In der vorliegenden Arbeit werden narrative Strukturen und Merkmale von Märchen dargestellt. Es geht hierbei zum einen darum zu zeigen, was ein Märchen überhaupt zu einem Märchen macht, und zum anderen speziell um narrative Darstellungsprinzipien von Geschehen bzw. Geschehensmotivation in Märchen. In einem ersten Teil werden anhand der Märchenuntersuchungen von Max Lüthi Erzählweise und Aufbau, Figurenkonzeption und Geschehensfolge, daneben aber auch Stilelemente und die wechselseitigen Beziehungen dieser im Märchen ineinander übergreifenden Phänomene bearbeitet. Der zweite, ebenfalls theoretische Teil der Arbeit gilt den narratologischen Darstellungsprinzipien von Geschehensmotivation in Märchen, wozu neben Lüthi narratologische Untersuchungen von Clemens Lugowski und Matías Martínez hinzugezogen werden, um zu prüfen, ob und, wenn ja, inwieweit deren Theorien literarischer Motivation weiteren Aufschluß über die Geschehensmotivation in Märchen geben können. Diesen zwei referierenden und darstellenden Teilen wird ein dritter interpretierender Teil zur Seite gestellt, in dem unter Anwendung der theoretischen Ergebnisse das Kinder- und Hausmärchen "Dornröschen" der Brüder Grimm (KHM 50) analysiert wird.
Inhaltsverzeichnis
0. Einleitung
1. Max Lüthi: Gestalt, Form und Wesenszüge des Märchens
1.1 Einsträngigkeit der Handlung
1.2 Mehrgliedrigkeit der Handlung
1.3 Eindimensionalität
1.4 Flächenhaftigkeit
1.4.1 Flächenhaftigkeit der Figuren
1.4.2 Flächenhaftigkeit in Raum und Zeit
1.4.3 Flächenhaftigkeit der Dinge
1.4.4 Sprachliche Mittel
1.5 Isolation und Allverbundenheit
1.5.1 Isolation
1.5.2 Allverbundenheit
1.6 Abstrakter Stil
1.6.1 Zahlen
1.6.2 Wiederholung, formelhafte Anfänge und Schlußsätze
1.6.3 Extremes und Wunder
2. Geschehensmotivation in Märchen
2.1 Definition und Begriffsklärung
2.1.1 Geschehen und Geschichte
2.1.2 Motivation
2.2 Motivation und Nichtmotivation in Märchen
2.2.1 Max Lüthi: Geschehensmotivation in Märchen
2.2.2 Clemens Lugowski und Matías Martínez: Geschehensmotivation in narrativen Texten und deren Anwendung auf Märchen
3. Interpretation des KHM 50, "Dornröschen"
3.1 Einsträngigkeit und Mehrgliedrigkeit der Handlung im KHM 50
3.2 Eindimensionalität im KHM 50
3.3 Flächenhaftigkeit im KHM 50
3.3.1 Flächenhaftigkeit der Figuren im KHM 50
3.3.2 Flächenhaftigkeit in Raum und Zeit im KHM 50
3.3.3 Flächenhaftigkeit der Dinge im KHM 50
3.4 Isolation und Allverbundenheit im KHM 50
3.5 Abstrakter Stil im KHM 50
3.5.1 Zahlen im KHM 50
3.5.2 Extremes und Wunder im KHM 50
3.6 Geschehensmotivation im KHM 50
4. Abschluss
5. Literaturverzeichnis
5.1. Quellen
5.2. Sekundärliteratur
0. Einleitung
In der vorliegenden Arbeit werden narrative Strukturen und Merkmale von Märchen dargestellt. Es geht hierbei zum einen darum zu zeigen, was ein Märchen überhaupt zu einem Märchen macht, und zum anderen speziell um narrative Darstellungsprinzipien von Geschehen bzw. Geschehensmotivation in Märchen. In einem ersten Teil werden anhand der Märchenuntersuchungen von Max Lüthi[1] Erzählweise und Aufbau, Figurenkonzeption und Geschehensfolge, daneben aber auch Stilelemente und die wechselseitigen Beziehungen dieser im Märchen ineinander übergreifenden Phänomene bearbeitet. Der zweite, ebenfalls theoretische Teil der Arbeit gilt den narratologischen Darstellungsprinzipien von Geschehensmotivation in Märchen, wozu neben Lüthi narratologische Untersuchungen von Clemens Lugowski[2] und Matías Martínez[3] hinzugezogen werden, um zu prüfen, ob und, wenn ja, inwieweit deren Theorien literarischer Motivation weiteren Aufschluß über die Geschehensmotivation in Märchen geben können. Diesen zwei referierenden und darstellenden Teilen wird ein dritter interpretierender Teil zur Seite gestellt, in dem unter Anwendung der theoretischen Ergebnisse das Kinder- und Hausmärchen "Dornröschen" der Brüder Grimm (KHM 50[4]) analysiert wird.
Entstehungs- und gattungsgeschichtliche Fragestellungen zu Märchen und eine nähere Klassifizierung der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (KHM) sind für die vorliegende Arbeit nicht relevant. Um jedoch Unklarheiten oder Mißverständnisse in Bezug auf den Begriff und den Untersuchungsgegenstand Märchen, wie sie in dieser Arbeit verwendet und verstanden werden, zu vermeiden, sei hier folgendes vorausgeschickt:
a) zum Begriff: In der vorliegenden Arbeit geht es um Volksmärchen, die im Gegensatz zu Kunstmärchen, die von einer namentlich bekannten Person schriftlich abgefaßt sind, mündlich entstehen und mündlich überliefert werden; Zeit und Ursprung, Verfasserin oder Verfasser sind (meist) nicht bekannt.[5] Der Begriff "Märchen" wird in dieser Arbeit synonym mit dem Begriff "Volksmärchen" verwendet.
b) zum Untersuchungsgegenstand: Lüthi stützt seine Untersuchungen auf Volksmärchen aus im weitesten Sinn europäischem Raum.[6] Die KHM der Brüder Grimm spielen aufgrund der Vielzahl der untersuchten Märchen zum einen also nur eine untergeordnete Rolle und haben zum anderen dadurch, daß sie von den Brüdern Grimm schriftlich festgehalten werden, ihren eigentlichen Charakter der mündlichen Tradition eingebüßt. Außerdem greift vor allem Wilhelm Grimm gestalterisch in die Texte ein und verändert dadurch in einzelnen Zügen ihren ursprünglichen Märchencharakter.[7] Verschriftlichung, Ausarbeitungen und Umgestaltungen beeinträchtigen jedoch nicht den Grundcharakter der KHM als Märchen, so daß eine Anwendung der Ergebnisse von Lüthi auf die KHM gerechtfertigt ist.
1. Max Lüthi: Gestalt, Form und Wesenszüge des Märchens
Lüthi bestimmt das Phänomen Märchen direkt von dessen Gestalt und Form her. Seine Untersuchungen, die in hermeneutischer Herangehensweise an die verschiedensten europäischen Märchen einem Grundtypus von Märchen auf der Spur sind, liefern als Ergebnis einen Idealtypus des Märchens, der allerdings realiter nicht existiert: "[W]ir suchen das, was das Märchen zum Märchen macht. Der Typus kommt in der Wirklichkeit nie rein vor" (Lüthi 1981, S. 7). Der Idealtypus vereint unterschiedliche Struktur- und Stilmerkmale, sowie inhaltliche Elemente, die zum Teil sehr eng miteinander zusammenhängen, sich gegenseitig unterstreichen und ineinander übergehen. Ich werde zunächst die zwei Strukturmerkmale Einsträngigkeit und Mehrgliedrigkeit der Handlung[8] darstellen. Daran anschließend werde ich auf die von Lüthi herausgearbeiteten Stilelemente Eindimensionalität und Flächenhaftigkeit, Isolation und Allverbundenheit eingehen, die unter dem Begriff "abstrakter Stil" zusammengefaßt werden können.[9] Die nähere Erläuterung dieses wesentlichen Begriffes bildet den Abschluß dieses theoretischen Teils.
1.1 Einsträngigkeit der Handlung
Im Märchen besteht eine "klare Einsträngigkeit der Handlung" (Lüthi 1981, S. 34; Hervorhebung im Original). Es handelt sich um eine einfache Sukzession, die durch ein gradliniges, chronologisches Start-Ziel-Schema abgebildet werden kann.[10] Dieser lineare Handlungsablauf deckt sich mit einem linearen Erzählablauf, wobei die natürliche Abfolge des Geschehens mit der Reihenfolge des Erzählens übereinstimmt.
Als inhaltliches Grundschema der Märchenstruktur herrscht - hier lehnt sich Lüthi eng an Propp[11] - der Ablauf von Mangel zu Mangelbehebung, Unordnung zu Ordnung, Unglück und Rettung, Aufgabe und Lösung vor (vgl. Lüthi 1975, S. 69).[12] Lüthi definiert diesen Ablauf wie folgt:
"Rahmen und Klammer der Märchenstruktur, im ganzen wie auch im Einzelnen, ist die Polarität Minus/Plus. Der Normalfall ist das Voranschreiten vom Minus zum Plus. [...] Im Ablauf der Märchenhandlung klappt alles [...], in der Idealform" (Lüthi 1975, S. 67 und S. 70).
In der Darstellung der Handlungsabläufe wird zudem auf jede ausschmückende, detaillierte Beschreibung verzichtet. Dies alles läßt die Darstellung der Handlung isoliert erscheinen: "Sie gibt die Handlungslinie, den Handlungsraum läßt sie uns nicht erleben" (Lüthi 1981, S. 38).[13]
Da sich die Handlung nicht auf mehrere Handlungsstränge verteilt, sind keine Einschnitte nötig, gibt es keine Nebenhandlung. Ebensowenig gibt es Rückblenden: "Die nach rückwärts laufenden Fäden brauchen vom Märchen nicht beleuchtet zu werden" (Lüthi 1981, S. 44).
Von einer Eingangsformel wie z. B. Es war einmal an geht der Erzählstrang nach vorn:
"Das Märchen legt den Akzent auf das Ziel, nicht auf den Anfang, es interessiert sich für die Erlösung weit mehr als für die Verwünschung" (Lüthi 1975, S. 69).
Mit der Zielhaftigkeit hängt zusammen, daß es bei aller chronologischen Gradlinigkeit doch Vorverweise auf zukünftiges Geschehen gibt. Solche Vorverweise oder Vorausdeutungen auf späteres Geschehen, die z. B. in Gestalt von Traum, Ahnung, Weissagung auftreten, sind "wichtige Binde- und Gliederungsmittel und [...] Träger des nach vorn gerichteten Zielwillens" (Lüthi 1975, S. 70). Außerdem handelt es sich hierbei um "Ereignisse von unfehlbarer Bedeutung für das künftige Geschehen."[14]
Das gradlinige, "plane Erzählen von Anfang bis Ende"[15] wird begünstigt durch die Tatsache, daß der Text perspektivisch nur einer Heldin oder einem Helden folgt, so daß nur eine Figur im Mittelpunkt steht und die Erzählperspektive fast nie wechselt.
Das Figurenarsenal ist begrenzt auf die Anzahl der für die Handlung wichtigen Personen: "[E]s werden stets nur so viele Personen genannt, wie für die Handlung erforderlich sind."[16] Neben der Hauptfigur, der Heldin oder dem Helden, treten unter diesem Handlungsprimat Helfer/in, Gegner/in, Unheld/in, auftraggebende und zu erlösende Figuren auf, wobei diese neben ihrer eigenständigen Funktion als Handlungstragende auch als "Kontrastfiguren" auf die im Mittelpunkt stehende Hauptfigur bezogen sind (vgl. Lüthi 1981, S. 82). Vorherrschendes Merkmal aller Figuren ist also ihre Funktion als Handlungstragende und Handlungsbewegende.
1.2 Mehrgliedrigkeit der Handlung
"Notwendiges Korrelat der Einsträngigkeit ist die Mehrgliedrigkeit der
Märchenhandlung" (Lüthi 1981, S. 34; Hervorhebung im Original).
Die einsträngige Handlung kann in mehrere Teile, von Lüthi unter dem Begriff Episoden gefaßt, untergliedert werden. Die lineare, chronologische Erzählweise ergibt hierbei ein episodenhaftes "Nebeneinander und Nacheinander, statt [eines] Ineinander" von Handlungs-abläufen (Lüthi 1981, S. 29). Dadurch entstehen "scharf getrennte Stationen", die eine "vollkommene Übersicht" über das Geschehen bieten (Lüthi 1981, S. 29).[17] Die einzelnen - meist sind es drei - Stationen oder Episoden werden z. B. durch Schauplatz- oder Figurenwechsel voneinander abgegrenzt und stehen für sich isoliert, auf gleicher Ebene miteinander, aber nicht funktional aufeinander bezogen.
Die Übersicht wird unterstützt durch die Tatsache, daß die Handlung von einzelnen, handlungstragenden Figuren vorangebracht wird, die im Idealfall jede je eine eigene Handlungsbedeutung innehaben, so daß "verschiedene Verhaltensmöglichkeiten, scharf voneinander getrennt, nebeneinanderstehenden Figuren zugeteilt" sind (Lüthi 1981, S. 16).
Der Episodenstil wirkt sich auch auf die Darstellung der Figuren aus. Da jede Episode für sich steht, handelt jede Figur einer Episode autonom. So handeln die Figuren auch immer wieder aus der - isolierten - Situation heraus, ohne etwas aus der vorangegangenen gleichen oder ähnlichen Situation gelernt zu haben (vgl. Lüthi 1981, S. 38).
1.3 Eindimensionalität
Das Märchen kennt sowohl die diesseitige, profane Welt als auch die jenseitige, numinose Welt. Märchenfiguren, die zur jenseitigen Welt zu rechnen sind, sind z. B. Hexen, Feen, weise Frauen, Zwerge, Drachen und Tiere, die unvermittelt zu sprechen beginnen u.ä. (vgl. Lüthi 1981, S. 9). Dagegen gehören Märchenheldin oder Märchenheld, deren Geschwister und Eltern zumeist der diesseitigen Welt an (vgl. Lüthi 1981, S. 12).
Das Märchen kennt nicht nur beide Bereiche, es werden auch beide Bereiche, profane und numinose Welt, unterschieden und voneinander abgegrenzt, und auch die Figuren werden als einem der beiden Bereiche zugehörig dargestellt (vgl. Lüthi 1981, S. 12). "Die Jenseitigen leben nicht mit den Diesseitigen" (Lüthi 1981, S. 11). Dennoch haben die Figuren beider Bereiche wie selbstverständlich Kontakt zueinander. Dies zeigt sich z. B. in der natürlichen und furchtlosen Umgangsweise der diesseitigen Figuren mit den jenseitigen Figuren. Diesseitige und jenseitige Figuren nehmen die Trennung in die Bereiche, denen sie zugehören, nicht wahr. Heldin oder Held bewegen sich "ruhig und unerschüttert" in profanen und numinosen Bereichen, so daß das "Wunderbar-Irreale" als "Unbefremdlich-Reales"[18] erscheint (Lüthi 1981, S. 9). Sie werden auch nicht durch "Neugier oder Erkenntnisdurst" angetrieben, einen numinosen Bereich zu betreten, sondern durch Aufträge oder Wünsche anderer, wenn das zu erreichende Ziel (z. B. Erretten einer verloren geglaubten Prinzessin) dies erforderlich macht (vgl. Lüthi 1981, S. 10).
"Der Märchenheld handelt und hat weder Zeit noch Anlage, sich über Seltsames zu wundern" (Lüthi 1981, S. 10; Hervorhebung im Original).
"Der Märchenheld ist ein Wanderer, ein Täter. [...] Er denkt nicht daran, die Zusammenhänge aufzudecken, in denen seine zaubermächtigen Helfer stehen, er fragt nicht nach den Quellen ihrer Macht. Er erforscht weder sich selber noch die Welt" (Lüthi 1975, S. 159; Hervorhebung im Original).
Lüthi verwendet hierfür den Begriff der Eindimensionalität, weil durch das Verhalten der Figuren die strikte Trennung der beiden Bereiche, der beiden Dimensionen, aufgehoben wird: "Das Wunderbare ist dem Märchen nicht fragwürdiger als das Alltägliche" (Lüthi 1981, S. 11).
1.4 Flächenhaftigkeit
Nach Lüthi fehlt nicht nur das Empfinden der Dimension des Numinosen, sondern es fehlt überhaupt an "Tiefengliederung" (Lüthi 1981, S. 13):
"[Die] Gestalten sind Figuren ohne Körperlichkeit, ohne Innenwelt, ohne Umwelt; ihnen fehlt die Beziehung zur Vorwelt und zur Nachwelt, zur Zeit überhaupt" (Lüthi 1981, S. 13).
Dieses Phänomen erstreckt sich auf die gesamte Darstellungsweise:
"Das Märchen verzichtet auf räumliche, zeitliche, geistige und seelische Tiefengliederung. Es verzaubert das Ineinander und Nacheinander in ein Nebeneinander" (Lüthi 1981, S. 23).
Lüthi überträgt hierauf einen Begriff aus der bildenden Kunst, den der Flächenhaftigkeit.[19] Sie unterstreicht die Linearität und die Mehrgliedrigkeit der erzählerischen Struktur und ist im Märchen auf verschiedene Weise durchgeführt. Im folgenden werden die einzelnen Aspekte der Flächenhaftigkeit dargestellt.
1.4.1 Flächenhaftigkeit der Figuren
"[D]as Märchen zeigt uns flächenhafte Figuren, nicht Menschen mit lebendiger Innenwelt. [...] [Die Figuren werden] flächenhaft dargestellt, ohne konkrete, in den Umrissen verschwimmende Tiefe, Nuanciertheit und Verflochtenheit" (Lüthi 1981, S. 16 und S. 20).
Allen Figuren fehlt neben der körperlichen auch die seelische Tiefendimension, ein eigenes, eigentliches Gefühlsleben. Dies wird durch mehrere Merkmale deutlich:
Die Figuren verharren in einem unbedenklich-naiven Status, müssen nicht nachdenken, geraten nicht ins Grübeln oder Zweifeln und sind in sich widerspruchsfrei. In Bezug auf ihr Verhalten bedeutet dies, daß sie mit "mechanistischer Eindeutigkeit" agieren und reagieren (Lüthi 1981, S. 16).
Innere Gefühlsregungen der Figuren werden nicht dargestellt oder benannt. Wenn Gefühle und Eigenschaften der Figuren überhaupt Erwähnung finden, dann nur auf der Ebene der Handlung und auch dann nur unter der Voraussetzung, daß sie die Handlung voranbringen. Somit wird hier die Ebene der Tiefe auf die Ebene der Fläche übertragen:
"Eigenschaften und Gefühle sprechen sich in Handlungen aus - das heißt aber: sie werden auf dieselbe Fläche projiziert, wo sich auch alles andere abspielt. [...] Nicht [...] innere Regung, sondern die äußere Anregung treibt die Märchenfigur vorwärts. Gaben, Funde, Aufgaben, Ratschläge, Verbote, wunderbare Hilfen und Widerstände, Schwierigkeiten und Glücksfälle treiben und lenken sie [...]" (Lüthi 1981, S. 15 ff).
Auch körperlichen Schmerz scheint keine der Figuren zu kennen. Es gibt "kranke Prinzessinnen, aber [das Märchen] nennt die Art des Übels nicht" (Lüthi 1981, S. 14); es kommen zahlreiche Verstümmelungen vor, ohne daß Blut fließt oder Schmerzensschreie laut werden: "[N]ur wenn dies für die weitere Handlung wichtig ist, werden Tränen vergossen" (Lüthi 1981, S. 14). Hier gilt also wieder das Sichtbarmachen von inneren Vorgängen auf der äußeren Ebene einzig zum Zweck der Handlungsfortführung.
Auch vor dem geistigen Auge der das Märchen rezipierenden Person ändert sich durch derartige Verstümmelungen (wie z. B. das Abhacken einer Ferse) nichts Entscheidendes in dem imaginierten Bild der Figur:
"Es ist, wie wenn die Märchengestalten Papierfiguren wären, bei denen man beliebig irgend etwas wegschneiden kann, ohne daß eine wesentliche Änderung vor sich geht" (Lüthi 1981, S. 14).
Auch die Beziehungen der Figuren untereinander unterliegen dem Handlungsprimat und werden nur durch äußere Vorgänge sichtbar gemacht, so daß sich sowohl die Gefühlswelt der einzelnen Figuren, als auch die Beziehungen der Figuren untereinander in flächenhafter Weise auf der Ebene des äußeren Geschehens wiederfinden.
Jede mögliche Individualisierung der Figuren wird ausgeschlossen. Auch durch eventuell vorkommende Namens- oder Berufsbezeichnungen werden die Figuren nicht aus der figurativen Darstellung gelöst. Mit Bezeichnungen wie z. B. "Müller" oder "Dummling" wird keine konkrete Person gezeichnet, es wird lediglich auf "Eigenschaften, die meist mit jedem anderen Beruf ebenso leicht zu verbinden wären" oder mit anderen Spottnamen ebenso leicht deutlich gemacht werden können, verwiesen (Lüthi 1981, S. 68). Jeder Figur wird zudem nur eine Eigenschaft zugesprochen, so daß aus einer möglichen Vielzahl jeweils nur ein Eigenschaftskomplex hervortritt, aus dem heraus sich dann wiederum die Klarheit der Handlungsbedeutung einer Figur als Handlungsträger/in ergibt. Alle "Eigenschaften [der Figuren] sind allein auf die Geschehensfunktion hin verplant."[20]
Insgesamt erhalten die Figuren durch diese Vorgehensweise einen Doppelstatus:
"[Die] Figuren sind beides: Bilder und Statthalter von Werten und Unwerten oder Gegenwerten, von Haltungen, Daseinsformen und Träger der Handlung [...]. [Sie sind] im Extremfall reine Handlungsträger." (Lüthi 1975, S. 51 und S. 55; Hervorhebung im Original).[21]
[...]
[1] Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen, 7. Aufl., München 1981. Wird im fortlaufenden Text zitiert als: Lüthi 1981, Seitenzahl.
ders.: Das Volksmärchen als Dichtung. Ästhetik und Anthropologie, Düsseldorf/Köln 1975. Wird im fortlaufenden Text zitiert als: Lüthi 1975, Seitenzahl.
ders.: Es war einmal. Vom Wesen des Volksmärchens, 5. Aufl., Göttingen 1977. Wird im fortlaufenden Text zitiert als: Lüthi 1977, Seitenzahl.
[2] Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman, Frankfurt a. M. 1976. Wird im fortlaufenden Text zitiert als: Lugowski 1976, Seitenzahl.
[3] Matías Martínez: Doppelte Welten. Struktur und Sinn zweideutigen Erzählens, Göttingen/Zürich 1996. Wird im fortlaufenden Text zitiert als: Martínez 1996 a, Seitenzahl.
ders.: "Formaler Mythos. Skizze einer ästhetischen Theorie" und "Fortuna und Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustiangeschichte der Kaiserchronik", in: ders. (Hg.): Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhetischer Formen, Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, S. 6-24 und S. 83-100. Beide Aufsätze werden im fortlaufenden Text zitiert als: Martínez 1996 b, Seitenzahl.
[4] Heinz Rölleke (Hg.): Die älteste Märchensammlung der Brüder Grimm. Synopse der handschriftlichen Urfassung von 1810 und der Erstdrucke von 1812, Cologny-Genève 1975, S. 106-109. Wird im fortlaufenden Text zitiert als: KHM 50, Seitenzahl. Ein Abdruck beider Fassungen des Märchens ist dieser Arbeit im Anhang beigefügt.
[5] Vgl. Glossareintrag "Märchen" in: Heinz Ludwig Arnold/Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S. 676.
[6] Vgl. Lüthi 1981, S. 7.
[7] Vgl. Heinz Rölleke: Die Märchen der Brüder Grimm. Eine Einführung, München/Zürich 1985. Wird im folgenden zitiert als: Rölleke 1985, Seitenzahl.
[8] Ich übernehme hier den von Lüthi verwendeten Terminus der Handlung, obwohl dessen Verwendung streng genommen nur durch intentionale Akte der handelnden Figuren (die ja aber gerade im Märchen durch die fehlende Tiefendimension der Figuren nicht gegeben sind) gerechtfertigt ist. Vgl. hierzu Punkt 1.4.1, S. 6 f.
[9] Märchenmotive und damit das Stilelement der Sublimation sind innerhalb dieser Arbeit nicht relevant und werden daher von mir übergangen. Vgl. hierzu Lüthi 1981, S. 63-75.
[10] Klotz bezeichnet diesen Ablauf passend als "Hürdenlauf vom Start zum Ziel, wobei Anzahl, Höhe und Art der Hürden [...] verschieden sein mögen."; in: Volker Klotz: Das europäische Kunstmärchen. 25 Kapitel seiner Geschichte von der Renaissance bis zur Moderne, München 1987, S. 12. Wird im folgenden zitiert als: Klotz 1987, Seitenzahl.
[11] Vgl. Vladimir Propp: Morphologie des Märchens, hrsg. von Karl Eimermacher, Frankfurt a. M. 1975, S. 91.
[12] Zuweilen tritt auch ein dreiteiliges Grundschema auf: Idealzustand/Ordnung - Unordnung - Ordnung. Hierbei ist allerdings der Idealzustand im Märchen meist nur angedeutet: "Schon daß etwas als Mangel empfunden werden kann, setzt ja die Vorstellung eines mangellosen Zustandes voraus" (Lüthi 1975, S. 69).
[13] Zum Aspekt der isolierten Darstellung nicht nur der Handlung, sondern im folgenden auch der der Dinge und der Figuren vgl. Punkt 1.4, S. 6 f.
[14] Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, 5., unveränderte Aufl., Stuttgart 1972, S. 181. Wird im folgenden zitiert als: Lämmert 1972, Seitenzahl. Vgl. hierzu auch Punkt 3.6, S. 32.
[15] Lämmert 1972, S. 37.
[16] Therese Poser: Das Volksmärchen. Theorie, Analyse, Didaktik, München 1980, S. 15. Wird im folgenden zitiert als: Poser 1980, Seitenzahl.
[17] Klotz nennt diese Stationen "Situationsbilder", die sich durch ihre "elementare Ikonographie" ausweisen. Vgl. Klotz 1987, S. 20 f.
[18] Vgl. Helmut Brackert (Hg.): Und wenn sie nicht gestorben sind... Perspektiven auf das Märchen, Frankfurt a. M. 1980, S. 31.
[19] Im Gegensatz zu plastischen Gebilden, die durch ihre Räumlichkeit immer auch eine Tiefe aufweisen, erscheint die Fläche eines Bildes zunächst ohne Tiefe, "in sich selber isoliert". Auf dieser Fläche kann durch entsprechende künstlerische Gestaltung Räumlichkeit und Tiefe erzeugt werden. "Aber sie [eine die Fläche gestaltende Person] kann auch das Flächenhafte an sich wirken lassen und es durch geometrische Linienführung und krasse Farbgebung betonen. Das Märchen geht diesen letzten Weg" (Lüthi 1981, S. 25).
[20] Klotz 1987, S. 12.
[21] Eine nähere Unterscheidung trifft Lüthi, indem er die These aufstellt, daß die "häßlichen Figuren und Dinge des Märchens [...] zwar auch Handlungsträger [sind], aber weit weniger Handlungsbeweger als die schönen Gestalten, Bilder und Dinge [...]" (Lüthi 1975, S. 47). Vgl. Punkt 3.6, S. 33.
- Arbeit zitieren
- M.A. Sabine Lommatzsch (Autor:in), 1997, Narrative Strukturen in Märchen. Zu den Untersuchungen von Max Lüthi und der Darstellungsprinzipien von Geschehen in Märchen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/12754
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