprächs mit dem Jugendlichen wurde immer mehr klar, dass er mit den Gedanken, sein Großvater hätte an einem Verbrechen teilgenommen, nicht klarkam. Er wollte seinen Großvater nicht als Lügner sehen. Hardtmann sagt: ,,Da wo man liebt, ist man verletzlich, und es zerreißt einem das Herz, wenn man sich fundamental getäuscht erlebt‘‘ (Hardtmann, 2017, S. 177). Durch die leidenschaftliche Äußerung des Jugendlichen konnten zunehmend seine rechtsradikalen Wurzeln entdeckt werden. Die Sozialarbeiter*innen und Psychotherapeut*innen nahmen seine Mitteilung ernst, beruhigten ihn und versuchten dem Jugendlichen ein Gefühl von Verständnis zu übermitteln, denn genau das brauchte er in diesem Moment (Hardtmann, 2017, S. 173-178).
Aus diesem Fallbeispiel geht hervor, inwiefern der betroffene Jugendliche seine rechtsextreme Ideologie von seinem Großvater vorgelebt bekommen hat. Aufgrund dessen, dass der Großvater einer der wenigen war, der sich mit dem Jungen beschäftigte, ist sein manifestes rechtsextremes Gedankengut nachvollziehbar. Diesbezüglich muss Schritt für Schritt an einer Veränderung der Ideologie gearbeitet werden sowie Werte neu aufgerollt werden.
Dahingehende präventive als auch deradikalisierende Arbeit mit Jugendlichen findet sich anschließend im vierten Kapitel wieder.
3.2.2 Salafistischer Radikalisierungsprozess bei Jugendlichen
Eine allgemeine Erklärung dafür, wie Jugendliche in den Salafismus radikalisiert werden, gibt es nicht, da jedes Schicksal auf Individualität basiert. Was es jedoch gibt, sind Grundstrukturen. Salafist*innen erkennen schnell, wenn sich Jugendliche in prekären Verhältnissen befinden, diskriminiert werden und sich letztendlich frustriert fühlen. Dahingehend wird mit gezielten Methoden daran gearbeitet, genau diese Jugendlichen für sich zu gewinnen. Angelockt werden sie je nach individuellen Bedürfnissen. Ist ein Jugendlicher beispielsweise schwach in der Schule, wird ihm eine Hilfestellung bei den Hausaufgaben angeboten. Fühlt sich ein Jugendlicher in seiner*ihrer Rolle im Elternhaus unzufrieden, wird ein Austausch von einem*einer Gleichaltrigen angeboten. Vielfach passieren derartige Anlockungen auch über Vereine. Wurde der erste Kontakt dann geknüpft, folgen Einladungen in Moscheen oder in ihre Gemeinderäumen. Die Salafist*innen versuchen, zielführend in die Lebenswirklichkeit der Jugendlichen einzudringen. Neue Mitglieder werden gefeiert und bekommen das Gefühl als ,neue Schwester‘ oder ,neuer Bruder‘ angekommen zu sein. Ihnen wird die volle Aufmerksamkeit geschenkt, welche die Betroffenen bis dato womöglich so noch nie erfahren haben. Folglich finden unter dem Gemeinschaftsgefühl gemeinsame Freizeitaktivitäten statt, ständig begleitet unter der Flagge des Islams. Hat sich der*die jugendliche Person bereits gut in die Szene eingelebt, wird vorgeschlagen, dass er*sie auch seine*ihre Freunde mitbringen kann. Daraus entstehen meist kleine Gruppen. Bei salafistischen Veranstaltungen entsteht dann meist das Gefühl von eingeschworener Gemeinschaft und der Dazugehörigkeit. Ab diesem Punkt kommt es darauf an, ob die Jugendlichen im gesellschaftlichen Umfeld Festigung erfahren haben oder stets nach neuer Orientierung und Halt suchen (Kaddor, 2015, S. 58-64). Eine Analyse des deutschen Bundeskriminalamts ergab, dass der soziale Nahraum bei 41%, aus insgesamt 480 untersuchten Fällen, eine bedeutsame Rolle im Radikalisierungsprozess spielt (Bundeskriminalamt, 2016, o.S., zitiert nach Fabris, 2018, S. 21).
Neben der eben angeführten Gruppenidentität, als Verstärkung zur Hinführung von Radikalisierung, spielt ebenfalls das Internet, als Quelle der Information, eine immer wichtigere Rolle. Extremistische Vereinigungen wie beispielsweise der Islamische Staat nutzen gezielt das Internet, um Jugendliche in ihren Bann zu reißen. Auch hierbei fungieren Themen aus der Lebenswelt oder aktuelle Netztrends als Türöffner für das Andocken bei den Jugendlichen. Der Islamische Staat versucht zunehmend, das Ungerechtigkeitsempfinden der Jugendlichen zu aktivieren, indem Videos von leidenden Muslimen veröffentlicht werden (Fabris, 2018, S. 20f.).
Das folglich angeführte Fallbeispiel Ismail zeigt einen Einstieg in die salafistische Szene eines Jugendlichen. Inwiefern die Praxis mit der Theorie einhergeht, wird zwischendurch angeführt.
Fallbeispiel Ismail
Ismail, geboren 1998 in Tschetschenien, verbrachte, aufgrund der Kriegszustände, die ersten 6 Jahre seines Lebens gemeinsam mit seinen Eltern vorwiegend im Keller. 2004 flüchtete die Familie nach Österreich. Das Leben in einem neuen Land verstärkte bei Ismail das Gefühl von Unsicherheit. Er musste sich einer neuen Sprache, einer neuen Kultur sowie neuen sozialen Normen anpassen, verbunden mit einer finanziellen Not. Die erste Zeit in Österreich verbrachte die Familie in einer Flüchtlingsunterkunft, bis sie vor Beginn der zweiten Volksschule nach Wien übersiedelten. Ismail verbrachte die meiste Zeit damit, Computerspiele zu spielen. Schilderungen der Eltern zufolge war Ismail bis zur dritten Klasse Hauptschule ein unauffälliges Kind gewesen. Öffentliche Gefühle gegenüber dem Kind sind nach tschetschenischer Tradition verpönt. Ismail hatte keine Gelegenheit, offen mit seinem Vater über seine Gefühle zu sprechen. Einen Wendepunkt in Ismails Leben stellte der Beginn von Gewaltbereitschaft dar (Aslan et al., 2018, S. 97-105).
Ja, die erste, meine allererste Schlägerei war im Klassenzimmer. Da ist ein Junge mich angegangen und ich habe zurückgeschlagen. Das war meine erste Schlägerei. Und danach bin ich mit anderen in den Park gegangen. Ich hatte nach dieser Schlägerei mehr Freunde und so (Aslan et al., 2018, S. 105).
Zentral für seine weitere Biografie ist hierbei Ismails letzter Satz. Er konnte durch die Ausübung von Gewalt einen respektvolleren Umgang seitens der Klassenkameraden erfahren und wurde demnach stärker akzeptiert als vorher. Daraus lässt sich schließen, dass für Ismails ,neue Freunde‘ Stärke und Männlichkeit als zentrale Elemente für die eigene Gruppenidentität geltend waren. Im weiteren Verlauf verbrachte Ismail die meiste Zeit in dieser Gruppe. Er begann zu rauchen, Marihuana zu konsumieren und es folgten vermehrt Anzeigen wegen Körperverletzung sowie zwei Gefängnisaufenthalte. Während seines zweiten Gefängnisaufenthaltes lernte Ismail zwei weitere Gefangene kennen, mit denen er vorwiegend über Religion sowie über den Islamischen Staat sprach. Einer davon befand sich bereits in Syrien in Haft, weil er sich einer terroristischen Vereinigung anschloss. Ismail begann, zunehmendes Interesse an der Religion seiner Mitinsassen zu entwickeln und fing an, diese auch fortlaufend zu praktizieren, indem er anfing zu beten und zu fasten, denn er hatte gerade in dieser Zeit Sehnsucht nach einer Veränderung seiner Lebensweise. Den Glauben in Veränderung fand er augenscheinlich in der Religion des Islams (Aslan et al., 2018, S. 105-113). damals haben wir die ganze Zeit gekifft und sind in Discos gegangen, haben geraucht und solche Sachen. Und als ich jetzt rausgekommen bin, hatte ich keine Lust mehr auf so etwas. Und dann bin ich nur noch in die Moschee gegangen. So habe ich angefangen, mich für meine Religion zu interessieren. Ich habe über meine Religion gelernt (Aslan et al., 2018, S. 113).
Das Hinter-sich-lassen seiner bisherigen Gewohnheiten war begleitet von einem Gefühl der Leere und so gab ihm die Religion eine neue Lebensstruktur mitsamt Geboten und Verboten vor, an welcher er sich festhalten konnte. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurden auch seine Freunde in die Religion des Islams involviert. Vermehrt fanden Besuche in Moscheen statt (Aslan et al., 2018, S. 113-118).
Ja wir sind in der Moschee gewesen. Die haben uns viele Sachen erzählt. Und die haben gesagt: ,,Wenn ihr fahren wollt, können wir euch mitnehmen.‘‘ Aber wir haben gesagt: ,,Nein, wir wollen nicht fahren. Wir sind nicht bereit für solche Sachen.‘‘ Wir sind dann weggegangen von der Moschee. Ich habe gesehen, wie ein Freund von mir mitgenommen wurde. Und sie sind in ein Auto eingestiegen und gefahren. Ein paar Tage später hat er von Syrien angerufen. Das geht einfach sehr schnell. Die tun die hier nicht genug ausbilden. Die gehen einfach in eine Moschee, suchen sich ein paar aus, nehmen die einfach mit. Manchmal entführen sie die auch (Aslan et al., 2018, S. 118f.).
Ismail erzählt davon, dass vermehrt derartige Manipulationen und Anlockungen im Zuge eines Besuchs in Moscheen stattgefunden haben. Vorwiegend fanden diese in einer Moschee Nähe des Pratersterns statt, welche als Treffpunkt für die salafistische Szene bekannt war. Diese Moschee musste bereits geschlossen werden, da viele Syrienkämpfer*innen sich darin aufhielten (Aslan et al., 2018, S. 119f.).
Dieses Fallbeispiel macht deutlich, wie eine Radikalisierung in die salafistische Szene von Statten gehen kann. Durch mangelnde Aufmerksamkeit in der Schule und wenig Zugehörigkeitsgefühl von Zuhause fand Ismail für eine Zeit lang seine Erfüllung in der Religion.
4 Prävention und Deradikalisierung im Rahmen der Sozialen Arbeit und angebotene Programme
Die theoretischen Ansätze und methodischen Zugänge für die Arbeit mit rechtsextremen und salafistisch-orientierten Jugendlichen zeigen deutlich die Wichtigkeit der Sozialen Arbeit, um diesem Phänomen entgegenzuwirken. Zumeist tritt ein Radikalisierungsprozess dann in Gange, wenn jugendphasenspezifische Probleme oder aber auch Diskriminierungserfahrungen bei den Jugendlichen auftreten. Für die Soziale Arbeit bedeutet das, die Jugendlichen gezielt auf dem Weg ihrer Entwicklungsaufgaben zu begleiten, sie zu unterstützen sowie Diskriminierung und Benachteiligung zu thematisieren. Hierfür ist eine Kooperation mit anderen Sozialisationsinstanzen, wie beispielsweise Schule, Familie oder Institutionen, unumgänglich, um präventiv auf Rechtsextremismus und Salafismus eingehen zu können (Koc, 2019, S. 131). Prävention kann insbesondere jungen Menschen dazu verhelfen, sich von radikalen Gruppen und damit einhergehenden Einstellungen abzuwenden sowie Einstiegsprozesse zu verhindern (Koc, 2019, S. 109). Befinden sich Personen bereits aktiv in einem radikalen Milieu, spricht man bei der Arbeit mit den Betroffenen nicht mehr von Prävention, sondern von Deradikalisierung.
4.1 Prävention
Der Begriff Prävention stammt vom lateinischen Wort praevenire und bedeutet übersetzt zuvorkommen, vorbeugen. Daraus ist erkennbar, dass Prävention als vorbeugende Maßnahme gedeutet werden kann, welche das Ziel verfolgt, individuell, sozial oder gesellschaftlich ungünstige Ereignisse oder Entwicklungen zu vermeiden (Kawamura-Reindl, Schneider, 2015, S. 43). Mit Blick auf die Präventionsmaßnahmen im Feld der Radikalisierung kann gesagt werden, dass sich keine einheitliche Terminologie und somit auch keine verbindliche Systematik zur Prävention gefunden hat. In diesem Sinne werden folglich zumindest die gängigsten Systematiken vorgestellt, um eine Greifbarkeit dessen, wie präventiv mit radikalisierten Jugendlichen gearbeitet werden kann, aufzuzeigen.
4.1.1 Präventionstriade nach Caplan und Gordon mit praxisnahen Projektbeispielen
Die Präventionstriade, zurückzuführen auf den Psychiater Gerald Caplan im Jahr 1964, beinhaltet die primäre Prävention, die sekundäre Prävention sowie die tertiäre Prävention. Vorwiegend findet die Präventionstriade Verwendung im Bereich der Gesundheitsprävention. Caplans primäre, sekundäre und tertiäre Präventionssystematik unterscheidet sich vor allem im Zeitpunkt der Intervention (Caplan, 1964, o.S., zitiert nach Ceylan, Kiefer, 2018, S. 64). Primäre Maßnahmen kommen demnach vor Eintritt eines unerwünschten Zustands zum Einsatz, sozusagen im Vorfeld. Die sekundäre Präventionsmaßnahme soll verhindern, dass eine Verfestigung der problematischen Erscheinungsformen entsteht und Maßnahmen in der Tertiärprävention sollen ein erneutes Auftreten dieser Erscheinungsformen vorbeugen. Robert S. Gordon hat im Jahr 1983 eine weitere Systematik entwickelt, welche sich zwischen universeller, selektiver und indizierter Prävention unterscheidet. Hierbei finden sich die universellen Präventionsmaßnahmen in der gesamten Bevölkerung und darunter auch bei mehr oder weniger gefährdeten Gruppen wieder, die selektive Prävention findet in der Arbeit mit definierten Risikogruppen statt, mit dem Ziel weitere Problematiken zu verhindern und die indizierte Prävention richtet sich an Personen, welche einen unerwünschten Zustand bereits manifestiert haben (Johannson, 2012, S. 2f.).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung2: Präventionstypen (El-Maafalani et al., 2016, S. 4)
Primäre Prävention
Wie in der Abbildung 2 ersichtlich, richtet sich die primäre Prävention an keine bestimmte Zielgruppe, sondern eher an alle gesellschaftlichen Gruppen oder Personen. Prävention, in Hinblick auf Radikalisierung, findet vor allem im primären Bereich statt. Diese reicht von Prävention in Schulen bis hin zu Jugendhilfe und Gemeinden. Ziel in der primären Radikalisierungsprävention ist es, die positiv vorhandenen Ressourcen zu stabilisieren, zu stärken und einhergehend damit eine positive Entwicklung anzustreben, welche keine negativen Ereignisse impliziert. Besonders hervorgehoben wird die Verhinderung des religiös oder politisch begründeten Extremismus, welcher Menschen aufgrund ihrer Weltanschauung oder ihres Glaubens abwertet (Ceylan, Kiefer, 2018, S. 66). Beispiele für primäre Prävention wäre demnach der Infodienst Radikalisierung, welcher in Deutschland seit dem Jahr 2014 durch die Bundeszentrale für politische Bildung angeboten wird. Er bietet umfassende Informationen zu den Themen Salafismus und Prävention und beinhaltet eine Datenbank mit allen relevanten Präventionsprojekten und Beratungseinrichtungen (Ceylan, Kiefer, 2018, S. 67). Auch das Projekt Dialog macht Schule, welches in Deutschland in Schulen der Sekundarstufe I angeboten wird, findet sich in der primären Prävention wieder. Im Gruppensetting, bestehend aus maximal 15 Schüler*innen und zwei Moderator*innen, mit einer Dauer von 2 Jahren, werden Themen wie Zugehörigkeit, Gerechtigkeit oder unter anderem Rassismus und Menschenrechte bearbeitet, mit dem Ziel, dahingehende soziale und demokratische Kompetenzen aufzubauen (Bundeszentrale für politische Bildung, o.D., o.S., a). Ein weiteres Projekt im primär präventiven Bereich wurde im Zeitraum von 2007 bis 2011 von Karing und Beelmann erprobt. Ihr Entwicklungsorientiertes Präventionsprogramm zur Förderung von Akzeptanz, Respekt, Toleranz und sozialer Kompetenzt (PARTS) wurde mit Schüler*innen der 3. und 4. Grundstufe in Thüringen durchgeführt. Wissentlich, dass problematische Einstellungsmuster, wie Vorurteile und Intoleranz gegenüber Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund, einer anderen Religion und Hautfarbe, extremistische Straftaten oder erhöhte Kriminalität nach sich ziehen können, (Forum Kriminalprävention, 2015, S. 1) setzen Karing und Beelmann an der Förderung zu interkulturellem Wissen sowie kognitiven Kompetenzen bei Schüler*innen an, welche sie in Form von Trainingslektionen im Ausmaß von 15 Stunden anbieten. Die Inhalte der Trainingslektionen können aus der nachfolgenden Abbildung 3 entnommen werden (Beelmann, 2018, S. 9-15).
Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten
Abbildung3: Inhalte des PARTS-Programms (Beelmann, 2018, S. 16).
Sekundäre Prävention
Anders als in der primären Prävention richtet sich die sekundäre Prävention an bereits bestehende Risikogruppen, welche eine höhere Wahrscheinlichkeit aufweisen, Problematiken zu entwickeln (Johannson, 2012, S. 3). Aufgrund der Tatsache, dass in der sekundären Prävention die Zielgruppe bereits erste Anzeichen zur Radikalisierung zeigt, verlangt die Arbeit in diesem Bereich besondere Sensibilität und fachliche Expertise. Das herausragende Projekt 180°-Grad Wende in Köln, welches im Jahr 2012 entwickelt wurde, beschäftigt sich direkt mit der von Radikalisierung betroffenen Zielgruppe (Ceylan, Kiefer, 2018, S. 68fff.). Ziel des Projekts ist es, eine 180°-Grad Wende bei Jugendlichen, welche sich bereits in Krisensituationen befinden, herbeizuführen. Einerseits bietet das Projekt mobile und feste Beratungen an, worin die Themen ,,Schule und Beruf, Familie und Identität, psychische und physische Gesundheit, Flucht und Integration, Kriminalität und Radikalisierung und Diskriminierung‘‘ (Bundeszentrale für politische Bildung, o.D., o.S., b) behandelt werden. Des Weiteren beinhaltet das Projekt die Methode der aufsuchenden Sozialen Arbeit, welche in Form von Streetwork angeboten wird. Hierbei wird professionelle Hilfe seitens junger Multiplikator*innen oder Streetworker*innen auf der Straße, in Schulen, Jugendeinrichtungen, Kultureinrichtungen und Moscheen für betroffene Personen angeboten (Bundeszentrale für politische Bildung, o.D., o.S., b).
In Österreich wurde im Jahr 2016 das Projekt 3g von der Oberstaatsanwaltschaft Linz gemeinsam mit dem Verein NEU START Oberösterreich und der KZ-Gedenkstätte Mauthausen entwickelt. In diesem Projekt wird es ,,Straftätern ohne gefestigtes nationalsozialistisch-ideologisches Fundament‘‘ (Birklbauer, Landerl, o.D., S. 8) ermöglicht, sich im Zuge einer pädagogischen Führung mit der Geschichte und dem Ort der KZ-Gedenkstätte Mauthausen auseinanderzusetzen. Die meisten Straftäter*innen, welche im Zuge einer bedingten Verurteilung und damit einhergehend in Form einer Weisung mit Anordnung von Bewährungshilfe verurteilt worden sind, wurden aufgrund von nationalsozialistischen Hintergründen in sozialen Netzwerken bestraft. Damit ist beispielsweise das Weitersenden nationalsozialistischer Symbole gemeint, welches in den meisten Fällen unüberlegt von Jugendlichen ausgeht. Dieses sogenannte Antifaschismus Training, also die pädagogische Führung, wird seitens des*der Bewährungshelfer*in gemeinsam mit dem*der Klient*in vor- und nachbereitet. Leitfragen während des Rundgangs sind: ,,Wo begegnet mir heute in meiner Lebenswelt Ausgrenzung und Unterdrückung? Wo und wann grenze ich andere aus? Wo erfahre ich selbst Ausgrenzung und Diskriminierung?‘‘ (Birklbauer, Landerl, o.D., S. 8). Ziel dieses diversionellen Angebots ist es, Straftäter*innen ohne bisherige manifestierte rechtsextreme Ideologien reflexiv, im Hinblick auf das Thema Nationalsozialismus, anzuregen, sich mit der Thematik auseinanderzusetzen. damit eine Auseinandersetzung mit der Thematik stattfinden kann (Republik Österreich, Landesgericht Linz, o.D., o.S.).
Tertiäre Prävention
Maßnahmen im tertiären Bereich richten sich an Menschen, welche Ideologien hinsichtlich der Radikalisierung bereits manifestiert haben oder darüber hinaus etwaige religiös oder politisch begründete Straftaten begangen haben. Bei Personen, welche sich aktiv in radikalen Szenen bewegen, jedoch noch keine Straftat begangen haben, ist das Ziel, Straftaten zu verhindern sowie Streitmachten aufzulösen. Betroffene, welche sich in radikalen Szenen bewegen und aussteigen wollen, können Unterstützung beim Ausstieg erlangen, mit dem Ziel einer Neuorientierung im sozialräumlichen Kontext. Im Hinblick auf radikalisierte Personen, welche bereits eine Straftat begangen haben, wird das Verhindern erneuter Straftaten angestrebt sowie berufliche und gesellschaftliche Reintegration gefördert (Ceylan, Kiefer, 2018, S. 72). Inwiefern Deradikalisierung bei bereits manifestierten radikalen Mustern erreicht werden kann, wird in Wissenschaft und Praxis kontrovers diskutiert. Da Radikalisierung ein sehr komplexes Phänomen ist, welches mit vielen Faktoren einhergeht – sei es Unmut, Wut, Ideologisierung oder Empörung – kann dezidiert keine allumfassende Antwort auf die Erreichung der Ziele gegeben werden (Ceylan, Kiefer, 2018, S. 73).
Ein Beispiel für tertiäre Prävention im Bereich des religiös begründeten Extremismus stellt das Programm Aussteigerprogramm Islamismus dar, welches vom Innenministerium in Nordrhein-Westfalen entwickelt wurde. Das Programm richtet sich an Personen, welche sich aktiv in salafistischen/islamistischen Szenen aufhalten, Straftaten begehen sowie teilweise sogar Freiheitsstrafen im Strafvollzug absitzen mussten. Das Programm leistet erst dann Hilfe, wenn die betroffenen Personen Bereitschaft zum vollständigen Ausstieg der salafistischen Szene aufweisen. Es bedient sich sozusagen einer Freiwilligkeit. Inhaltlich geht es im Programm darum, die extremistische Vergangenheit und die damit einhergehenden Ideologien der betroffenen Personen aufzuarbeiten. Darüber hinaus werden die Gründe und Denkmuster beleuchtet, die zu einem Einstieg geführt haben. Weiters wird im Programm an einer Stabilisierung im Hinblick auf die persönlichen Lebensverhältnisse gearbeitet und Hilfe im Alltag angeboten (API, o.D., o.S.). Tertiäre Hilfsangebote werden von erfahrenen Sozialarbeiter*innen über einen längeren Zeitraum durchgeführt.
4.2 Deradikalisierung
Nach Neumann (2013, o.S., b) wird Deradikalisierung als verstanden.
Umkehrung des Prozesses, durch den eine Person zum Extremisten wurde. Es geht so gesehen darum, für jeden ‘‘negativen‘‘ Einfluss, der zur Radikalisierung beigetragen hat, ein ‘‘Gegengift‘‘ zu finden, das heißt: einen positiven Einfluss, der der Wirkung des negativen Einflusses entgegensteht oder sie aufhebt (Neumann, 2013, o.S.).
In Österreich wurde 2017 das Bundesweite Netzwerk Extremismusprävention und Deradikalisierung im Auftrag des Bundesamts für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung gegründet. Konkrete Maßnahmen, zur Eindämmung von Extremismus, wurden erstellt und infolgedessen umgesetzt. Beispiele hierfür sind
- angebotene Workshops in Schulen, welche vorwiegend von der Beratungsstelle Extremismus durchgeführt werden
- Deradikalisierung im Bereich der Justizvollzugsanstalt, welche im Auftrag des Vereins DERAD vorwiegend mit Personen rechtsextremistischer Straftaten vollzogen wird
- Meldestellen im Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, welche der Bevölkerung ermöglichen, auf anonymem Wege radikalisierte Inhalte oder etwaige Auffälligkeiten zu melden
- die Beratungsstelle Extremismus als bundesweite Anlaufstelle für radikalisierte Personen
- sowie eigens konzipierte Schulungen für Mütter, um eine mögliche Gefahr auf Radikalisierung frühzeitig zu erkennen und im Falle des Eintritts den richtigen Umgang damit zu finden – durchgeführt von Frauen ohne Grenzen (Fabris, 2019, S. 64, 67).
Nachfolgend wird näher auf die bereits erwähnte Beratungsstelle Extremismus sowie auf das Deradikalisierungsangebot des Vereins NEU START eingegangen.
4.2.1 Deradikalisierung am Beispiel der Beratungsstelle Extremismus in Österreich
Die Beratungsstelle Extremismus fungiert österreichweit als Anlaufstelle für Personen, welche persönlich, beruflich oder familiär mit dem Thema Extremismus konfrontiert werden. Zum einen bietet sie Hilfestellung für Eltern von beispielsweise radikalisierten Jugendlichen, Angehörige, Freund*innen oder Lehrer*innen und zum anderen arbeitet sie mit betroffenen Jugendlichen, welche sich einen Ausstieg aus der extremistischen Szene wünschen. Neben persönlichen Beratungsgesprächen bietet sie auch eine kostenfreie Helpline an. Das Team der Beratungsstelle Extremismus ist multiprofessionell zusammengesetzt und besteht aus Psycholog*innen, Bildungswissenschaftler*innen, Sozialarbeiter*innen, Islamwissenschaftler*innen und Politikwissenschaftler*innen, welche mit Jobcoaching, Schulen oder Jugendarbeit im Kontakt stehen. Finanziert wird diese gemeinnützige Einrichtung vom Bundeskanzleramt – Sektion Familie und Jugend (Beratungsstelle Extremismus, o.D., o.S., a). Mit Blick auf die Methodik greift die Beratungsstelle Extremismus auf die ressourcen- und lösungsorientierte Beratung zurück, welche sich darin kennzeichnet, dass Ratsuchende als Expert*innen seiner*ihrer Selbst gesehen werden. Dies bedeutet, dass die Betroffenen in Hinblick auf Lösungsfindungen über Stärken und Fähigkeiten verfügen. Gemeinsam in der Beratung werden diese Ressourcen, welche in schwierigen Situationen oftmals schwer bis nicht wahrgenommen werden, neu aufgedeckt und nutzbar gemacht. Theoriegestützt bezieht sich die Beratungsstelle darauf, dass meistens familiäre Situationen Mitauslöser für die Tendenz, sich extremistischen Gruppen anzuschließen, sind. Gemeinsam mit allen Beteiligten werden demnach Konflikte eruiert, welche aktiv im Familiensystem verharren, sowie Bedürfnisse herausgearbeitet, welche einem Radikalisierungsprozess zu Grunde liegen. Ziel dieser Beratung ist es, das Selbstwertgefühl betroffener Personen zu stärken und alternative Perspektiven zu erarbeiten (Beratungsstelle Extremismus, o.D., o.S., b).
4.2.2 Deradikalisierung am Beispiel des Vereins NEU STARTin Österreich
Seit 1957 arbeitet NEU START im Bereich der justiznahen Sozialarbeit, Straffälligenhilfe, Opferhilfe und Prävention mit dem Ziel, die Kriminalität in der Gesellschaft zu verringern. Mit Hilfe von professioneller Unterstützung durch Sozialarbeiter*innen sollen Straffällige wieder in die Gesellschaft integriert werden (Neustart, o.D., o.S.). Auch im Bereich der Radikalisierung verfügt NEU START über langjährige Erfahrung und entwickelte Anfang der 2000er Jahre dezidierte Programme für radikalisierte Klient*innen. Von insgesamt circa 11.000 Klient*innen sind es aktuell (2018) unter 30, welche sich aufgrund von radikalen Straftaten in Betreuung der Bewährungshilfe oder der Haftentlassenenhilfe befinden. Primäres Ziel im Hinblick auf Radikalisierung des Vereins NEU START ist es, radikalisierte Klient*innen von ihrer Gewaltbereitschaft sowie ihren manifesten Ideologien abzubringen. Hierbei findet die klassische Einzelfallhilfe Anwendung in der Arbeit mit den Klient*innen (Glaeser, 2018, S. 75f.). Die klassische Methode der Sozialen Arbeit, die Einzelfallhilfe, richtet sich immer an einzelne Individuen und bearbeitet die Probleme, welche sich in den Individuen selbst befinden (Galuske, 2013, S. 82). Bundesweit bildet NEU START 26 Spezialist*innen für diesen Bereich der Betreuung aus, welche demnach über ein vertieftes Wissen über die Thematik Radikalisierung und Religion verfügen. Die dafür ausgebildeten Spezialist*innen betreuen die von Radikalisierung betroffenen Klient*innen. Im Zuge der Betreuung werden Verhaltensänderungen anvisiert, Einstellungen der Klient*innen kritisch reflektiert, beleuchtet und aufgearbeitet, Resozialisierung in die Gesellschaft angestrebt sowie individuelle Ressourcen und Stärken der Klient*innen gefördert. Ziel in der Bewährungs- oder Haftentlassenenhilfe ist es, dass Klient*innen Gewalt als solches ablehnen und Alternativstrategien im Hinblick auf die Konfliktlösung für sich entwickeln. Im Idealfall verfügt der*die Klient*in am Ende der Betreuung über ein eigenständiges, gewaltfreies und positives Selbst- und Zukunftsbild (Glaeser, 2018, S. 77f.).
5 Methodischer Umgang in der Sozialen Arbeit mit rechtsradikalen und salafistisch-orientierten Jugendlichen
Dieses Kapitel behandelt einerseits methodische Vorgehensweisen der Sozialen Arbeit mit rechtsradikalen Jugendlichen sowie Herausforderungen für die Soziale Arbeit, welche im Zuge der Intervention entstehen können. Und andererseits beschreibt es methodische Zugänge mit Blick auf salafistisch-orientierte Jugendliche, wobei angemerkt wird, dass die Arbeit im Bereich des Salafismus, als junges existierendes Phänomen, sich vielfach auf die Methodik des Rechtsextremismus bezieht. Die nachfolgend beschriebenen Methoden können somit in der Sozialen Arbeit für beide Phänomene herangezogen werden.
5.1 Soziale Arbeit im Bereich der rechtsextremen Szene
Die Soziale Arbeit hat im Bereich der rechtsextremen Szene erstmals im 1980er Jahr Prävention geleistet. Krafeld entwickelte das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit, welches sich auf die Arbeit mit rechten Cliquen bezieht. Ziel der akzeptierenden Jugendarbeit war es, Rechtsradikalismus zu unterbinden. In den darauffolgenden Jahren wurden vermehrt Angebote durch offene oder aufsuchende Jugendarbeit durchgeführt. Mit Beginn der Jahrtausendwende waren zunehmend Ausstiegshilfen aus rechtsextremen Szenen präsent, wo jüngere Menschen auf längere Dauer Betreuung erfahren konnten, mit dem Ziel, aus dem Rechtsextremismus auszusteigen. Aufgrund der veränderten Freizeitkultur, die Jugendliche leben, steht die offene oder aufsuchende Soziale Arbeit vor enormen Herausforderungen. Die Jugendlichen verlagern ihre Aktivitäten vermehrt in private oder virtuelle Räume (Koc, 2019, S. 109f.). Wie Soziale Arbeit in diesem Bereich eingesetzt wird, findet sich nachstehend in den Methoden der akzeptierenden Jugendarbeit, Integrationspädagogik und konfrontativen Jugendarbeit wieder.
5.1.1 Akzeptierende Jugendarbeit
Die von Krafeld entwickelte akzeptierende Jugendarbeit wurde in den Jahren 1990 dezidiert für rechtsextrem orientierte oder rechtsextreme Jugendliche entwickelt, nachdem alle bisherigen Interventionen Sozialer Arbeit gescheitert waren (Krafeld, 2008, S.1, zitiert nach Koc, 2019, S. 110). Besonders wichtig in der Arbeit mit den Jugendlichen ist es, mit den Problemen, die die Jugendlichen haben, zu arbeiten und nicht an den Problemen, die sie verursachen (Krafeld, 2008, S. 4, zitiert nach Koc, 2019, S. 110). In der akzeptierenden Jugendarbeit geht es zunächst darum, sozial konforme Strategien zur Bewältigung zu entwickeln. Ausgehend von der Annahme, dass die Jugendlichen durch Rechtsextremismus vermehrt intensive Zugehörigkeitsgefühle, mehr Anerkennung und überzeugendere Orientierungen entwickeln, wird darauf verwiesen, dass eine bloße Belehrung oder Aufklärung rechtsextreme Handlungen und Einstellungen nicht durchbrechen kann (Koc, 2019, S. 110f.). Viel wichtiger ist es, die Jugendlichen so zu akzeptieren, wie sie sind. Für Krafeld deutet der Begriff Akzeptanz auf die Freiheit hin, anders Denken zu können und zu dürfen. Es geht bei Akzeptanz nicht darum Verhaltensweisen oder Einstellungen für Gut zu heißen oder diese hinzunehmen, vielmehr geht es um eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Anderssein. In diesem pädagogischen Rahmen sollen die Jugendlichen mit ihren eigenen Wertorientierungen und Verhaltensweisen konfrontativ auseinandergesetzt werden, gemeinsam sollen sozialkonforme Bewältigungsstrategien entwickelt und dafür vorgesehene Sozialräume geschaffen werden. Im sozialarbeiterischen Kontext dieser Arbeit geht es darum, die Jugendlichen da abzuholen, wo sie sind und nicht da, wo die Soziale Arbeit sie gerne hätte (Krafeld, 2007, 18ff.).
5.1.2 Integrationspädagogik
Hierbei handelt sich um ein weiterentwickeltes Konzept der soeben beschriebenen akzeptierenden Jugendarbeit. Ansatzpunkt für die (Re-)Integrationspädagogik ist die fehlende Integration rechtsextrem orientierter Jugendliche. Ihr Ziel, welches durch eine Integration in soziale Strukturen erreicht werden soll, ist es demnach, durch Reintegration Chancen auf Zugehörigkeit, Partizipation und Anerkennung zu schaffen. Anders als in der akzeptierenden Jugendarbeit werden in der Integrationspädagogik auch Themen wie Sexismus oder Heterophobie behandelt. Des Weiteren zählen zu den Adressat*innen der Integrationspädagogik nicht lediglich rechtsextrem orientierte oder rechtsextreme Jugendliche, sondern auch Jugendliche aus unterschiedlichen Kulturen und Nationalitäten (Rieker, 2009, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 112f.).
5.1.3 Konfrontative Jugendarbeit
Ein ebenso erweitertes Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit ist die konfrontative Jugendarbeit. Erweiternd wird hierbei die Konfrontation und Grenzsetzung im Hinblick auf die Jugendlichen in den Fokus gestellt. Sie zielt auf die Auflösung politischer Rechtfertigungsideologien und strebt eine Auseinandersetzung mit den Ursachen der eigenen Aggressionen an. Durch gezielte Fragestellungen sollen die Jugendlichen zu einem Umdenkungsprozess angeregt werden. Zum Einsatz kommen hierbei rhetorische Mittel, um eine Verunsicherung der Jugendlichen herbeizuführen, Ironie, unerwartete Antworten oder Schlagfertigkeit. Die Jugendlichen sollen mit verschiedenen Widersprüchen und durch Vergleiche zwischen Ideologie und dem eigenen Verhalten konfrontiert werden. Demnach sollen rechtsextreme Muster nach und nach aufgelöst werden (Rieker, 2009, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 113f.).
5.1.4 Herausforderungen für die Soziale Arbeit mit rechtsextrem orientierten und rechtsextremen Jugendlichen
Um auf die Herausforderungen in der Sozialen Arbeit im Hinblick auf Rechtsextremismus eingehen zu können, werden die Jugendlichen folglich in zwei Gruppen unterteilt. Köttig (2008a, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 114) unterscheidet hierbei Jugendliche, welche sich rechtsextrem orientieren und Jugendliche, welche sich für den Rechtsextremismus interessieren. Die erste Gruppe dieser Jugendlichen, also diejenigen die sich rechtsextrem orientieren, befinden sich aktiv im rechtsextremen Milieu. Wenn die Soziale Arbeit diesbezüglich in der offenen oder aufsuchenden Arbeit tätig ist, erfolgt ein Treffen mit den Jugendlichen zumeist nur dann, wenn diese versuchen, neue Mitglieder ins Boot zu holen oder aktiv Menschen bedrohen. Wenn sie sozusagen einen politischen Auftrag erfüllen müssen. Trotz dem sozialarbeiterischen Auftrag, dieser Ideologie entgegenzuwirken, befindet sich die Soziale Arbeit hinsichtlich der bereits vorhandenen Festigung in rechtsextremen Gruppen in einem wesentlichen Dilemma. Des Weiteren versuchen die Jugendlichen mittels Diskussionen über die rechtsextreme Ideologie an neue Mitglieder zu gelangen. Diesbezüglich verweist Köttig (2008a, o.S., zitiert nach Koc, 2019, S. 115) darauf, diese Jugendlichen aus Gruppen auszuschließen, um sie an ihrem Vorhaben zu hindern. Trotz des Ausschlusses sollte eine weitergehende Beobachtung stattfinden sowie eine Unterstützung erfolgen, sollten sich die Jugendlichen einen Ausstieg aus dem rechtsextremen Milieu wünschen (Köttig, 2008a, S. 3, zitiert nach Koc, 2019, S. 114f.). Die zweite Gruppe an Jugendlichen, also diejenigen die sich für Rechtsextremismus interessieren, weisen zwar Interesse am Rechtsextremismus auf, ein geschlossenes Weltbild wie die Gruppe Eins vertreten sie jedoch noch nicht. Für die Soziale Arbeit ist hierbei die Einschätzung wichtig, inwieweit das Interesse beziehungsweise die Hinwendung bereits vorhanden ist. Ein weiteres Dilemma stellt eine klargestellte Äußerung gegen Rechtsextremismus seitens der Sozialarbeiter*innen dar. Diesbezüglich besteht die Angst, dass die Jugendlichen danach umso mehr in den Rechtsextremismus verleitet werden. Köttig verweist dahingehend auf zwei wesentliche Haltungen, welche Sozialarbeiter*innen gegenüber den Jugendlichen einnehmen sollen. Einerseits sollen sie versuchen, Einstellungen und Haltungen der Jugendlichen zu verstehen, was weiterführende Fragen eröffnet und vorschnelle Interpretationen unterbindet und andererseits soll eine Fremdmachung des Arbeitsfelds stattfinden, damit vermeintliches Expert*innenwissen zurückgestellt wird. Dies führt zu Neugier und mehr Sensibilität im Umgang mit den Jugendlichen oder einer Gruppe (Köttig, 2008a, S. 2-11, zitiert nach Koc, 2019, S. 114ff.).
5.2 Soziale Arbeit im Bereich der salafistischen Szene
Im Bereich der salafistischen Szene hat die Soziale Arbeit in Deutschland erst um das Jahr 2005 begonnen tätig zu werden. Daraus lässt sich schließen, dass dieses pädagogische Handlungsfeld ein noch relativ junges ist. Bis dahin erfolgte die Befassung mit dem Salafismus eher aus der Perspektive der Sicherheitspolitik. Zunehmend wurden einheimische Jugendliche zur Kenntnis genommen, welche sich in salafistische Kreise radikalisierten. Als relativ neues Handlungsfeld waren darin pädagogische Ansätze noch kaum vorhanden, diese mussten erst entwickelt werden. Dadurch, dass die Radikalisierungsforschung im Hinblick auf Salafismus im Jahr 2005 noch am Anfang stand, war es für die Soziale Arbeit eine enorme Herausforderung, passende Ansätze hierfür zu finden. Ansätze aus der Arbeit mit rechtsextremen Jugendlichen wurden aus diesem Grund miteinbezogen.
5.2.1 Präventive Ansätze
Als Zielgruppe im präventiven Kontext gelten einerseits Jugendliche, bei denen eine Hinwendung zum Salafismus durch ihre Lebensbedingungen begünstigt werden und andererseits Jugendliche, welche bereits salafistischen Ideologien nachgehen oder bereits aus der Szene aussteigen möchten. Für beide Zielgruppen gibt es unterschiedliche Präventionsangebote, wobei auf die Präventionstriage im Kapitel 4 verwiesen wird. Mit der ersten Gruppe wird bereits im Vorfeld präventiv daran gearbeitet, Radikalisierungsprozessen vorzubeugen. Dafür verwendete Methoden sind Gruppenarbeiten in beispielsweise Schulen oder Jugendeinrichtungen, einhergehend mit dem Ziel der Sensibilisierung zu diesem Phänomen. Für die zweite Gruppe werden Ausstiegs- und Distanzierungsarbeiten geleistet, welche eher im Einzelsetting und durch Beratungen vollzogen werden. Im Vordergrund dieser Arbeit steht vor allem die Auseinandersetzung mit der Biografie sowie die Miteinbeziehung von Familienmitgliedern.
5.2.2 Biografiearbeit
In der Biografiearbeit steht die subjektiv wahrgenommene eigene Biografie im Fokus, welche sich in Form von Lebensgeschichten und -erzählungen äußert (Wendt, 2017, S. 137). Das Ziel hierbei ist es, den Jugendlichen soziale Alternativen aufzuzeigen, um Beziehungen außerhalb der salafistischen Szene zu reaktivieren (Schau et al., 2017, S. 197-204). Im Hinblick auf den biografischen Ansatz sozialer Arbeit verweist Köttig auf die Notwendigkeit, dass radikale Neigungen besonders unter den Aspekten der bisherigen Familiengeschichte und außerfamiliären Ereignissen betrachtet werden muss. Mit diesem Hintergrundwissen können Sozialarbeiter*innen individuell abgestimmte Konzepte anbieten, mit dem Ziel, salafistisch-orientierte Einstellungsmuster abzubauen (Köttig, 2008b, S. 1, 6, 13f., 91, zitiert nach Koc, 2019, S. 116).
Abschließend möchte ich die Worte von Glaeser (2018, S. 80) teilen, welche in der Sozialen Arbeit mit radikalisierten Jugendlichen von besonderer Wichtigkeit sind:
Wir dürfen nicht vergessen, dass die Anwerbung für radikales Gedankengut mit einem sehr wirkungsmächtigen Versprechen der engen emotionalen Zugehörigkeit verbunden ist. Versprochen wird die Gemeinschaft unter Brüdern und Schwestern mit klar definierten Außenfeinden (,,die Ungläubigen‘‘) (Glaeser, 2018, S. 80).
Als angehende Sozialarbeiter*in verstehe ich, dass das Gefühl von Zugehörigkeit für Klient*innen unabdingbar ist. Aus diesem Grund muss angestrebt werden, dass radikalisierte Jugendliche oder jene, die sich dafür interessieren, in prosozialen Kreisen ihre Zugehörigkeit finden.
6 Resümee
Der Begriff Radikalisierung steht in Kausalität zur Gewaltbereitschaft sowie zum Extremismus. Radikalisierung äußert sich zumeist in Form von extremen Sichtweisen oder extremen Verhaltensweisen, einhergehend mit der Ideologie, gegen gesellschaftliche Werte und Normen aktiv zu werden. Gewalt wird zunehmend als legitimes Mittel verwendet, um die Ziele der manifesten Ideologie zu erreichen. Nach Ceylan und Kiefer wird Radikalisierung am Endpunkt als Extremismus bezeichnet. Personen, welche Radikalisierungsprozesse durchlaufen, werden als sogenannte Extremist*innen bezeichnet. Mit Blick auf den Begriff Extremismus wurden gegenwärtig in dieser Arbeit der Rechtsextremismus sowie der Salafismus genauer ausgeführt. Rechtsextremismus, als politisch begründete Radikalisierung, verfolgt die Ausgrenzung von Personen, welche eine andere Hautfarbe, eine andere Herkunft oder unter anderem eine andere Religion aufweisen und somit nicht der gültigen Standardnorm entsprechen. Zu den Ideologien von Rechtsextremismus zählen der Nationalismus, der Antisemitismus sowie das Manifest einer generellen abwertenden Haltung gegenüber allen Ausländer*innen. Rechtsextremismus lehnt rassische und ethnische Gleichheit ab und verfolgt den Grundsatz, dass nicht alle Menschen gleiche Ansprüche oder/und gleiche Rechte haben. Der Salafismus, als politisch begründete Radikalisierung, schließt nicht-islamische Einflüsse oder Bestandteile im Hinblick auf gesellschaftliches oder religiöses Verständnis komplett aus. Sie verfolgen das Ziel einer Gleichheit des Staates im Sinne ihrer Religion und sind der Ansicht, dass ihre Weltordnung die einzig gerechte sei. Durch Gewalt als legitimes Mittel wird versucht, die eigenen religiösen Einstellungen im Gesellschaftsgeschehen zu realisieren. Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremismus und Salafismus lassen sich im Wunsch nach der für sich gelebten Gleichheit kennzeichnen, worin keine andere Ideologie oder Religion erlaubt ist. Auch im Hinblick auf Ausgrenzung zeigt sich, dass Salafist*innen Nicht-Gläubige verachten und rechtsextremistische Personen Ausländer*innen als Feinde ansehen. Unterschiede hingegen besteht im Blick auf Personen mit sozialen Merkmalen. Für Salafist*innen stellen soziale Merkmale kein Ausschlusskriterium dar, um in salafistische Gruppen einzutreten. Für rechtsextremistische Personen hingegen stellt die ethnische Zugehörigkeit ein wesentliches Ausschlusskriterium dar.
Um der Frage nachzugehen, welche Auslöser dem Phänomen Radikalisierung zugrunde liegen, wurden diese auf der Makro-, Meso- und Mikroebene beleuchtet. Die Makroebene, in welcher Radikalisierung im gesellschaftlichen Kontext veranschaulicht wird, verweist auf sozioökonomische Benachteiligungen sowie auf die zunehmende Globalisierung, einhergehend mit der zunehmenden Verbreitung von Massenmedien, welche als mögliche Auslöser für Radikalisierung angesehen werden können. In der Mesoebene werden gruppenspezifische Auslöser in den Blick genommen. Es geht vielfach um das Gefühl von Zugehörigkeit, welches dann entsteht, wenn dieselbe Ideologie gelebt wird. Im Bereich der Mikroebene werden Auslöser für Radikalisierung im Individuum selbst eruiert. Hierbei wird von Ideologien als Lückenfüller gesprochen, um die eigene innere Leere zu füllen. Um den Prozess von Radikalisierung verstehen zu können, wurde das entwicklungsorientierte Modell von Beelmann herangezogen. In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass kognitive, motivationale sowie soziale Prozesse ausschlaggebend für Radikalisierung sein können. Wie in der Abbildung 1 ersichtlich, besteht der Prozess aus 3 Entwicklungsstufen, dem ontogenetischen Entwicklungsprozess, dem proximalen Radikalisierungsprozess sowie dem Endpunkt, welcher sich schlussendlich durch manifestierte religiös oder politisch extremistische Einstellungen kennzeichnet. Der ontogenetische Entwicklungsprozess bezieht sich auf Entwicklungsprozesse im Alter von der frühen Kindheit bis circa 20 Jahren. Der Schritt zwei im proximalen Radikalisierungsprozess findet meist im Alter zwischen 14 und 30 Jahren statt. Nach Borum radikalisieren sich in diesem Alter 90% aller extremistischen Straftäter*innen. Demzufolge steht fest, dass Radikalisierung vor allem im Jugendalter ein erhöhtes Risiko darstellt.
Für die Jugendphase, welche sich vor allem durch bestimmte Entwicklungsaufgaben kennzeichnet, ist es von besonderer Wichtigkeit, dass diese Aufgaben bewältigt werden, um einen positiven weiteren Lebensverlauf zu erzielen. Dafür entscheidend sind verschiedene Sozialisationsinstanzen, welchen die Jugendlichen ausgesetzt sind. Erleben Jugendliche negative Erfahrungen, wie beispielsweise wenig Unterstützung oder fehlende Aufmerksamkeit, können Entwicklungsprobleme auftreten. Diese können in Form von Aggression, Depression oder Gewalt auftreten. Ein möglicher Anschluss an radikale Gruppen kann für Jugendliche als heilsame Alternative oder als innere Entlastung angesehen werden. Sozialwissenschaftliche Befunde zeigen, dass vorwiegend Jugendliche, welche einen Mangel an Strategien und Kompetenzen aufweisen, anfällig für Extremes sind. Mit Blick auf den rechtsextremistischen Radikalisierungsprozess bei Jugendlichen kann gesagt werden, dass vorwiegend rechtsextremistische Verfestigung durch Gruppenerfahrungen oder durch Zustimmung älterer Personen entsteht. In Deutschland sind es gut ein Drittel Erwachsene, welche rassistische Denkweisen benutzen. Familiäre Bedingungen, denen Jugendliche ausgesetzt sind, sind bei rechtsextremen Jugendlichen oftmals gekennzeichnet durch Disharmonie oder Beziehungsabbrüchen. Der Rechtsextremismus knüpft an die Lebenswelt der Jugendlichen an, um sie zu erreichen. Rechtsradikale Symbole oder Codes verstärken auf emotionaler Ebene das Gefühl von Zugehörigkeit und Gefühle wie Sicherheit oder Selbstwirksamkeit entstehen. Der salafistische Radikalisierungsprozess bei Jugendlichen passiert vorwiegend über Vereine oder durch Gleichaltrige. Eine Einladung in die Moschee folgt und ,neue Mitglieder‘ werden als sogenannte neue Schwester oder neuer Bruder gefeiert. Das Gefühl von gestillter Aufmerksamkeit und Gemeinschaft wurde so womöglich noch nie erlebt. Weiters spielt das Internet im salafistischen Bereich eine große Rolle, wobei Videos von leidenden Muslimen das Ungerechtigkeitsempfinden von Jugendlichen aktivieren sollen. Im Fallbeispiel Ismail zeigt sich, wie mangelnde Aufmerksamkeit und ein geringes Gefühl von Zugehörigkeit Auslöser dafür sein können, sich salafistischen Gruppen und ihrer religiösen Ideologie anzuschließen.
Im Rahmen Sozialer Arbeit werden präventive sowie deradikalisierende Maßnahmen ergriffen, um dem Phänomen Radikalisierung entgegenzuwirken. Präventive Maßnahmen richten sich in der primären Prävention an alle gesellschaftlichen Gruppen oder Personen, mit dem Ziel, bereits vorhandene positive Ressourcen zu stabilisieren sowie religiös oder politisch begründete Radikalisierung zu verhindern. In der sekundären Prävention wird im Rahmen der Sozialen Arbeit mit bestehenden Risikogruppen gearbeitet, mit dem Ziel, eine Auseinandersetzung mit dem Thema Radikalisierung herbeizuführen, um eine vertiefte Identifikation mit Radikalisierung zu verhindern. Die tertiäre Prävention richtet sich an Personen, welche radikales Gedankengut bereits manifestiert haben. Ziel ist es, weitere Straftaten zu verhindern sowie eine Neuorientierung im sozialräumlichen Kontext anzustreben. Deradikalisierende Maßnahmen im Rahmen Sozialer Arbeit bieten die Beratungsstelle Extremismus in Österreich sowie der Verein NEU START an.
Die Soziale Arbeit arbeitet mit betroffenen Personen anhand von methodischen Vorgehensweisen. Im Bereich der rechtsextremen Szene zeigt sich, dass bereits im Jahr 1980 mit präventiven Maßnahmen gegen Radikalisierung gearbeitet wurde. Dahingehend finden sich vor allem Methoden wie die akzeptierende Jugendarbeit, mit der Vision, die Jugendlichen da abzuholen, wo sie sind und nicht da, wo die Sozialarbeit sie gerne hätte; die Integrationspädagogik, welche sich als weiterentwickeltes Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit versteht sowie die konfrontative Jugendarbeit, welche durch konfrontative Art und Weise eine Auseinandersetzung mit den Ursachen anstrebt, mit dem Ziel, die Jugendlichen zu einem Umdenkungsprozess anzuregen. Im Hinblick auf die salafistische Szene gab es in Deutschland erstmals im Jahr 2005 präventive Maßnahmen, welche ergriffen worden sind. Es handelt sich demnach für die Soziale Arbeit um ein relativ junges Phänomen. Ansätze hierbei finden sich in der eben genannten primären, sekundären und tertiären Prävention wieder. Des Weiteren spielt auch die Biografiearbeit in der Arbeit mit salafistisch-orientierten Jugendlichen eine wichtige Rolle. Hierbei wird die subjektiv wahrgenommene Biografie in den Fokus gestellt, mit dem Ziel, salafistisch-orientierte Einstellungsmuster abzubauen.
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- Arbeit zitieren
- Lisa-Maria Rauter (Autor:in), 2021, Politisch und religiös begründete Radikalisierung von Jugendlichen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1282386
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