Neuroökonomie in den Sozialwissenschaften

- Aufsatzsammlung -


Antología , 2009

55 Páginas


Extracto


INHALTSVERZEICHNIS

ABBILDUNGSVERZEICHNIS
VORWORT

KAPITEL A
HUMANKAPITAL UND NEUROÖKONOMIE:
EINE NOTWENDIGE ERWEITERUNG DER PERSPEKTIVE?
1. Einleitung
2. Die Humankapitaltheorie auf dem Prüfstand
2.1. Beispiel: Bildungsökonomie als intertemporale Entscheidung
2.2. Implizite Kritik an der Theorie des Humankapitals
2.3. Erweiterung des Forschungsansatzes
3. Neuroökonomie
3.1. Neuroökonomie der intertemporalen Substitution
3.2. Anwendung im bildungsökonomischen Kontext
3.3. Die Genetik als Determinante von Bildungskapazitäten
3.4. Rauchen: Eine pränatale Determinante der Kognition
4. Eine Synergie beider Wissenschaften
5. Zusammenfassung
6. Literatur- und Quellenverzeichnis

KAPITEL B
NEUROBIOLOGISCHE DETERMINANTEN DER VOLITION:
EINFLUSS AUF DIE BEHAVIORAL FINANCE FORSCHUNG
1. Einleitung
2. Die Behavioral Finance Forschung unter Einfluss der Volition
2.1. Die Annahmen der Behavioral Finance Forschung
2.2. Der Prozess der Willensbildung
2.3. Handlungskontrolle nach Kuhl
3. Studien zur mentalen Determination
3.1. Einführung in die Neurowissenschaften - Visualisierte Denkprozesse
3.2. Unterschiedliche Strategien - unterschiedliche Auffassungen
3.3. Über die Antizipierbarkeit des Anlageverhaltens
3.4. Neuroökonomie: Das Ende des freien Willens?
4. Resümee
5. Literatur- und Quellenverzeichnis

KAPITEL C
HOW TO TREAT TAX EVADERS:
A NEUROECONOMIC POINT OF VIEW
1. Introduction. Sovereign tax behavior?
2. Development of tax collecting methods and their effects
2.1. Taxpaying as a social dilemma
2.2. Empirical evidence for the relationship between sanctions and trust
2.3. The relevance of trust for taxpaying
3. Taxpaying: A neural determined matter?
3.1. What our brain thinks about taxes
3.2. Neuronal determination of financial risk taking
4. Summary
5. List of literature

ABBILDUNGSVERZEICHNIS

A1 Volkswirtschaftliche Wachstumsprozesse

A2 Biologische Determinanten der Humankapitalbildung

A3 Präferenzen für ADHD nach Geschlecht und Tabakaussetzung

B1 Zeitpunkte der Entscheidung

C1 Options and Output for Individual Money Decisions

VORWORT

Neuroökonomie – kaum ein Begriff ist in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen mit so vielen unterschiedlichen Assoziationen verbunden. Diese noch sehr junge Forschungs-richtung stellt den probabilistischen Wissenschaften ein deterministisches Instrument zur Verfügung, so dass bereits vorhandenes Wissen neu bewertet werden kann. Zum Beispiel ist der Ort rationalen Denkens im Gehirn lokalisierbar und es stellt sich die Frage, ob wir auch tatsächlich bei ökonomischen Entscheidungen rational denken? Selbst die individuelle Perzeption von Umweltreizen kann in Abhängigkeit von den physischen Strukturen in unserem Gehirn stehen. Es macht einen Unterschied, ob ein Proband nach seiner Wahrnehmung und Empfindung gefragt wird oder ob man diese tatsächlich ‘sehen‘ kann. An diesem Punkt setzt die Neuroökonomie an – sie ist ein Einblick in das menschliche Gehirn und dessen Funktionsweise. Unter Berücksichtigung verschiedener Kontexte lassen sich damit tatsächliche Abbilder von Verhaltens- und Entscheidungs-prozessen generieren, wodurch ein neuer Blickwinkel auf die Ergebnisse der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften entsteht.

In den Jahren 2005 bis 2009, als Student an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, habe ich mit meinen Arbeiten das ambivalente Verhältnis gegenüber den Neurowissenschaften erfahren. Für einige Wissenschaftler sind neuro-logische Forschung und die darauf basierenden Ableitungen ein vages Konstrukt, manche sehen gar den Wert ihrer wissenschaftlichen Methoden in Frage gestellt. In vielen Fällen haben diese neuen Erkenntnisse aber großen Anklang an den verschiedenen Instituten der Universität zu Köln erfahren; so zum Beispiel in den Bereichen Psychologie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre. Mit den folgenden Ausführungen soll es nicht darum gehen, zwischen der Qualität statistischer Auswertungen und medizinischer Messungen abzuwägen, sondern die Potentiale neuroökonomischer Erkenntnisse aufzuzeigen und wie weit sich diese auf die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften übertragen lassen. Dazu werden im Folgenden drei Abhandlungen präsentiert, welche die Brücke zwischen klassischer Sozial- und Gesellschaftsforschung und der Medizin schlagen sollen. Dabei geht es zunächst um die Humankapitaltheorie, ein soziologisches Grundelement vieler ökonomischer Modelle. Im Anschluss wird die Behavioral Finance Forschung um einen Blick in das menschliche Gehirn erweitert, um im letzten Abschnitt auf die biologische Reaktion auf Steuern und Steuerzahlungen einzugehen. Jeder Abschnitt, jedes Thema, hat seine eigenen Anforderungen an die Neuroökonomie und schließt daher mit einem eigenständigen Fazit.

Ein Fazit sei schon vorweg genommen: Die Neuroökonomie ist noch sehr jung und vielleicht teilweise unausgereift, weil das menschliche Gehirn, selbst wenn man seine Tätigkeit beobachten kann, noch immer viele Rätsel aufgibt. Aber eine junge Disziplin kann sich noch entwickeln und es sollte im Interesse der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler liegen, diese Entwicklung zu begleiten. Es gilt neues Wissen kritisch zu hinterfragen und alte Erkenntnisse in einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Vielleicht kommt man dadurch dem Realphänomen ‘Mensch‘ näher, als es die theoretischen und teilweise limitierten Grundmodelle der etablierten Wissenschaften leisten können.

Köln, im Mai 2009 cand. rer. soc. Dennis Klinkhammer

KAPITEL A HUMANKAPITAL UND NEUROÖKONOMIE: EINE NOTWENDIGE ERWEITERUNG DER PERSPEKTIVE?

1. Einleitung

Im Laufe eines Lebens erstrecken sich Bildungsentscheidungen über viele Dimensionen: Angefangen beim individuellen Maß der Aufmerksamkeit über die Wahl zwischen und unter dem Angebot von Ausbildung und Studium bis hin zu späteren Fortbildungen; dabei unterliegen diese Entscheidungen nicht nur dem gegebenen Kontext, sondern auch den persönlichen Präferenzen. Die Humankapitaltheorie versucht diesen individuellen Abwägungen mit mikrosoziologischem Ansatz dadurch gerecht zu werden, dass sie die „[...] Bildungsnachfrage als Investition im Hinblick auf künftige Erträge“ (Helberger et al. 1989: 206) betrachtet. Denn unter Humankapital versteht man erlernte und erlernbare Fertigkeiten in Hinblick auf ökonomische Verwertbarkeit im Alltag (vgl. Feldmann 2005: 254). Dadurch werden aber individuelle Bildungsentscheidungen nicht nur in einen möglichst rationalen Kontext gerückt, sondern auch als souverän dargestellt.

Dabei ist insbesondere die Annahme des rationalen Handelns – wie sie beim „homo oeconomicus„ angenommen wird – oft in die Kritik geraten. Dass die Annahmen des Egoismus und der Rationalität unzureichend für die Komplexität des Seins sind, ist Gegenstand aktueller Forschung (vgl. Ockenfels 2005). Der Mensch berücksichtigt eben nicht nur seine individuelle Kosten-Nutzen-Kalkulation, sondern unterliegt sozialen Begebenheiten und den damit verbundenen Erwartungen und nicht zuletzt seinen menschlichen Eigenarten – wie etwa Emotionen. Mit diesen neuen und komplexeren Annahmen ergeben sich unter Umständen auch weitere Interdependenzen: Jüngste Forschungen im Bereich der Neurobiologie zeigen, dass eine Entscheidung nicht immer ein bewusster Akt ist, sondern ebenfalls biologisch determiniert sein kann und dadurch messbar wird. Man könnte auch sagen, dass die Annahme des souveränen Willens dem des prädiktiven Willens gegenübersteht.

Im Bereich der Humankapitaltheorie ergibt sich dadurch eine wesentliche Frage: Inwieweit sind Bildungsentscheidungen noch das Produkt einer souveränen Abwägung? Mit der Beantwortung dieser Frage soll die Bedeutung der neurobiologischen Prozesse, welche im ökonomischen Kontext von der Neuroökonomie erforscht werden, für das Konzept der Humankapitaltheorie herausgestellt werden.

2. Die Humankapitaltheorie auf dem Prüfstand

Der Begriff Humankapital findet seinen Ursprung in der wirtschaftlichen Neoklassik – insbesondere der Wachstumstheorie. Diese untersucht die für das Wachstum einer Volkswirtschaft verantwortlichen Faktoren. In den frühen Konzeptionen dieser Theorie wurden dabei nur Faktoren in der Form von Sachkapital berücksichtigt (vgl. Solow 1956: 65). Darunter fallen die drei Faktorengruppen ‘Arbeit‘, ‘Boden‘ und ‘Kapital‘, welche in ihrem Zusammenwirken den Wert einer Ressource durch die Umwandlung zum Endprodukt steigern. Diese Form von Wertsteigerung versteht man als kurzfristiges Wachstum.

Allerdings ist dieses Modell nicht offen für innovative Fortschritte, wodurch es keinen Erklärungsansatz für langfristiges Wachstum gibt. Diese zweite Form von Wachstum erzielt man durch Verbesserungen im Fertigungsprozess oder Verbesserungen am Produkt selber (vgl. Blanchard et al. 2006: 308). Nur mit sinkenden Produktionskosten, beispielsweise durch technischen Fortschritt oder aber einem Zuwachs an Einnahmen durch verbesserte Produktlinien, kann ein Wachstum langfristig stattfinden. Andernfalls würde eine Wirtschaft zwangsläufig ihre Klimax erreichen und auf diesem Level stagnieren. Abbildung A1 ist eine vereinfachte Darstellung der oben erwähnten Entwicklungsmöglichkeiten in Form von langfristigem (B) und kurzfristigem (A) Wachstum im Zeitverlauf.

A1: Volkswirtschaftliche Wachstumsprozesse

Abbildung in dieser Leseprobe nicht enthalten

Quelle: Klinkhammer (2008)

In den Wirtschaftswissenschaften sollte daher der Faktor Mensch nicht nur als körperlich produktiver, sondern auch als geistig kreativer Faktor eine Mitberücksichtigung finden. Dessen Bedeutung beruht auf der Tatsache, dass viele Innovationen auf in die Wertschöpfungsprozesse involvierte und sich damit befassende Menschen zurückzuführen sind (vgl. Blanchard et al. 2006: 353). Mit anderen Worten: Wer den Arbeitsablauf kennt, vermag ihn zu verbessern und wer das Produkt kennt, der hat auch Einfluss auf die Gestaltung und mögliche Verbesserungen des Produktes. Dadurch bekommt der Begriff Humankapital eine komplexe Rolle in den Wirtschaftwissenschaften, denn mit neuem Wissen kann man Altes verändern, Neues erschaffen und Bewährtes durchführen.

Alleine der Fortschritt bei anfallenden Schreibarbeiten macht diese Entwicklung deutlich. So wurde beispielsweise die handschriftliche Ausführung unternehmerischer Tätigkeiten lange Zeit von der Schreibmaschine übernommen und wird zwischenzeitlich mittels Computern erledigt. Dies erforderte von vielen Beschäftigten eine Schulung für den Umgang mit Computern. Ein Mensch mit diesen erlernten Fertigkeiten sollte demnach einen höheren Faktorenwert auf dem Arbeitsmarkt haben. Denjenigen, „[...] die mit den richtigen Fähigkeiten ausgestattet sind, bringt technischer Fortschritt neue Chancen und höhere Löhne“ (Blanchard et al. 2006: 389). Daher wird im Nachfolgenden betrachtet, wie dieser Faktorenwert die individuellen Bildungsentscheidungen in Hinblick auf zu erzielende Beträge beeinflussen kann.

2.1. Beispiel: Bildungsökonomie als intertemporale Entscheidung

Die Entscheidung für oder gegen eine Bildungsmaßnahme ist eine persönliche Entscheidung. Darum empfiehlt sich auch für die soziologische Betrachtung ein detaillierterer Blick auf den individuellen Entscheidungsprozess. Daher wird im Folgenden ein fiktives Szenario mit einer bildungsrelevanten Entscheidung beschrieben, um den individuellen Prozess und die aus der Humankapitaltheorie resultierenden Perspektiven aufzuzeigen. Das Modell ist stark vereinfacht, verdeutlicht aber die entscheidenden Punkte:

Eine Person hat die allgemeine Hochschulreife erworben und steht vor folgender Entscheidung: Ausbildung oder Studium? Als Ausbildung sei jede Form der Fortbildung und Tätigkeit verstanden, die direkt mit einem Gehalt verknüpft ist.

Im Gegenzug sei das Studium eine zeitlich länger angesetzte Periode, ohne damit verbundenes Einkommendafür aber mit höheren Ertragsaussichten nach Beendigung des Studiums.

Analytisch betrachtet offenbart dieses Modell zwei Alternativen: Sofortige finanzielle Erträge auf der einen Seite und möglicherweise mehr finanzielle Erträge in der Zukunft auf der Anderen. Dadurch entsteht ein temporaler Horizont, der im individuellen Kalkül berücksichtigt werden sollte. Unter Ausschluss sozioökonomischer Faktoren ist die entscheidende Frage die nach der individuellen Beurteilung von Erträgen im Lauf der Zeit. Vereinfacht lässt sich auch fragen, wie sich die Bewertung monetärer Erträge in Abhängigkeit von dem Bezugszeitpunkt verändert? Jemand verzichtet beispielsweise in Zeitpunkt t, um einen besseren Ertrag in t+1 zu erlangen. Wenn man über Erträge entscheidet, welche sich mit der Zeit verändern, wie beispielsweise bei angelegtem Kapital mit einem festen Zinssatz, dann spricht man auch von intertemporalen Finanz-entscheidungen (vgl. Kalenscher et al. 2008: 285). Im Folgenden soll es zunächst darum gehen, wie Individuen bei diesen intertemporalen Entscheidungen verfahren und was dies für die Humankapitaltheorie bedeutet. Aber zunächst eine kurze Kritik an dem ursprünglichen Modell der Humankapitaltheorie.

2.2. Implizite Kritik an der Theorie des Humankapitals

Auf der einen Seite überzeugt die Humankapitaltheorie mit einem überschaubaren und nachvollziehbaren Modell von Investitionen in Bildung und den daraus resultierenden zukünftigen Renditen auf dem Arbeitsmarkt (vgl. Helberger et al. 1989: 206). Auf der anderen Seite limitieren genau diese simplen Annahmen aber auch die Anwendbarkeit für reale Kontexte. Eine bildungsrelevante Entscheidung ist eben mehr als eine vereinfachte Kosten- und Nutzenabwägung. Sie wird gemäß Bourdieu (1982: 32) von individuellen Präferenzen, sozialen Netzwerken, dem sozialhistorischen Kontext und darüber hinausgehenden Faktoren maßgeblich mitbestimmt. Ungeachtet der Relevanz sozialer Kontexte bietet die Humankapitaltheorie eine mikroökonomische Perspektive, denn sie fokussiert sich auf das Individuum und dessen Entscheidung. Selbst wenn die Annahmen der Humankapitaltheorie erfüllt sind, also wenn ein Individuum sich seiner Selbst, der Situation und den sich ergebenden Möglichkeiten bewusst ist, so kann man nicht antizipieren, dass die zu treffende Entscheidung unter verschiedenen Individuen mit ähnlichen Voraussetzungen analog verläuft. Es ist eben dieser individualorientierte Fokus der Humankapitaltheorie, der nahe legt, den Ablauf der Entscheidung eines Individuums weitestgehend zu erfassen. Diese mögliche Erweiterung und die dadurch erfolgende Vertiefung des Fokus auf ein Individuum sind Thema des nächsten Abschnitts.

2.3. Erweiterung des Forschungsansatzes

Die probabilistischen Wissenschaften, wie die Soziologie und die Psychologie, argumentieren mit abstrakten Modellen der Wirklichkeit und unterstellen dabei eine Reihe von Annahmen (vgl. Chorvat 2007: 577), welche das Verhalten von Bezugsgruppen erklären sollen. Erst später war es der Wissenschaft möglich, einen detaillierteren Einblick in die physikalischen Prozesse der Willensbildung zu nehmen (vgl. Camerer 2007). Damit wandelte sich der Fokus von aggregierten Annahmen über das Verhalten einer spezifischen Gruppe in gegebenem Kontext zu einem beobachtbaren und interpretierbaren Prozess Einzelner. Mit anderen Worten: Es sollte möglich sein, das mit den modelltheoretischen Annahmen der Sozialwissenschaften unterstellte Verhalten im Gehirn aufzuzeigen. Demnach kann die Neuroökonomie dazu führen, „[...] an entirely new set of constructs[..]” zu etablieren, welche dem „[..] economic decision making” (Camerer 2005: 10) unterliegen. Darüber hinaus können neurowissenschaftliche Methoden zur Manifestierung bestehender Erkenntnisse beitragen. In einem kleinen Selbstversuch, mit der Frage nach Menschen mit einem detaillierten Orientierungssinn und Stadtkenntnissen, kommt man sehr wahrscheinlich zu folgender Antwort: Taxifahrer! Tatsächlich lässt sich in der Medizin vermessungstechnisch bestätigen, dass Taxifahrer eine über-durchschnittliche Speicherkapazität räumlicher Informationen besitzen und das dafür zuständige Areal im Gehirn – hier der Hippocampus – besonders ausgeprägt ist (vgl. O‘Shea 2008: 129). Dieses Beispiel verdeutlicht die Relevanz neurowissenschaftlicher Forschung in Hinblick auf bestehende Annahmen über die soziale Realität.

In Bezug auf die Humankapitaltheorie ergibt sich somit die Frage, welcher Art die biologischen Einflüsse auf ökonomisch abzuwägende Bildungsentscheidungen sind oder ob man sogar von einer biologischen Determination sprechen kann? Vielleicht kann unter der Zugabe einer weiteren Forschungsperspektive die – mehr als kritisch bewertete – Humankapitaltheorie bekräftigt oder unter Umständen sogar widerlegt werden? Es ist bereits angemerkt worden, dass Bildungsentscheidungen als ökonomische Entscheidungen derart spezifisch sind, dass sich die zu erwartenden Renditen erst in einer ungewissen Zukunft ergeben können. Dies ist auch der Bereich, an dem eine Perspektivenerweiterung notwendig ist. Zum Beispiel ist in wirtschaftspsychologischen Experimenten mit monetären Mitteln der Ertrag bereits in das Experiment integriert und monetäre Zuwächse sind zeitlich und räumlich sowohl greif- als auch vorstellbar. Für die wissenschaftliche Interpretation bedeutet dies ein nahes Zusammenliegen von Situation, den darin enthaltenen Akteuren, deren Entscheidungen und Reaktionen auf das Resultat. Fallen Entscheidung und Ergebnisrealisierung aber zeitlich auseinander, dann handelt es sich um eine Form von „[. .] intertemporal decision-making [. .]“ (Kalenscher et al. 2008: 285), wodurch nicht nur die individuelle Entscheidung erschwert wird, sondern auch die Beobachtung und Interpretation dieser. Nicht nur um diesen Entscheidungen eine tiefere Dimension zu verleihen, sondern auch um ein Modell für den spezifischen Zeitpunkt der bildungsökonomischen Entscheidung zu entwerfen, beginnt der nächste Abschnitt mit einem Einstieg in die Neuroökonomie.

3. Neuroökonomie

Aufbau und Funktionsweise von Nervensystemen sowie die Leistungsfähigkeit von Gehirnen sind im Fokus der Neurowissenschaften. Die dabei verwendeten Untersuchungsmethoden bedienen sich der Magnetresonanz-Tomographie, welche „[. .] eine Untersuchung lebender Systeme und intakter Organismen eröffnen“ (Frahm 2007: 87). Mittels der funktionalen Magnetresonanz-Tomographie lassen sich an kognitiven Prozessen beteiligte Areale des Gehirns identifizieren (vgl. O‘Shea 2008: 40). Dies geschieht dadurch, dass die physikalische Aktivität – in Form von biochemischen Prozessen und elektrischer Strömungen – dieser Areale bildlich gemacht werden kann (vgl. O‘Shea 2008: 41). Mit dem bekannten Wissen um die Funktionen der Gehirnareale ist darüber hinaus eine Assoziation dieser mit Gefühlen und Einstellungen möglich. Beispielsweise manifestiert sich die emotionale Reaktion „Angst„ in einem ganz bestimmten Gehirnareal (vgl. O’Shea 2008: 81).

Allerdings muss mit diesen Erkenntnissen vorsichtig argumentiert werden, weil diese Wissenschaft noch sehr anfällig für Fehlinterpretationen sein kann. Der Mathematiker und Gehirnforscher Olivier (2005) stellte in Untersuchungen nämlich folgendes heraus: „Der psychologische und physiologische Zustand des Gehirns sind nicht gleichzeitig definierbar“ (724). Denn noch immer sind nicht alle Gehirnareale und ihre Funktionsweisen vollständig entschlüsselt und auch die realitätsfernen Versuchssituationen im medizinischen Labor stören die Beobachtung „natürlicher„ Entscheidungen im Gehirn (vgl. Olivier 2005: 723). Trotz dieser technologischen und interpretativ bedingten Limitationen ist die Neuroökonomie dabei, sich einen festen Stellenwert in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu verschaffen: „While one cannot say that we fully understand all of the relevant processes, neuroscience has advanced to the point where it can give significant insights into the nature of the processes” (Chorvat 2007: 578). Um daher zu verstehen, wie dieses Wissen um die physikalischen Aktivitäten im Sinne der Humankapitaltheorie möglichst sinnvoll adaptiert werden kann, befasst sich der nächste Abschnitt mit möglichen Reaktionen im Gehirn, welche als Folge von ökonomischen Entscheidungen mit zeitlichem Horizont auftreten können.

3.1. Neuroökonomie der intertemporalen Substitution

Kalenscher et al. (2008) haben mit ihrem Beitrag „The neuroeconomics of intertemporal decision-making„ die physischen Reaktionen auf den Unterschied zwischen zeitlich nahen und weiter entfernten Erträgen herausgestellt. Aus bisherigen sozialwissenschaftlichen Studien ist bekannt, dass „[. .] a given reward, delivered after a long delay, is less attractive than the same reward delivered after a short delay” (Kalenscher et al. 2008: 286). Wenn man bedenkt, dass sich der ökonomische Wert der Auszahlung durch die Zeit nicht verändert, dann werden die Komplexität der individuellen Beurteilung und die Bedeutung der zeitlichen Dimension deutlich. Diesen Sachverhalt kann man auch anders ausdrücken: Menschen neigen dazu, die Zukunft zu diskontieren (vgl. Kalenscher et al. 2008: 286). Möglicherweise trägt die Ungewissheit über zukünftige Ereignisse zu dieser Diskontierung bei. Zum Beispiel gibt es keine Garantie für den Erlebensfall oder für eine adäquate Auszahlung der zustehenden Erträge. „[. .] Delayed benefits may be lost during time [. .]“ und erscheinen „[. .] less likely to be realized” (Kalenscher et al. 2008: 286). Dies lässt sich auch auf die in Abschnitt 2.1 postulierte Bildungsentscheidung anwenden. Überspitzt formuliert bedeutet dies, dass man möglicherweise das Studienende und das erste Gehalt nicht mehr erlebt, oder aber dass man den Berufseinstieg verfehlt. Demnach können Bildungsentscheidungen unsichere Entscheidungen sein.

Im Bereich von bildungsökonomischen Entscheidungen lässt sich dieses Modell jedoch noch weiter modifizieren. An die Stelle von äquivalenten Erträgen im Lauf der Zeit kommen zunehmende Erträge mit zunehmender Zeitverzögerung. Für den Fall, dass in Zukunft höhere Erträge erzielt werden können, haben Studien folgendes Ergebnis gezeigt: „[...] Subjects preferred a small, short-delayed over a large, long-delayed reward“ (Kalenscher et al. 2008: 288). Dieses Ergebnis scheint zumindest im rein ökonomischen Sinne irrational zu sein, weil sich die Versuchspersonen bewusst gegen einen höheren Ertrag ausgesprochen haben.

An diesem Punkt setzt die Studie von Kalenscher et al. (2008) an, denn sie vermuten, dass „the challenge in neuroscientific research lies in discovering the neural correlates of the cognitive mechanisms underlying intertemporal choices” (293). Mit ihrer Studie wollen sie jene Mechanismen im Gehirn nachweisen, welche einen Einfluss auf die logische Entscheidungsfindung haben könnten. Dabei fokussieren sie sich einerseits auf die An-oder Abwesenheit bestimmter Neuronen im Gehirn, von denen in Anlehnung an andere Studien vermutet wird, dass sie in Erwartung von physischen Erträgen – wie Geld oder Nahrung – auftreten (vgl. Kalenscher et al. 2008: 293). Andererseits müssen für den zeitlichen Rahmen entsprechende Areale im Gehirn ausgemacht werden. „Human research indicates that several distributed brain regions play a role in processing interval timing [...]” (Kalenscher et al. 2008: 293). Daher konzentriert sich die Aufmerksamkeit während der Untersuchung auf diese Gehirnareale. Die Komplexität der Aktivitäten im menschlichen Gehirn deutet aber nicht nur auf eine singuläre Abfolge der oben genannten Ereignisse hin, sondern schließt auch ein kombiniertes und interaktives Auftreten nicht aus.

Obwohl sich Kalenscher et al. (2008) aus Kostengründen überwiegend auf die Gehirne und Reaktionen von Versuchstieren beziehen, scheint dennoch zu gelten, dass „[...] all species examined thus far discount temporally proximal events stronger than temporally distant ones“ (309). Dieses Ergebnis ist an der Anzahl aktiver Neurotransmitter erkennbar, denn diese initiieren überwiegend automatisierte Zustände im Gehirn. So ist zum Beispiel der Neurotransmitter Serotonin ausschlaggebend für Müdigkeit und die Fähigkeit zu schlafen, aber auch für Darmfunktionen und andere biochemische Regulationen im Körper. Es gibt beispielsweise Menschen mit einer nur unzureichenden Fähigkeit Serotonin auszuschütten und in Folge dessen können diese nicht durchschlafen. Auch andere Zustände wie „Freude„ oder „Erregung„ sind an der spezifischen Aktivität der Neurotransmitter erkennbar. Allerdings unterscheiden sich Menschen nicht nur an der Menge auszuschüttender Neurotransmitter, sondern auch in der Möglichkeit diese im Gehirn über die Synapsen aufzunehmen und wirken zu lassen (vgl. O‘Shea 2008: 46).

Die Bedeutung dieser Erkenntnisse haben Kuhnen et al. (2008) auch für menschliche Gehirne nachweisen können. Sie untersuchten 65 Probanden in einem Risikoertragsspiel. Dabei konnten die Probanden sich zwischen sicheren Erträgen oder höheren, aber dafür unsichereren Erträgen, entscheiden. Es stellte sich heraus, „[. .] that brain regions containing a high density of dopamine and serotonin neurotransmitters play an important role in financial decision-making” (Kuhnen et al. 2008: 2). Somit stellte diese Studie einen starken Zusammenhang zwischen der Anzahl und Aktivität von Neurotransmittern und der Entscheidung der Probanden heraus. Der Grad der Risikobereitschaft oder Risikoaversion hängt also von interindividuell unterschiedlichen Neurotransmitterleveln ab. Dadurch macht diese Untersuchung deutlich, dass es „specific genetic determinants of financial choices” (Kuhnen et al. 2008: 6) im menschlichen Organismus gibt. Eine solche genetische Determination führt nicht nur zu einer Beeinflussung individueller Kosten-Nutzen-Kalkulationen, sondern sie ermöglicht auch, dass Menschen suboptimale Erträge als Resultat ihrer Kosten-Nutzen-Kalkulation herbeiführen und damit zufriedener sein können, als mit dem bestmöglichen Ergebnis (vgl. Kalenscher et al. 2008: 309). Nicht zuletzt ist das eindeutig eine „[. .] violation with several axioms“ (Kalenscher et al. 2008: 309) der ökonomischen Rationalitätsannahmen und somit eine biologische Absage an den ‘homo oeconomicus‘.

3.2. Anwendung im bildungsökonomischen Kontext

Unter Berücksichtigung der Ergebnisse von Kalenscher et al. (2008) ergeben sich damit folgende Konsequenzen für die Humankapitaltheorie:

I. Eine geringfügigere Ausbildung mit sofortigem Ertrag kann attraktiver wirken, als eine hochwertigere Ausbildung mit höherem Ertrag.
II. Demnach scheint die Annahme der nutzenmaximierenden Individuen ungültig zu sein.

Final del extracto de 55 páginas

Detalles

Título
Neuroökonomie in den Sozialwissenschaften
Subtítulo
- Aufsatzsammlung -
Autor
Año
2009
Páginas
55
No. de catálogo
V127329
ISBN (Ebook)
9783640324781
ISBN (Libro)
9783640326563
Tamaño de fichero
626 KB
Idioma
Alemán
Notas
Wirtschaftssoziologie, Wirtschaftspsychologie, Neuroökonomie
Palabras clave
Neuroökonomie, Sozialwissenschaften, Aufsatzsammlung
Citar trabajo
Dennis Klinkhammer (Autor), 2009, Neuroökonomie in den Sozialwissenschaften, Múnich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/127329

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