„Keller ahnt die Zeit der raschen wirtschaftlichen Expansion voraus und erkennt in ihr drohende Gefahren. Zugleich glaubt er, daß gesundes Menschentum sich dagegen behaupten könne.“ In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob und inwiefern Hanna Wildbolz´ (1969) Aussage auf die Novelle zutrifft.
Demzufolge werden neben Charakterisierungen der Protagonisten sowohl deren individuelle Entwicklungen als auch ihre Beziehungen zu anderen Figuren der Erzählung im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die Analyse der zur Charakterentwicklung beitragenden Faktoren, nämlich die Bedeutung des Handlungsorts "Seldwyla" und die Verteilung der
Geschlechterrollen, erlauben uns die Erziehungsstrategie der Protagonistin zu verstehen, die letztendlich den Ausweg aus dem Schicksal der Seldwyler erlaubt.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Rekapitulation der Handlung
2. Figurenkonstellation- und charakterisierungen
2.1 Frau Regel Amrain
2.2 Herr Amrain
2.3 Fritz Amrain
3. Der Typus „Seldwyler“
4. Geschlechterrollen
5. Erziehungsthematik
6. Fazit
7. Weitere Forschungsfragen
8. Literaturverzeichnis
1. Einleitung und Rekapitulation der Handlung
„Keller ahnt die Zeit der raschen wirtschaftlichen Expansion voraus und erkennt in ihr drohende
Gefahren. Zugleich glaubt er, daß gesundes Menschentum sich dagegen behaupten könne.“1 In der vorliegenden Arbeit soll untersucht werden, ob und inwiefern Hanna Wildbolz´ (1969) Aussage auf die Novelle zutrifft.
Demzufolge werden neben Charakterisierungen der Protagonisten sowohl deren individuelle Entwicklungen als auch ihre Beziehungen zu anderen Figuren der Erzählung im Vordergrund der Betrachtung stehen. Die Analyse der zur Charakterentwicklung beitragenden Faktoren, nämlich die Bedeutung des Handlungsorts "Seldwyla" und die Verteilung der
Geschlechterrollen, erlauben uns die Erziehungsstrategie der Protagonistin zu verstehen, die letztendlich den Ausweg aus dem Schicksal der Seldwyler erlaubt.
Kellers Novelle aus dem ersten Band der zweibändigen NovellensammlungDie Leute von Seldwyla handelt von der Ehefrau des Seldwyler Steinbruch-Besitzers Herr Amrain, welcher aufgrund einer Insolvenz nach Amerika flieht und seine Ehepartnerin Frau Regel Amrain und ihre gemeinsamem drei Söhne in Seldwyla zurücklässt. Die dreifache Mutter übernimmt tapfer sowohl das Geschäft ihres Mannes als auch die alleinige Erziehung ihrer Söhne. Nachdem ihr Jüngster sie vor einer Belästigung rettet, beschließt sie, diesen eine besonders gute Erziehung genießen zu lassen. Ihr Wohnort Seldwyla und der negative Einfluss der Einwohner des Schweizer Örtchens bereiten ihr jedoch große Sorgen, da die Menschen dort völlig zuwider ihrer Tugendlehre, besonders bezüglich Politik, Militär und Ehe zu leben scheinen. Sie verbringt rund 17 mühselige Jahre mit der Erziehung ihres Jüngsten, der ihr das Leben nicht immer leicht macht. Herr Amrain kehrt nach Seldwyla zurück und trifft auf ein erfolgreiches Geschäft und einen anständigen und respektablen Sohn. Frau Amrain hat somit ihre Ziele erfolgreich erreicht und hinterlässt ihrem Nachkommen sowohl materielles als auch intellektuelles Erbe.
Die Verwandlung Fritz Amrains´, die durch seine Mutter Frau Regel Amrain in Form ihrer, für Seldwyler ungewöhnlichen Erziehung, eingeleitet und diszipliniert fortgeführt wurde, steht im Zentrum dieser Hausarbeit. Welche Gefahren Frau Amrain für das Heranwachsen ihres jüngsten Sohnes ermittelt und welche Maßnahmen sie gegen diese ergreift, werden in den folgenden Kapiteln untersucht
2. Figurenkonstellation – und charakterisierungen
Bereits vor der ersten Lektüre erfährt der Leser von wem die Novelle handelt. Der TitelFrau Regel Amrain und ihr Jüngster verweist auf die zwei Hauptpersonen und lässt das Interesse für deren Beziehung in den Vordergrund rücken. Schnell wird klar, dass es sich nicht um eine traditionelle Mutter-Kind-Beziehung handelt, woraus zu schließen ist, dass diese Figuren einer genaueren Untersuchung würdig sind. Herr und Frau Amrain sind einander gegenübergestellt, während ihr jüngster Sohn in der Mitte zu positionieren ist. Diese Konstellation gibt Keller auf physischer Ebene mit Hilfe der Figurenbeschreibung wieder, denn Fritz wächst zu einem
"wohlgeratene[n] Ebenbild" seines Vaters an, der mit seinen Eigenschaften und seiner
Lebenshaltung jedoch völlig seiner Mutter gleicht.2
2.1. Frau Regel Amrain
Die Erzählung beginnt mit einer knappen Beschreibung ihrer Namensgeberin Frau Regel Amrain. Sie ist „die Frau eines abwesenden Seldwylers“, die, nach der Flucht ihres Ehemannes, die Führung dessen Steinbruchs mit „Entschlossenheit, Rührigkeit und Besonnenheit“ übernimmt und diesen besser leitet als dies Herr Amrain selbst jemals gelang.3 Frau Amrain ist die einzige Figur innerhalb der Handlung, die keine gebürtige Seldwylerin ist, sondern
„auswärts in das Städtchen geheiratet [hat]“;4 und es ist dieses Merkmal, welches die Trennlinie zwischen Seldwyler Lebenshaltung und Frau Amrains´ darstellt.5 Ihr Wesen wird vor allem über ihren Charakter und ihre Moralvorstellung beschrieben, die sie nicht nur zu einer kompetenten und erfolgreichen Karrierefrau machen, sondern ihr auch den Titel eineridealen Mutter verleihen. Frau Amrain vereinigt demzufolge sowohl die männliche als auch die weibliche Domäne in sich, da sie für beide Sphären die notwendigen Fähigkeiten besitzt. „[M]it Mut, List und Kraft bei der Hand […, muss sie] sinnen und sorgen, um sich zu behaupten“.[[6]] Ihr Äußerliches visualisiert diese Vereinigung der traditionellen Geschlechterrollen. Ihre
„ernsthafte gerade, lange Nase“ und ihr „feste[r], dunkle[r] Blick“ ändern nichts an der
Tatsache, dass Frau Amrain eine „hübsche Frau“ ist.6 Das Attribut, das sie jedoch besonders interessant macht, ist ihre feste Einstellung gegenüber der Lebensführung in Seldwyla und wie sie mit all ihrer Kraft ihres und das Leben ihres Jüngsten entgegen diesem Standard leitet. Dem Leser fällt es nicht schwer, mit ihr zu sympathisieren, da der auktoriale Erzähler sich ebenfalls auf der Seite von Frau Amrain – und demnach auch gegen die Seldwyler – positioniert („Als er mit der trefflichen Frau den Berg hinunterging […].“7 ). Ihr negatives Bild der Seldwyler beeinflusst ihre Mütterlichkeit am meisten. Die volle Verantwortung und Erziehung der drei Jungen im Alter von zehn, acht und fünf Jahren, liegt nach der Flucht Herr Amrains alleinig in Frau Amrains Händen, was ihrer Zielsetzung durchaus zustattenkommt. Sie verkörpert das Vorbild für ihre Söhne, vor allem aber für Fritz, dem sie nach der unerfreulichen Nacht ihre gesamte Aufmerksamkeit zu schenken beschließt. Frau Regel Amrain arbeitet daher darauf hin, „daß das junge Bäumchen, so vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer Nähe wuchs und sich nach ihr richtete“.[[9]] Ihre Musterhaftigkeit spiegelt sich selbst in Ihrem Tod noch wider, denn „[s]ie selbst streckte sich […] im Tode noch stolz aus, und noch nie ward ein so langer Frauensarg in die Kirche getragen und der eine so edle Leiche barg zu Seldwyla“.8
Frau Amrain wird ausschließlich über ihre idealen Charaktereigenschaften beschrieben, die sie wie ein exemplarisches Musterbild erscheinen lassen. Ihre Kleidung wird bewusst nicht erwähnt, um so ihre moralische Kompetenz, die sie von den Seldwylern abgrenzt und vor allem abhebt, in den Vordergrund zu setzen.
2.2. Herr Amrain
Frau Regel Amrains Ehemann Herr Amrain hingegen verkörpert den typischen Seldwyler und steht aus diesem Grund kontrastiv seiner Nicht-Seldwylerischen Frau gegenüber. Der einleitende Satz der Novelle gibt bereits einen Hinweis auf Herr Amrains Persönlichkeit, da das
Wort „abwesend“ eine durchaus negative Konnotation hat und demnach eine negative Erwartungshaltung im Leser weckt. Herr Amrain dient folglich als eine Art „Negativvorbild“ für Fritz und zeigt an, was für ein Mann und Bürger er keineswegs werden sollte. Herr Amrain legt nämlich mehr Wert auf sein äußerliches Erscheinungsbild als auf das Arbeiten, verbringt seine Zeit größtenteils in Kneipen und zeigt kaum Interesse an politischem Engagement.9
[...]
1 Hanna Wildbolz: Mensch und Stand im Werke Gottfried Kellers. Bern 1969, S. 107.
2 Gottfried Keller: Die Leute von Seldwyla, hrsg. von Thomas Böning, Frankfurt a. M. 2006, S. 152f. Im Folgenden wird mit der Sigle GK zitiert.
3 GK, S. 145-147.
4 GK, S. 147.
5 Näheres dazu in Kapitel 3 6 GK, S. 147.
6 GK, S. 147-149.
7 GK, S. 186. 9 GK, S. 153.
8 GK, S. 194.
9 Vgl. GK, S. 145f.
- Quote paper
- Anonymous,, 2021, Das Entkommen aus dem Seldwyler. Dasein durch ideale Erziehung. Eine Analyse Gottfried Kellers Novelle "Frau Regel Amrain und ihr Jüngster", Munich, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/1271503
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