In der vorliegenden Facharbeit beschäftige ich mich mit den beiden gerichtsmedizinischen Gutachten des Hofrats Dr. Clarus, die dieser im Zusammenhang mit dem Strafprozess des Mörders Johann Christian Woyzeck in den Jahren 1821 und 1823 im Auftrag des Leipziger Gerichts erstellt hat. Es ging dabei darum festzustellen, ob der Mörder Woyzeck als zurechnungs- oder als unzurechnungsfähig einzuschätzen sei. Diese Frage entschied über das Strafmaß. Clarus erklärt Woyzeck in beiden Gutachten als zurechnungsfähig und damit als uneingeschränkt straffähig. Diese Gutachten wurden damals veröffentlicht und kontrovers diskutiert. Es entstand ein Wissenschaftlerstreit um den Fall, den Georg Büchner als Mediziner und Schriftsteller verfolgte und zu dem er mit seinem Drama "Woyzeck" Stellung bezog, an dem er im Jahre 1836, also kurz vor seinem frühen Tod am 17. Februar 1837, arbeitete und welches er nicht mehr beenden konnte.
Diese Stellungnahme möchte ich untersuchen, indem ich das, was in den Gutachten über den historischen Woyzeck bekannt geworden ist, mit der Dramenfigur Büchners vergleiche. Dazu untersuche ich im ersten Kapitel die beiden Gutachten des Hofrats Clarus, filtere dabei zuerst die wichtigsten Lebensdaten des historischen Woyzeck heraus, schildere dann den Tathergang und die Vorgeschichte und untersuche abschließend Clarus’ Argumentation. Im zweiten Kapitel schildere ich den Tathergang und die Vorgeschichte des Mordes im Drama, untersuche, welche Elemente Büchner aus den Gutachten übernommen hat und versuche im letzten Unterkapitel Büchners Absichten zu beleuchten. Im Fazit fasse ich die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammen.
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung
2 Die Gutachten des Hofrats Dr. Clarus
2.1 Daten zur Person Johann Christian Woyzeck
2.2 Der Tathergang
2.3 Clarus’ Argumentation in der Frage der Zurechnungsfähigkeit
3 Der fiktive Woyzeck - Konzeption einer Dramenfigur
3.1 Skizze des fiktiven Mordfalls und seiner Ursachen im Drama
3.2 Analyse der Elemente, die Büchner aus den Clarus-Gutachten für den fiktiven Woyzeck verwendet hat
3.3 Büchners literarisches Anliegen - Versuch einer Interpretation
4 Fazit
5 Bibliographie
5.1 Quellen
5.2 Forschungsliteratur
1 Einleitung
In der vorliegenden Facharbeit beschäftige ich mich mit den beiden gerichtsmedizinischen Gutachten des Hofrats Dr. Clarus, die dieser im Zusammenhang mit dem Strafprozess des Mörders Johann Christian Woyzeck in den Jahren 1821 und 1823 im Auftrag des Leipziger Gerichts erstellt hat. Es ging dabei darum festzustellen, ob der Mörder Woyzeck als zurechnungs- oder als unzurechnungsfähig einzuschätzen sei. Diese Frage entschied über das Strafmaß. Clarus erklärt Woyzeck in beiden Gutachten als zurechnungsfähig und damit als uneingeschränkt straffähig. Diese Gutachten wurden damals veröffentlicht und kontrovers diskutiert. Es entstand ein Wissenschaftlerstreit um den Fall1, den Georg Büchner als Mediziner und Schriftsteller verfolgte und zu dem er mit seinem Drama Woyzeck Stellung bezog, an dem er im Jahre 1836, also kurz vor seinem frühen Tod am 17. Februar 1837, arbeitete und welches er nicht mehr beenden konnte.2 Diese Stellungnahme möchte ich untersuchen, indem ich das, was in den Gutachten über den historischen Woyzeck bekannt geworden ist, mit der Dramenfigur Büchners vergleiche.
Dazu untersuche ich im ersten Kapitel die beiden Gutachten des Hofrats Clarus, filtere dabei zuerst die wichtigsten Lebensdaten des historischen Woyzeck heraus, schildere dann den Tathergang und die Vorgeschichte und untersuche abschließend Clarus’ Argumentation.
Im zweiten Kapitel schildere ich den Tathergang und die Vorgeschichte des Mordes im Drama, untersuche, welche Elemente Büchner aus den Gutachten übernommen hat und versuche im letzten Unterkapitel Büchners Absichten zu beleuchten. Im Fazit fasse ich die wichtigsten Ergebnisse noch einmal zusammen.
2 Die Gutachten des Hofrats Dr. Clarus
Am 23. August des Jahres 1824 wurde in Leipzig ein Mann namens Johann Christian Woyzeck öffentlich hingerichtet, weil er des Mordes an seiner Geliebten Johanna Christiane Woost überführt worden war. Die Tat hatte eram21. Juni 1821 begangen. Der Täter leugnete die Tat nicht.3
Dieser Fall hatte die damalige Öffentlichkeit einige Jahre lang beschäftigt, weil es immer wieder Versuche gegeben hatte, den Mörder Woyzeck als unzurechnungsfähig und somit als nicht schuldfähig zu erklären. So ist auch der große zeitliche Abstand zwischen Tat bzw. Festnahme und Urteilsvollstreckung zu erklären.4
Der Mediziner Dr. Johann Christian August Clarus war mit der Abfassung des gerichtsmedizinischen Gutachtens und der damit einhergehenden Befragung des Täters beauftragt worden. Er erstellte ein erstes Gutachten, welches er am 16. September 1821 einreichte, nachdem er Woyzeck in „fünf, dreiviertel bis einstündige[n] Unterredungen“5vernommen hatte, und zwar am 26., 28. und 29. August und am 3. und 14. September. Darin erklärte er Woyzeck für zurechnungsfähig. Woyzeck wurde daraufhin zum Tode durch das Schwert verurteilt.
Nachdem jedoch, wie Clarus selbst sich ausdrückt, ein „Privatmann“dagegen Einspruch erhoben hatte, wurde er beauftragt, ein weiteres Gutachten anzufertigen, das er am 28. Februar 1823 vorlegte und das wesentlich ausführlicher war als das erste. Bei dem Privatmann’6 handelte es sich um den Privatgelehrten Dr. Bergk, der in einem Brief an das Gericht „durch den Verweis auf Woyzecks Gehör- halluzinationen und Verfolgungswahn dessen Zurechnungsfähigkeit in Frage stellt[e]“7. Auf diesen Brief hin wurde die Urteilsvollstreckung erst einmal ausgesetzt und eine erneute Untersuchung - und eben auch die Erstellung eines weiteren gerichtsmedizinischen Gutachtens - angeordnet8. Vorher, im Februar 1822, hatte bereits die Verteidigung Einspruch gegen das Urteil eingelegt. Im Sommer 1822 hatte der Prinz Friedrich August ein Gnadengesuch an das Leipziger Gericht gestellt. Beides war abgewiesen worden9.
Für das zweite Gutachten vernahm Clarus Woyzeck weitere fünf Male, und zwar am 12., 26., 29. und 31. Januar und am 21. Februar 1823, jeweils anderthalb bis zwei Stunden lang, also wesentlich länger als bei den ersten Verhören10.
Neumeyer legt dar, dass es Streit unter den Wissenschaftlern der Zeit über den Fall Woyzeck gegeben habe. Carl Moritz Marc und Johann Christian August Grohmann hätten Clarus widersprochen und Woyzeck für unzurechnungsfähig erklärt, Johann Christian August Heinroth habe Clarus beigepflichtet11. Dieser Wissenschaftlerstreit muss großes Aufsehen erregt haben, sodass der Fall sehr bekannt wurde.
Beide Clarus-Gutachten waren außerdem der Öffentlichkeit in Henkes Zeitschrift für die Staatsarzneikunde zugänglich gemacht worden und es ist davon auszugehen, dass Büchner die Gutachten auch in dieser Zeitschrift gelesen hatte.
2.1 Daten zur Person Johann Christian Woyzeck
Johann Christian Woyzeck ist am 312. Januar 1780 in Leipzig geboren worden. Sein Vater war Perückenmacher13. Er war der älteste von vier Geschwistern. Er besuchte einige Jahre lang die Schule und erlernte ebenfalls das Perückenmacherhandwerk. Mit 13 Jahren war er bereits Vollwaise. Nach dem ersten Lehrjahr verließ er seinen ersten Lehrherm und führte seine Lehre beim Perückenmacher Knoblauch fort, wo er vier weitere Jahre Lehrling und anderthalb bis zwei Jahre danach noch angestellt war. Dort lernte er bereits das spätere Opfer, Johanna Christiane Woost, geborene Otto, kennen, die die Stieftochter seines Lehrherm war.
Danach, im Jahre 1798, ging er sechs Jahre lang auf Reisen und arbeitete mal als Friseur und mal als Bediensteter.
Nach den sechs Jahren begab er sich wieder nach Leipzig, wo er eine Frau Traugott kennenlemte, die zu der Zeit noch Schindel hieß, und mit ihr ein Verhältnis anfing.
Diese zeigte ihn später bei der Obrigkeit an, weil er sie verfolgt, sich an ihr vergriffen und ihr Gewalt angetan hatte14.
Daraufhin verließ er Leipzig und reiste zehn Wochen lang über Berlin bis Posen. Im Jahre 1806 nahm er wohl bereits als Soldat an der Schlacht bei Jena teil15, ging dann in holländische, dann in schwedische, in mecklenburgische, wieder in schwedische und schließlich in preußische Kriegsdienste. Insgesamt war er 12 Jahre lang, also von 1806 bis 1818, Soldat in unterschiedlichen Regimentern.
Clarus berichtet, dass keine weiteren objektiven Informationen „Ueber seine Aufführung und seinen Gemüthszustand während dieses Zeitraums von zwölf Jahren [...] bei den Akten vorhanden“16seien. Woyzeck selbst gebe jedoch an, dass es in Bezug auf sein Privatleben eine eher ruhige Phase gewesen sei. Er habe Kontakt zu Frauen gehabt, jedoch ohne Skandale zu provozieren. Wohl habe er mit einer Frau namens Wienberg ein Kind gezeugt17, als er 1810 bei den mecklenburgischen Truppen war. Da diese ihm nicht treu war, habe er eine „Veränderung in seinem Gemüthszustande bemerkt“18, späterje- doch den Kontakt mit ihr weiterhin gepflegt.
Im Dezember 1818 kehrte er zurück in seine Heimatstadt Leipzig, wo er in der Folgezeit verschiedene Unterkünfte und Beschäftigungen hatte:
Er wohnte zunächst bei der Familie Steinbrücken. Diese Unterkunft wurde ihm von Johanna Christiane Woost vermittelt, zu der er also wieder Kontakt aufgenommen hatte. Sie gab Woyzeck - so Clarus - dort fur „Ihren Liebsten“ aus und bezahlte seinen „Miethzins“. In dieser Zeit hatte er keine Arbeit und lebte von „Unterstützungen“19.
Von Februar 1819 bis zum 24. Juni 1820 lebte er bei der Witwe Knobloch20, der Stiefmutter von Frau Woost, im Hause des Gelbgießers Warnecke. Er ging dort unterschiedlichen Gelegenheitsarbeiten nach. Nach einem handgreiflichen Streit zwischen Woyzeck und Warnecke musste Woyzeck das Haus verlassen und für zwei Wochen wieder zur Familie Steinbrücken ziehen. In diesen zwei Wochen war Woyzeck beschäftigungslos.
Vom 24. Juni bis einige Wochen vor dem 29. September 1820 wohnte er bei dem Zeitungsträger Haase in einer Dachkammer.
Danach hatte er häufig wechselnde Unterkünfte bei verschiedenen Personen in verschiedenen Dörfern im Umkreis der Stadt Leipzig21. Zuletzt wohnte er bis zum 20. Mai 1821 bei einer Frau Wittig, nach deren Tod er sich „acht bis vierzehn Tage lang im Freien herumgetrieben und von Unterstützungen guter Menschen gelebt“ hat. Schließlich beging er am 21. Juni desselben Jahres den Mord an Johanna Christiane Woost. Am 23. August 1824 wurde er nach dreijähriger Freiheitsstrafe hingerichtet.
2.2 Der Tathergang
Woyzeck lernte Johanna Christiane Woost bereits im Jahre 1794, also mit vierzehneinhalb Jahren, bei seinem Lehrherm Knobloch kennen. Johanna Woost war damals bereits verheiratet. Zu dieser Zeit hatten die beidenjedoch noch kein Liebesverhältnis miteinander.
Als Woyzeck, nach dem Kriegsdienst nach Leipzig zurückgekehrt, von Februar 1819 bis zum 24. Juni 1820 wieder bei der Stiefmutter von Frau Woost wohnte, entwickelte sich das Liebesverhältnis zwischen den beiden.
Dem zweiten Gutachten zufolge gab es aber in dieser Zeit bereits Probleme in der Liebesbeziehung zu Johanna Christiane Woost. Woyzeck trank viel Alkohol und misshandelte seine Geliebte mehrfach aus Eifersucht, da diese mit verschiedenen Soldaten sexuelle Kontakte pflegte22. Woyzeck hatte offensichtlich mehrere Male sehr heftig reagiert und sei deshalb schließlich dieser Unterkunft verwiesen worden (s.o.). Das Verhältnis zwischen Woyzeck und Frau Woost brach aber offensichtlich nicht ab, sie hatten weiterhin sexuellen Kontakt miteinander. Woyzeck störte zwar, dass sie diesen auch mit an - deren Männern pflegte, dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich weiter mit ihr zu treffen. Im ersten Gutachten steht hierzu:
„Sein Umgang mit der Woostin schreibe sich von der Zeit her, wo er bei ihrer Mutter gewohnt habe, und es sey, obgleich ein ausdrückliches Versprechen nicht Statt gefunden, dennoch ihr beidseitiger Wille gewesen, sich zu ehelichen, wozu es aber, weil es mit ihm immer nicht fort gewollt habe, nicht gekommen sey. Unterstützungen habe er von der Woostin nicht erhalten, weil sie selbst nicht viel gehabt habe, und der fleischliche Umgang mit ihr sey dadurch, dass sie sich seit einiger Zeit auch mit einem anderen eingelassen, obwohl es deshalb zwischen ihnen zu Streitigkeiten und Thätlichkeiten gekommen sey, dennoch nicht unterblie - ben, da sie ihm nicht nur den Beyschlaf niemals verweigert, sondern ihn sogar oftmals deshalb bestellt habe.“ (Clarus-GA 1:543)
Dieser Passage kann man also entnehmen, dass sogar eine Hochzeit zwischen ihnen angedacht war, zumindest Woyzecks Aussage nach, diese aber wegen seiner materiell ungesicherten Lebenssituation nicht zustande gekommen sei.
Die beiden trafen sich also regelmäßig zum „Beyschlaf‘, Woyzecks Situation wurde jedoch immer schwieriger. Erst ging er noch Gelegenheitsarbeiten nach, schließlich jedoch musste er im Freien schlafen und um Almosen bitten. Er sagte aus, dass er zwar ,,[...] das Bivouakiren gewohnt sey [...]“, er aber dennoch ,,[...] mißmuthig und ohne zu wissen, was er anfangen solle, im Felde und an den einsamsten Orten umhergestrichen [,..]“23sei. Letztendlich führte er am Ende einige Wochen lang das Leben eines Obdachlosen.
Am Tag der Tat soll er am Nachmittag um 16.00 Uhr mit Frau Woost auf der Funkenburg verabredet gewesen24, dort aber nicht hingegangen sein, weil er schon gewusst habe, dass sie nicht kommen würde. Er sei den ganzen Tag ziellos umhergestreift, habe unterschiedliche Menschen auf seinen Wegen durch die Stadt getroffen und habe unter anderem eine Degenklinge „abgeholt“ und einen Griff daran befestigen lassen. Dann habe er Johanna Woost zufällig auf der Straße getroffen und sie nach Hause begleitet. Sie hätten sich ganz normal unterhalten und nicht gestritten, obwohl sie ihm bestätigte, nicht am Ort der Verabredung gewesen zu sein. Erst im Hausflur habe er wieder an die Degenklinge gedacht und sie dann, weil sie ihn nach Hause schicken wollte, anstatt ihn mit zu sich zu nehmen, mit dieser Klinge erstochen. Schon einige Zeit vorher habe er öfter Stimmen gehört, die ihm den Mord be - fohlen hätten25.
Er stach siebenmal zu, tödlich war dabei wohl ein Stich in die Brust, mit dem er ihr „die erste Zwi - schenrippenschlagader zerschnitten, beide Säcke des Brustfelles durchdrungen und den niedersteigenden Teil der Aorta an einem der Kunsthülfe völlig unzugänglichen Ort durchbohrt“26hatte.
Woyzeck wurde sofort nach vollbrachter Tat gefasst und gab den Mord zu. Er bestätigte auch, dass das Mordinstrument ihm gehörte. Er widersprach auch keiner der Zeugenaussagen. Es bestand also kein Zweifel an seiner Schuld, sondern nur an seiner Schuldfähigkeit. Daher wurden auch die Gutachten beauftragt, wie ich oben dargelegt habe.
2.3 Clarus’ Argumentation in der Frage der Zurechnungsfähigkeit
Clarus bescheinigt Woyzeck in beiden Gutachten Zurechnungsfähigkeit. Er argumentiert dabei wie folgt:
Im ersten Gutachten geht er von der körperlichen und geistigen Verfassung während der Verhöre aus und sagt dazu, dass er keine Anzeichen eines „kranken, die freie Selbstbestimmung und die Zurechnungsfähigkeit aufhebenden Seelenzustandes“ feststellen konnte27.
Im zweiten Gutachten fuhrt er weitere Argumente an, die sein Urteil bestätigen sollen:
1. Keiner der Zeugen habe jemals Anzeichen von Wahnsinn oder Geistesverwirrung bei ihm erkennen können28.
2. Woyzeck behauptet zwar, Stimmen gehört und Erscheinungen gehabt zu haben29, von denen er auch manchen Leuten erzählt hatte, dennoch habe ihn niemand als merkwürdig oder krank, höchstens als in sich gekehrt und schwermütig wahrgenommen.
3. Er erklärt, dass solche Visionen „mit Störungen des Blutlaufs“ Zusammenhängen und dass Woyzeck Probleme mit Bluthochdruck gehabt habe („vollblütig“)30.
4. Diese Visionen und auch deren körperliche Ursachen hätten aber keineswegs dazu geführt, „daß bei ihm die Freiheit des Willens in diesem Zustande [...] aufgehoben gewesen sey“31.
5. Die Stimmen, die ihm schon einige Zeit vor der Tat befohlen hätten, Johanna Woost zu erstechen, seien nichts als innere Stimmen. Woyzeck berichte von widerstreitenden Stimmen, die ihm die Tat befohlen bzw. ihn davon abgehalten hätten. Dies sei ein innerer Gewissensstreit, der nicht unüblich sei. Sein Ohrensausen habe diesen Eindruck, es handele sich um Stimmen von außen, unterstützt32.
6. Eine Anlage zu einer Krankheit sei noch keine Krankheit. Dazu müsse es klare Anzeichen geben, die aber bei Woyzeck fehlten33.
7. Er bezeichnet Woyzeck als Hypochonder, der sich seine Krankheit nur einbildet, gleichzeitig verdächtigt er ihn, die Visionen und Stimmen bei den späteren Verhören häufiger zu erwähnen, weil er gemerkt habe, dass ihm dies bei Gericht zugute kommen könnte34.
8. Ein „Temperamentsfehler“ wie Woyzecks „reizbare Gemüthsstimmung“35sei kein Grundjemanden wegen einer solchen Tat nicht zu verurteilen.
9. Woyzeck sei zu keiner Zeit unzurechnungsfähig gewesen, weil es dafür keine erkennbaren Anzeichen gegeben habe. Er habe immer noch die Möglichkeit gehabt, sich vernünftig gegen bestimmte innere Antriebe zu wehren.
„Erst da, wo diese Möglichkeit aufhört, ist die Grenze der Zurechnungsfähigkeit, welche die gerichtliche Medicin festhalten muß, wenn sie sich nicht in endlose Verwirrungen verlieren und zum Deckmantel aller undjeder Verbrechen herabgewürdigt werden soll. Um aber annehmen zu können, daß ein Mensch, bei Begehung eines Verbrechens, jenseits dieser Grenze gestanden habe, muß erwiesen werden, entweder, daß sich vor, bei oder nach der Tath in dem Erkenntniß- und Urtheilsvermögen, in den Reden und Handlungen desselben, Abweichungen vom gesunden Seelenzustande überhaupt offenbart haben, oder daß derselbe, ohne durch die gewöhnlichen, leidenschaftlichen Motive angereizt werden zu seyn, nach einem ungewöhnlichen, blinden und instinktartigen Antriebe gehandelt habe.“36
[...]
1 vgl. zur Kontroverse zwischen den Psychikem und den Somatikem Kitzbichler:118ff. und Neumeyer:107
2 vgl. Neumeyer 98ff. Hier wird auch die Chronologie der unterschiedlichen Fassungen genau erläutert, denn das Drama ist als Fragment in verschiedenen Handschriften überliefert. Eine feste Szenenfolge hat Büchner seinem Drama nicht mehr geben können.
3 Ich beziehe mich bei der Darstellung der Fakten im Zusammenhang mit dem historischen Fall auf die Aussagen in den beiden Clarus-Gutachten. In der Forschungsliteratur sind teilweise abweichende Daten zu finden. So nennt Neumeyer den 2. Juni 1821 als den Tag der Tat und den 27. August 1824 als Tag der Hinrichtung. Vgl. Neumeyer 2009:104f.
4 vgl. Vorwort zur Veröffentlichung des ersten Gutachtens in der Zeitschrift für die Staatsarzneikunde von Adolf Henke, dem Herausgeber derselben: Clarus-GA 1:539. Vgl. auch zu der Debatte um die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Woyzeck: Schmaus, Marion: Psychosomatik. Literarische, philosophische und medizinische Geschichten zur Entstehung eines Diskurses (1778-1936), Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2009, S. 189ff.
5 vgl. Clarus-GA 1:540
6 vgl. Clarus-GA 11:489
7 vgl. Neumeyer 2009:105
8 vgl. Clarus-GAII:489
9 vgl. Neumeyer 2009:105
10 vgl. Clarus-GA 11:494
11 vgl. Neumeyer 2009:105
12 Bei der Rekonstruktion der Lebensgeschichte Woyzecks beziehe ich mich auf beide Clarus-Gutachten, obwohl diese nicht injedem Punkt deckungsgleich sind. Ich versuche, die wichtigsten Fakten in eine logische Reihenfolge zu bringen.
13 vgl. Clarus-GA 1:541
14 vgl. Clarus-GA:495
15 Clarus berichtet hier nur, dass er nach der Schlacht bei Jena ins Mecklenburgische Grabow in holländische Kriegsdienste gelangte. Daraus kann man schließen, dass er bereits an der genannten Schlacht teilgenommen hatte, (vgl. Clarus-GA:495)
16 ebd.:495
17 ebd.:496
18 ebd.:496
19 ebd.:496
20 Der Name lautet im ersten Gutachten noch Knoblauch, im zweiten findet man Knobloch.
21 ebd.:500f.
22 vgl. ebd.:497
23 Clarus-GA 1:543
24 ebd.:502f. Alle in dieser Passage wiedergegebenen Aussagen zum Tatverlauf entnehme ich dieser Quelle und Clarus-GA I:544f. Bei den ersten Vernehmungen, behauptete Woxzeck noch, gar nicht auf der Burg gewesen zu sein, bei den späteren sagte er, er sei zwar dort gewesen, aber nur ein paar Male hin- und hergegangen, ohne wirklich auf sie zu warten.
25 ebd.:522
26 ebd.:490f.
27 vgl. ebd.:492 Clarus zitiert zu Beginn des zweiten Gutachtens die wichtigsten Ergebnisse des ersten.
28 ebd.:498f.
29 Woyzeck gab in den Verhören an, Stimmen, Schritte und andere Geräusche zu hören, deren Ursache er nie habe finden können (ebd.:498). Er habe sich verfolgt und bedroht gefühlt. Besonders seine Angst vor den Freimaurern fuhrt er immer wieder an (vgl. z.B. ebd.:496). Clarus bezeichnet dies als fixe Idee, die aber noch kein Zeichen für eine Geistesverwirrung oder -Zerrüttung sei. Außerdem hält er Woyzecks Beharren darauf für eine Strategie, sein Urteil zu mildem (s.u.).
30 ebd.:507
31 ebd.:518
32 ebd.:522
33 ebd.:523
34 vgl. z. B. ebd.:506 und 525
35 ebd.:524
36 ebd.:524
- Arbeit zitieren
- Anonym,, 2012, Der historische und der fiktive Woyzeck, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1282350
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