Die Entwicklung des deutschen und norwegischen Vergangenheits-Tempussystems im Vergleich – in Hinblick auf das deutsche sog. “Doppelperfekt”


Hausarbeit, 2007

17 Seiten, Note: B

Christine Porath (Autor:in)


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung

2. Die historische Entwicklung des deutschen und norwegischen Vergangenheits-Tempussystems

3. Das gegenwärtige deutsche und norwegische Vergangenheits-Tempussystem

4. Ursachen für die Entwicklung des deutschen so genannten „Doppelperfekts” im Vergleich zum Norwegischen

5. Schlussfolgerung

6. Literaturverzeichnis

Abkürzungen:

1. Einleitung

Das Phänomen „Doppelperfekt“ (oder laut Litvinov (1998): „doppelte Perfektbildung“) ist ein vernachlässigtes Thema in der germanistischen Linguistik. Der Grund dafür ist in der Regel die Tatsache, dass diese doppelten Perfekt- und Plusquamperfektformen (DPF) von vielen Forschern als ungrammatisch und zur gesprochenen Sprache gehörend eingeschätzt werden.

Zudem führte die Tatsache, dass die DPF in der Mehrzahl der traditionellen Grammatiken nicht erwähnt werden, dazu, dass dieses Phänomen weitgehend ignoriert und kaum untersucht wurde. Es gibt nur wenige Arbeiten, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen und m. W. nur eine Studie, die sich näher mit der historischen Entwicklung der deutschen DPF beschäftigt.

Diese Arbeit ist der Versuch einer historischen Rekonstruktion dieser Entwicklung im Vergleich zum Norwegischen. Sowohl das Deutsche als auch das Norwegische gehören zur selben Sprachfamilie, d.h. dass sie sich aus der gleichen Sprache entwickelt haben – dem Germanischen. Diese Proto- oder Grundsprache verfügte über ein bestimmtes Tempussystem, das von den daraus entstandenen Sprachen übernommen bzw. geerbt wurde. Das Norwegische und Deutsche besaß also ursprünglich ein vergleichbares Tempussystem; dennoch haben sich im Norwegischen, im Gegensatz zum Deutschen, keine DPF entwickelt.

Das Ziel dieser vergleichenden Studie ist es also, den Grund für die unterschiedliche Entwicklung dieser beiden verwandten Sprachen zu finden.

Dazu wird zunächst auf die historische Entwicklung des deutschen und norwegischen Vergangenheits-Tempussystems bis zum gegenwärtigen Sprachstand eingegangen, um festzustellen, warum sich beide Sprachen auf diese Weise auseinander entwickelt haben. Anschließend wird darauf aufbauend gezeigt, worin die Gründe für die Entstehung der deutschen DPF in der Entwicklung des Tempussystems des Deutschen liegen bzw. ob die Thesen zur Genese der DPF, die von Porath (2007) aufgestellt wurden, zutreffend sind.

2. Die historische Entwicklung des deutschen und norwegischen Vergangenheits-Tempussystems

Das Tempussystem des Germanischen war verhältnismäßig einfach, da es nur zwei Zeitformen gab: Gegenwart und Präteritum[1] (v. Kienle 1969, 236). Letzteres wurde verwendet, um ein vergangenes Ereignis auszudrücken und Ersteres für alle weiteren temporalen Zusammenhänge. Dieses System hat das Deutsche (bzw. Althochdeutsche) und Norwegische (bzw. Altnorwegische) übernommen. Zusätzlich zu diesen beiden Zeitformen hatten beide Sprachen (und wahrscheinlich auch das Germanische) eine periphrastische Form, die mit einem attributiv bzw. prädikativ verwendetem Partizip II und dem Verb für haben oder sein gebildet wurde. Das moderne periphrastische Perfekt entwickelte sich aus dieser Form, die zunächst keine temporale sondern resultative Bedeutung hatte.

Da die Konstruktion mit dem Verb haben und sein eine andere Bedeutung hatte und auf unterschiedliche Verbklassen verteilt war, wird die Entwicklung für beide separat behandelt.

a) Die Resultativ-Konstruktion mit haben bzw. hafa (‚haben’) konnte zunächst nur mit dem Partizip II transitiver und perfektiver Verben[2] gebildet werden, weil dieses Partizip als Attribut des obligatorischen direkten Objektes des Satzes verwendet wurde und mit diesem kongruierte. Das Verb für haben drückte in dieser Konstruktion die possessive Beziehung zwischen dem Objekt und dem Subjekt aus[3]. Deshalb muss das Partizip hier als eine Art Adjektiv interpretiert werden, welches das Substantiv in Objektfunktion, das selbst von dem Subjekt besessen wird, näher bestimmt.

(1) a) ahd..: „ phigboum habeta sum giflanzotan in sinemo uuingarten” (Nübling 2006, 246)

Feigenbaum haben3SG.PRT.IND welcher PFMpflanzenSG.ACC in seinDAT Weingarten

‚Er hat einen Feigenbaum, der in seinem Weingarten gepflanzt ist.’

b) an.: „Ek hefi garðinn seldan” (Næs 1979, 277)

Ich haben1SG.PRS.IND HofSG.ACC-der verkauftACC

‘Ich habe den verkauften Hof’

Das Subjekt ist hier jedoch kein Agens in dem Sinne, dass das Besitzen des Objektes ein aktives Ereignis ist, sondern das Verhältnis zwischen beiden muss als passiv verstanden werden. Des Weiteren bezeichnete das Partizip II einen Zustand, der aus einer verbalen Handlung resultiert, sodass es einen gegenwärtigen Zustand des Objekts beschrieb, der aus einer vergangenen Handlung folgte.

“Das Partizip II bezeichnet hier ein abgeschlossenes Verbalereignis, aus dem als Resultat der Zustand des Objekts hervorgeht; im Mittelpunkt steht jedoch nicht dieses Ereignis bzw. diese Handlung sondern der gegenwärtige daraus resultierende Zustand.“ (Porath 2007, 20)

Während die ursprüngliche Bedeutung des Verbs für haben (‚besitzen’) allmählich verblasste und die Kongruenz zwischen Partizip und Objekt verschwand, führte dies zu einer Reanalyse der beschriebenen Konstruktion. Das Partizip II war nun nicht länger Teil der Nominalphrase, sondern konstituierte eine Verbalphrase mit dem Verb für haben (was Einfluss auf die Wortstellung haben konnte – wie das altnorwegische Beispiel (2 b) zeigt: Das Partizip steht nun näher beim Auxiliar):

(2) a) ahd.: „phigboum habeta sum giflanzot(an) in sinemo uuingarten” (Nübling 2006, 246)

‘Einen Feigenbaum hat er in seinem Weingarten gepflanzt’

b) an.: „Ek hefi selt garðinn” (Næs 1979, 277)

‘Ich habe den Hof verkauft’

Die Reanalyse führte dazu, dass nun das Objekt nicht mehr obligatorisch war und auch intransitive, imperfektive und reflexive Verben in dieser Konstruktion verwendet werden konnten. Dies brachte außerdem eine Veränderung der Bedeutung mit sich: Der resultative Zustand, der durch das Partizip ausgedrückt wurde, bezieht sich nicht mehr auf das Objekt, sondern auf das Subjekt. Das bedeutet, dass nun die Konstruktion mit haben bzw. hafa + Partizip II den Zustand des Subjekts beschreibt, welcher das Resultat eines vergangenen Ereignisses ist (das durch das Partizip benannt wird).

“[D]ie haben -Perfektkonstruktion [muss in dieser Zeit] als Ausdruck für den Zustand des Subjekts interpretiert [werden], daß es nicht bloß mit dem Objekt, das mit einem aus einem abgeschlossenen Verbalereignis hervorgegangenen Zustand behaftet ist, sondern mit dem Resultat des gesamten Verbalereignisses in einer benefaktiven Relation steht.“ (Kuroda 1999, 59)

Sowohl im Norwegischen als auch im Deutschen fand diese Reanalyse statt und ermöglichte die Reinterpretation dieser resultativen Konstruktion zu einem Vergangenheitstempus, mit der

der ursprüngliche Gegenwartsbezug „verschwand“ bzw. verblasste.

b) Eine vergleichbare Veränderung fand ebenfalls bei der Konstruktion mit dem Verb für sein statt. Im Gegensatz zu der Periphrase mit haben, konnte die Variante mit sein bzw. vera (‚sein’) zunächst ausschließlich mit intransitiven und mutativen Verben (d.h. Verben, die eine Veränderung von einem Zustand zu einem anderen ausdrücken) gebildet werden. Das Partizip II beschrieb den Zustand eines Subjekts und kongruierte mit diesem in diesem Fall (der Zustand muss als Resultat des verbalen Ereignisses oder der Veränderung verstanden werden). In diesem Sinne ist das Verb für sein so etwas wie eine Kopula, die das Prädikativ (d.h. das Partizip II) mit dem Subjekt verbindet.

[...]


[1] Dieses germanische zweigliedrige Tempussystem war eigentlich das Resultat einer bereits zuvor stattgefundenen Entwicklung. Das Indo-Germanische hatte zunächst kein Tempus- sondern ein Aspektsystem mit Präsens (oder Imperfekt), Perfekt (das heute Präteritum) und Futur (v. Kienle 1969, 235). Dieses Aspektsystem löste sich auf, weil die temporale Konnotation (abgeschlossen = vergangen) des Präteritums (Perfektiv) zu einer temporalen Reinterpretation dieser Form führte (Birkmann 1998, 63ff).

[2] Im Ahd. war es möglich, dass Verben, die keine intrinsische perfektive Bedeutung hatten (z.B. Verben der Bewegung), perfektiviert werden konnten, indem das Präfix gi- an das Verb angefügt wurde, sodass auch diese Verben in der Perfekt-Periphrase verwendet werden konnten. Dieses Präfix (ge-) ist in der Gegenwartssprache sowohl für das Partizip als auch für die Perfekt-Periphrase generalisiert (Nübling 2006, 246ff).

[3] Das Auxiliar haben bzw. hafa konnte in dieser Konstruktion sowohl im Präsens als auch im Präteritum verwendet werden, je nachdem ob der ausgedrückte Zustand gegenwärtig oder vergangen sein sollte (entsprechend den zwei gegenwärtigen Perfektformen in beiden Sprachen).

Ende der Leseprobe aus 17 Seiten

Details

Titel
Die Entwicklung des deutschen und norwegischen Vergangenheits-Tempussystems im Vergleich – in Hinblick auf das deutsche sog. “Doppelperfekt”
Hochschule
University of Tromsø  (Det humanistiske fakultet)
Veranstaltung
Diversity and Typology
Note
B
Autor
Jahr
2007
Seiten
17
Katalognummer
V127484
ISBN (eBook)
9783640354337
ISBN (eBook)
9783640408016
Dateigröße
548 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
vergleichende Sprachwissenschaft, Tempus, Deutsch, Norwegisch, Perfekt, Doppelperfekt, doppelte Perfektbildungen, kontrastive Linguistik
Arbeit zitieren
Christine Porath (Autor:in), 2007, Die Entwicklung des deutschen und norwegischen Vergangenheits-Tempussystems im Vergleich – in Hinblick auf das deutsche sog. “Doppelperfekt” , München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127484

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